> Gedichte und Zitate für alle: Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 6. Buch 3.Kapitel

2019-10-14

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 6. Buch 3.Kapitel



Sechstes Buch
Drittes Kapitel

Wilhelm, ob er gleich durch den starken Verlust des Blutes bei heftigen Schmerzen schwach und nach der Erscheinung jenes hülfreichen Engels milde und sanft geworden war, konnte sich doch zuletzt des Verdrusses über die harten und ungerechten Reden nicht enthalten, welche bei seinem Stillschweigen von der unzufriedenen Gesellschaft immer erneuert wurden. Endlich fühlte er sich gestärkt genug, um sich aufzurichten und ihnen die Unart vorzustellen, mit der sie ihren Freund und Führer beunruhigten. Er hub sein verbundenes Haupt in die Höhe, und indem er sich mit einiger Mühe stützte, fing er folgendergestalt zu reden an: "Ich vergebe es dem Schmerze, den ein jeder über seinen Verlust empfindet, daß ihr mich in einem Augenblicke beleidigt, wo ihr mich beklagen müßtet, daß ihr mir widersteht und mich von euch stoßet, das erste Mal, da ich Hülfe von euch erwarten könnte. Es ist mir niemals eingefallen, für irgendeinen Dienst oder eine Gefälligkeit Dank von euch zu fordern; verleitet mich nicht, zwingt mein Gemüt nicht, zurückzugehen und zu überdenken, was ich für euch getan habe, es würde diese Berechnung mir nur peinlich werden. Der Zufall hat mich zu euch geführt, Umstände und eine heimliche Neigung haben mich bei euch gehalten, ich habe an euern Arbeiten, an euern Vergnügungen teilgenommen, ich habe euch gern mit meinen wenigen Kenntnissen in der schönen Kunst beigestanden, die ihr übt, in welcher ich euch vollkommen und durch welche ich euch glücklich wünschte. Gebt ihr mir jetzo auf eine bittere Weise den Unfall schuld, der uns betroffen hat, so erinnert ihr euch nicht, daß der erste Vorschlag, diesen Weg zu nehmen, von andern kam und nicht von mir allein, sondern von euch allen gebilligt worden. Wäre unsere Reise glücklich vollbracht, so würde sich ein jeder wegen des guten Einfalls loben, daß er diesen Weg angeraten, daß er ihn vorgezogen; er würde sich unserer Überlegungen und seines ausgeübten Stimmrechtes mit Freuden erinnern; jetzo macht ihr mich allein verantwortlich, ihr zwingt mir eine Schuld auf, die ich willig übernehmen wollte, wenn mich mein inneres Bewußtsein nicht freispräche, ja wenn ich mich nicht auf euch selbst berufen könnte. Habt ihr dagegen etwas zu sagen, so bringt es ordentlich vor, und ich werde mich zu verteidigen wissen; habt ihr nichts Gegründetes anzugeben, so schweigt und quält mich nicht jetzt, da ich ruhebedürftig bin."

Statt aller Antwort fingen die Mädchen ihren Verlust von neuem weinend herzuerzählen an. Melina war ganz außer Fassung, denn er hatte freilich am meisten eingebüßt. Er ging wie rasend in dem engen Raum hin und wider, stieß den Kopf wider die Wand, fluchte und schalt auf das unziemlichste, und da die Hebamme aus der Kammer trat und die Nachricht brachte, daß seine Frau mit einem toten Kinde niedergekommen, erlaubte er sich die heftigsten Ausbrüche, und einstimmig mit ihm heulte, schrie, brummte und lärmte alles durcheinander.

Wilhelm, der zugleich von mitleidiger Teilnehmung an ihrem Zustande und von Verdruß über ihre niedrige und kleine Sinnesart angegriffen war, fühlte sich bis in sein Innerstes bewegt und, ohnerachtet der Schwäche seines Körpers, die ganze Kraft seiner Seele lebendig.

"Fast", rief er aus, "muß ich euch verachten! so beklagenswert ihr auch sein mögt. Kein Unglück berechtigt uns, einen Unschuldigen mit Vorwürfen zu beladen. Habe ich teil an diesem falschen Schritte, so büße ich auch meinen Teil, ich liege verwundet hier, und wenn die Gesellschaft verloren hat, so ist kein geringer Teil des Verlustes auch der meinige. Was an Garderobe geraubt worden, was an Dekorationen zugrunde gegangen, waren Sie, Herr Melina, mir schuldig, und ich spreche Sie von dieser Forderung hiermit völlig frei!"

Melina bezeugte über diese Erklärung wenig Zufriedenheit, denn er erinnerte sich der schönen Kleider aus der Garderobe des Grafen, die ihm so wohl stunden, der neumodischen Schnallen, der Uhr, der Hüte, der Barschaft und noch manchen schönen Sachen, die verloren waren. Die andern, die mit Neid auf Philinens Koffer blickten, gaben unfein zu verstehen, daß er nicht übel getan habe, sich mit dieser Schönen zu assoziieren und durch ihr Glück auch seine Habseligkeiten zu retten.

"Glaubt ihr denn", rief er aus, "daß ich etwas eigen und für mich haben werde, so lange ihr darbt, und ist es wohl das erste Mal, daß ich in der Not mit euch redlich teile? Man öffne den Koffer, und was mein ist, will ich zum öffentlichen Bedürfnis niederlegen."

"Es ist mein Koffer!" sagte Philine, "und ich werde ihn nicht eher aufmachen, bis es mir beliebt. Ihre paar Fittiche, die Sie mir aufzuheben gegeben, können nicht weit reichen, und wenn sie an den redlichsten Juden verkauft werden. Denken Sie an sich und was Ihre Kur kosten, was Ihnen in einem fremden Lande begegnen kann."

"Sie werden mir, Philine", versetzte Wilhelm, "nichts vorenthalten, was mein ist, und ich weiß ohngefähr, wie weit es reicht; freilich ist es nicht viel, doch immer genug, uns aus der Verlegenheit zu retten. Allein in dem Menschen ist mehr als eine Barschaft, womit er seinen Freunden beistehen kann, und was noch irgend in mir ist, soll denen Unglücklichen gewidmet sein, die gewiß, wenn sie wieder zu sich selbst kommen, ihr gegenwärtiges Betragen bereuen werden. Ja", fuhr er fort, "ich fühle, daß ihr bedürfet, und was an mir ist, will ich euch geben, wenn ihr noch einiges Vertrauen auf mich habt, wenn ich es die Zeit her, da wir zusammen waren, um euch verdiente! Nehmt dieses Versprechen von mir zur Beruhigung für diesen Augenblick! Wer will es im Namen aller von mir empfangen?" Hier reckte er seine Hand aus und rief: "Ja, ich sage euch zu, daß ich nicht eher von euch weichen, euch nicht eher verlassen will, als bis ein jeder doppelt und dreifach so viel erworben, als er verloren, als bis ihr den Zustand, worin ihr, es sei durch wessen Schuld es wolle, euch gegenwärtig versetzt seht, völlig vergessen und mit einem glücklichern vertauscht." Er reckte seine Hand hin, und niemand wollte sie fassen. "Ich verspreche es noch einmal", rief er aus, indem er auf sein Küssen zurücksank. Alles war stille, sie waren beschämt, aber nicht getröstet, und Philine, auf ihrem Koffer sitzend, knackte Nüsse auf, die sie in ihrer Tasche gefunden hatte.
Eckermann: Gespräche mit Goethe


Dichtung und Wahrheit

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