> Gedichte und Zitate für alle: Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 4. Buch 12.Kapitel

2019-10-11

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 4. Buch 12.Kapitel




Viertes Buch
Zwölftes Kapitel

Wilhelm saß in einem Wagen mit Mignon, Frau Melina und ihrem Manne. Dieser, der das Fahren nicht wohl vertragen konnte, mußte bald aussteigen und sich das Pferd eines andern erbitten. Die kluge Philine merkte gleich diese Veränderung und erbat sich den ledigen Platz, der ihr auch nicht wohl versagt werden konnte, und sie war kaum eingenommen, als sie es auf Wilhelmen, den einzigen Mann in der Gesellschaft, nach gewohnter Weise anlegte und bald seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen wußte. Sie sang einige Lieder recht artig, und man sprach von allerlei Sujets, die dramatisch behandelt werden könnten. Diese Lieblingsmaterie brachte den jungen Dichter in seine beste Laune, und er komponierte ihnen aus dem Reichtum seines lebendigen Bildervorrates ein ganzes Schauspiel mit seinen Akten, Szenen, allen Einteilungen, Charakteren und Verwicklungen, ja die Dekoration ward nicht vergessen. Man fand für gut, einige Arien und Gesänge einzuflechten, man dichtete sie, und Philine, die in alles einging, paßte ihnen gleich bekannte Melodien an und sang sie aus dem Stegreife. Wilhelm, in der fröhlichsten und freudigsten Laune, fuhr bald ernst, bald scherzend fort und vergaß beinahe, indem er sich mit der leichtfertigen Kreatur abgab, seiner ernsteren Freundin und seines geliebten Kindes. Philine hatte eben heute ihren schönen, sehr schönen Tag, sie wußte mit allerlei Neckereien ihm nahezukommen, es ward ihm wohl, wie es ihm lange nicht gewesen.
Nach einer Reise von etlichen Tagen mußten sie endlich an einem kleinen Orte stilleliegen, weil die Gegenden nicht sicher waren und in der Nachbarschaft die Freichore herumschwärmten. Wider ihren Willen mußten sie in ein Wirtshaus zusammenkriechen, mehrere wohnten in einer Stube und behalfen sich, so gut sie konnten, nur Philine, die auf unsern Helden einen Anschlag gemacht hatte, nahm mit einem kleinen Kämmerchen auf dem obern Gange vorlieb, um allein und ungestört zu sein.
Wilhelm hatte sich auf Antrieb der Madame Melina in Besitz einer hübschen Stube gleich an der Treppe gesetzt. Seitdem ihn jene grausame Entdeckung aus den Armen Marianens riß, hatte er ein Gelübde getan, sich vor dieser zusammenschlagenden Falle zu hüten, das treulose Geschlecht zu meiden, seine Schmerzen, seine Neigung, seine süßen Wünsche in sich zu verschließen. Die Gewissenhaftigkeit, womit er sein Gelübde beobachtete, gab seinem ganzen Wesen eine innere geheime Nahrung, und wenn sein Herz nicht ohne Teilnehmung bleiben konnte, so ward eine liebevolle Mitteilung seinem ganzen Wesen ein schmerzliches Bedürfnis. Er ging wieder, wie von dem ersten Jugendnebel begleitet, umher, seine Augen faßten jeden reizenden Gegenstand mit Freuden auf, und nie war sein Urteil über eine liebenswürdige Gestalt schonender gewesen. Wie gefährlich ihm in einer solchen Lage das verwegene Mädchen ward, kann man leicht begreifen, und wir brauchen wohl nicht mehr zu sagen, um die Art von Neigung, die er für sie, ohne es selbst zu wissen, empfand, vor unsern Leserinnen einigermaßen zu entschuldigen, da ihn unsere Leser, wie wir überzeugt sind, schon lange absolviert haben.

Kaum waren sie angelangt und zu einiger Ruhe gekommen, als Madame Melina bei einem Spaziergange ihn sehr ernstlich über diese Empfindungen zur Rede setzte, die er bei sich selbst noch nicht bemerkt hatte. Er schwur hoch und teuer, und er konnte schwören, daß ihm nichts weniger eingefallen sei, als sich an dieses Mädchen, deren ganzen Wandel er wohl kenne, zu wenden, er entschuldigte sich, so gut er konnte, über sein freundliches und artiges Betragen gegen sie und befriedigte Madame Melina auf keine Weise.

