Sechstes Buch
Drittes Kapitel
Drittes Kapitel
Statt aller Antwort fingen die Mädchen ihren Verlust von neuem weinend herzuerzählen an. Melina war ganz außer Fassung, denn er hatte freilich am meisten eingebüßt. Er ging wie rasend in dem engen Raum hin und wider, stieß den Kopf wider die Wand, fluchte und schalt auf das unziemlichste, und da die Hebamme aus der Kammer trat und die Nachricht brachte, daß seine Frau mit einem toten Kinde niedergekommen, erlaubte er sich die heftigsten Ausbrüche, und einstimmig mit ihm heulte, schrie, brummte und lärmte alles durcheinander.
Wilhelm, der zugleich von mitleidiger Teilnehmung an ihrem Zustande und von Verdruß über ihre niedrige und kleine Sinnesart angegriffen war, fühlte sich bis in sein Innerstes bewegt und, ohnerachtet der Schwäche seines Körpers, die ganze Kraft seiner Seele lebendig.
"Fast", rief er aus, "muß ich euch verachten! so beklagenswert ihr auch sein mögt. Kein Unglück berechtigt uns, einen Unschuldigen mit Vorwürfen zu beladen. Habe ich teil an diesem falschen Schritte, so büße ich auch meinen Teil, ich liege verwundet hier, und wenn die Gesellschaft verloren hat, so ist kein geringer Teil des Verlustes auch der meinige. Was an Garderobe geraubt worden, was an Dekorationen zugrunde gegangen, waren Sie, Herr Melina, mir schuldig, und ich spreche Sie von dieser Forderung hiermit völlig frei!"
Melina bezeugte über diese Erklärung wenig Zufriedenheit, denn er erinnerte sich der schönen Kleider aus der Garderobe des Grafen, die ihm so wohl stunden, der neumodischen Schnallen, der Uhr, der Hüte, der Barschaft und noch manchen schönen Sachen, die verloren waren. Die andern, die mit Neid auf Philinens Koffer blickten, gaben unfein zu verstehen, daß er nicht übel getan habe, sich mit dieser Schönen zu assoziieren und durch ihr Glück auch seine Habseligkeiten zu retten.
"Glaubt ihr denn", rief er aus, "daß ich etwas eigen und für mich haben werde, so lange ihr darbt, und ist es wohl das erste Mal, daß ich in der Not mit euch redlich teile? Man öffne den Koffer, und was mein ist, will ich zum öffentlichen Bedürfnis niederlegen."
"Es ist mein Koffer!" sagte Philine, "und ich werde ihn nicht eher aufmachen, bis es mir beliebt. Ihre paar Fittiche, die Sie mir aufzuheben gegeben, können nicht weit reichen, und wenn sie an den redlichsten Juden verkauft werden. Denken Sie an sich und was Ihre Kur kosten, was Ihnen in einem fremden Lande begegnen kann."
"Sie werden mir, Philine", versetzte Wilhelm, "nichts vorenthalten, was mein ist, und ich weiß ohngefähr, wie weit es reicht; freilich ist es nicht viel, doch immer genug, uns aus der Verlegenheit zu retten. Allein in dem Menschen ist mehr als eine Barschaft, womit er seinen Freunden beistehen kann, und was noch irgend in mir ist, soll denen Unglücklichen gewidmet sein, die gewiß, wenn sie wieder zu sich selbst kommen, ihr gegenwärtiges Betragen bereuen werden. Ja", fuhr er fort, "ich fühle, daß ihr bedürfet, und was an mir ist, will ich euch geben, wenn ihr noch einiges Vertrauen auf mich habt, wenn ich es die Zeit her, da wir zusammen waren, um euch verdiente! Nehmt dieses Versprechen von mir zur Beruhigung für diesen Augenblick! Wer will es im Namen aller von mir empfangen?" Hier reckte er seine Hand aus und rief: "Ja, ich sage euch zu, daß ich nicht eher von euch weichen, euch nicht eher verlassen will, als bis ein jeder doppelt und dreifach so viel erworben, als er verloren, als bis ihr den Zustand, worin ihr, es sei durch wessen Schuld es wolle, euch gegenwärtig versetzt seht, völlig vergessen und mit einem glücklichern vertauscht." Er reckte seine Hand hin, und niemand wollte sie fassen. "Ich verspreche es noch einmal", rief er aus, indem er auf sein Küssen zurücksank. Alles war stille, sie waren beschämt, aber nicht getröstet, und Philine, auf ihrem Koffer sitzend, knackte Nüsse auf, die sie in ihrer Tasche gefunden hatte.
Eckermann: Gespräche mit Goethe
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