Ihren Mann fanden sie auch bei der Rückkunft in der übelsten Laune. Er hatte sich an allen Orten und Enden erkundigt, ob es nicht möglich sein sollte, die Reise weiter fortzusetzen; jedermann hatte es ihm mit den besten Gründen widerraten. Die Armeen waren so gar weit nicht auseinander, man konnte in der Gegend, worauf sie zu wollten, eine Schlacht vermuten, es blieb ihnen nichts übrig, als zu bleiben, eine Notwendigkeit, die fast ebenso gefährlich war als die Gefahr selbst.

Die allgemeine Kasse, welche Herr Melina führte und welche eigentlich aus den Resten von Wilhelms zusammengestoppelter Barschaft bestand, woraus die Reisekosten und der Unterhalt eines Teiles der Gesellschaft bestritten werden sollte, ließ nach und nach den leeren Boden sehen. Andere, die noch etwas übrig und sich selbst zu verköstigen übernommen hatten, lebten leichtsinnig, empfanden bald Mangel und kamen dahin, wo sie noch etwas Geld vermuteten, borgten und wollten borgen. "Wir werden bald hausieren gehen müssen!" rief Melina aus. "Sein Sie nicht mißmutig", versetzte Wilhelm, "es wird sich in kurzem zeigen." – "Wenn wir nur allein wären und hätten uns die Last der vielen Menschen nicht aufgeladen!" sagte jener. "Mein letzter Groschen steht zu Diensten", versetzte Wilhelm, "ich will, solang wir beisammen sind, nichts Eigenes haben." – "Wir werden nur um ein paar Tage später hungern", sagte Melina, "und wer wird uns aus diesem Neste erlösen?" Der andere wußte nichts darauf zu antworten.

Bei Tische ließ Melina seinen üblen Homor auch gegen die übrigen aus, denn man aß zusammen, und er ward nur durch die Anfrage des Wirtes unterbrochen, der einen Harfenspieler anmeldete. "Sie werden", sagte er, "gewiß Vergnügen an seiner Musik und an seinen Gesängen finden, es kann sich niemand, der ihn hört, enthalten, ihn zu bewundern und ihm etwas weniges mitzuteilen." – "Lassen Sie ihn weg", versetzte Melina, "ich bin nichts weniger als gestimmt, einen Leiermann zu hören, und wir haben allenfalls Sänger unter uns, die gerne etwas verdienten." Er begleitete diese Worte mit einem tückischen Seitenblicke, den er auf Philinen warf. Sie, die ihn wohl verstand, ergrimmte heimlich, und um ihren Verdruß nicht merken zu lassen, wendete sie sich an Wilhelmen: "Sollen wir den Mann nicht hören." sagte sie, "die Langeweile wird uns zugrunde richten! Ich für meinen Teil gebe gerne etwas dazu." Melina wollte darauf antworten, und der Streit wäre lebhafter geworden, wenn nicht Wilhelm den im Augenblicke hereintretenden Mann begrüßt und ihn sich zu nähern geheißen hätte. Die Gestalt dieses seltsamen Gastes machte die ganze Gesellschaft erstaunen, und er hatte schon von einem Stuhle Besitz genommen, ehe jemand ihn zu fragen oder sonst etwas vorzubringen das Herz hatte. Ein kahler Scheitel, von wenig grauen Haaren umkränzt, große blaue Augen, die unter langen weißen Augbrauen hervorsahen, eine wohlgebildete Nase, an die sich ein weißer, mittelmäßiger Bart anschloß, mußte der Gesellschaft ein sonderbares Bild vorstellen. Ein langes, dunkelfarbiges Gewand bedeckte einen schlanken Körper vom Halse bis zu den Füßen. Er nahm die Harfe und fing zu präludieren an. Die angenehme Töne, die er aus dem Instrumente hervorlockte, die muntern, sanften Melodien, die von seinen Saiten tönten, setzten bald die Gesellschaft in die beste Laune. "Ihr pflegt auch zu singen, guter Alter!" sagte Philine. "Gebt uns etwas, das unseren Geist ergötze", sagte Wilhelm, "denn da ich nicht Kenner bin, so sind diese Melodien, Gänge und Läufe meinem Ohr nicht viel mehr, als bunte Papierschnitzel und scheckige Federn, die der Wind in der Luft herumtreibt, meinem Auge wären; da sich der Gesang hingegen wie ein Schmetterling oder wie ein schöner Vogel lebendig in die Luft hebt und Herz und Seele ihn zu begleiten anreizt."

Der Alte sah Wilhelmen an, alsdann gen Himmel, tat einige Griffe auf der Harfe und begann sein Lied. Es enthielt ein Lob auf den Gesang, pries das Glück der Sänger, warnte die Menschen, sie zu ehren. Er trug es mit vielem Leben und Wahrheit vor, daß es schien, als hätte er es in diesem Augenblicke und bei diesem Anlasse gedichtet, und Wilhelm enthielt sich kaum, ihm um den Hals zu fallen; nur Scheue vor der Gesellschaft zog ihn auf seinen Stuhl zurück. Er fürchtete ein lautes Gelächter, wenn er einen Fremden mit Entzücken umarmte, über den man noch streitig war, ob es ein Pfaffe oder ein Jude sei. Man fragte eifrig nach dem Verfasser des Liedes, worauf er keine bestimmte Antwort gab, nur versicherte, daß er deren sehr viele habe und wünsche, daß sie der Gesellschaft gefallen möchten. Man war fröhlich und freudig geworden, schwatzte untereinander, scherzte, und er fing an, das Lob des geselligen Lebens auf das geistreichste zu singen; er pries die Einigkeit und Gefälligkeit mit einschmeichelnden Tönen, trocken war sein Gesang, rauh und verworren, als er gehässige Verschlossenheit, kurzsinnige Feindschaft und gefährlichen Zwiespalt bedauerte, und gern warf jede Seele diese drückende Schalen ab, als er, auf den Fittichen einer vordringenden Melodie getragen, den Preis der Friedensstifter und das Glück der Seelen, die sich wiederfinden, sang.
Wilhelm fühlte sich wie neugeboren, Sein leidiges Verhältnis hatte ihm, ohne daß er es bemerkte, eine Feder nach der andern verleimt und ihn so bestrickt und zusammengezogen, daß er sich, ohne es recht zu wissen oder zu begreifen, gefangen fühlte; nun hatte der Geist eines Alten seine ganze Seele wieder angefacht, es war, als wenn ein Windsturm alle Wolken zerrissen hätte, und wie der erste Sonnenblick nach einer langen, trüben Zeit auf einmal eine ganze Gegend in die alten Rechte der schönen Tage wieder einsetzt, so war es auch in seinem Herzen, das sich wieder von einer unbedingten Freiheit beglückt fühlte; er sah nicht mehr, wo noch wer er war, alle Gegenstände veredelten sich vor ihm, und von seiner alten, glücklichen Torheit ergriffen, rief er aus: "Wer du auch seist, der du als ein hülfreicher Schutzgeist mit einer segnenden und belebenden Stimme zu uns kommst, nimm meine Verehrung und meinen Dank, fühle, daß wir alle dich bewundern, und vertraue uns, wenn du etwas bedarfst!"

Der Alte schwieg, ließ seine Finger über die Saiten schleichen, griff schärfer drein und sang:

"Was hör ich draußen vor dem Tor?
Was schallet auf der Brücken?
Es dringet bis zu meinem Ohr
Die Stimme voll Entzücken."
Der König sprach’s, der Page lief,
Der Knabe kam, der König rief:
"Laßt ihn herein, den Alten!"

"Gegrüßet seid ihr, hohe Herrn,
Gegrüßt ihr, schöne Damen!
Welch reicher Himmel, Stern bei Stern!
Wer kennet ihre Namen?
Im Saal voll Pracht und Herrlichkeit
Schließt, Augen, euch, hier ist nicht Zeit,
Sich staunend zu ergötzen."

Der Sänger drückt’ die Augen ein
Und schlug in vollen Tönen;
Die Ritter schauten mutig drein
Und in den Schoß die Schönen,
Der Fürst, dem es so wohl gefiel,
Ließ, ihn zu lohnen für das Spiel,
Ein’ goldne Kette holen.

"Die goldne Kette gib mir nicht,
Die Kette gib den Rittern,
Vor deren kühnem Angesicht
Der Feinde Lanzen splittern;
Gib sie dem Kanzler, den du hast,
Und laß ihn noch die goldne Last
Zu andern Lasten tragen.

Ich singe, wie der Vogel singt,
Der in den Zweigen wohnet,
Das Lied, das aus der Kehle dringt,
Ist Lohn, der reichlich lohnet;
Doch darf ich bitten, bitt ich eins,
Laß mir den besten Becher Weins
In purem Golde reichen!"

Er setzt’ ihn an, er trank ihn aus:
O Trank von süßer Labe!
Er rief: "O hochbeglücktes Haus,
Wo das ist kleine Gabe!
Ergeht’s euch wohl, so denkt an mich,
Und danket Gott so warm, als ich
Für diesen Trunk euch danke!"
Eckermann: Gespräche mit Goethe


Dichtung und Wahrheit

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