Viertes Buch
Zehntes Kapitel
Als man sich mit den Anstalten dazu beschäftigte, kam Mademoiselle Philine zu ihm aufs Zimmer, eine junge, muntere Aktrice, deren wir bisher entweder gar nicht oder im Vorübergehen erwähnt haben. Unser Freund mußte sich von Madame Melina oft Vorwürfe machen lassen, als wenn er dieser kleinen, leichtfertigen Figur artiger begegne und mehr Neigung zu ihr habe, als ihr Betragen verdiene; und gewiß war es, daß er sie mit Nachsicht und einer Art von Gefälligkeit betrachtete, ob er sie gleich weder schätzen noch lieben konnte. Sie hatte von früher Zeit an mit einem unglaublichen Leichtsinne dahingelebt und jeden Tag und jede Nacht, gleichsam als wenn es der erste und der letzte wäre, sorglos der Freude gewidmet. Sie gestand, daß sie nie eine Neigung zu irgendeinem Manne gefühlt, und pflegte im Scherze zu sagen, es sei so ein eintöniges Geschlecht, daß man einen von dem andern wenig unterscheiden könne. Sie warf nicht leicht ihre Augen auf einen, der sich nicht auch um ihre Gunst bemüht hätte, und es war nicht leicht einer, auf den sie nicht ihre Augen warf. Sie war das gutherzigste Geschöpf von der Welt, naschte gerne, putzte sich und konnte nicht leben, ohne spazierenzufahren oder sich sonst eine Veränderung zu machen. Ganz allerliebst war sie aber, wenn sie ein Glas Wein im Kopfe hatte. Wer ihr diese Freuden verschaffen konnte, war ihr angenehm, und wenn sie einmal, welches doch selten geschah, einiges Geld übrig hatte, so vertat sie es auch wohl mit einem irrenden Ritter, der ihr leidlich gefiel und dessen starke Seite der Beutel nicht war. In reichlichen Tagen schien ihr nichts gut genug, und bald darauf nahm sie wieder mit allem vorlieb. Sie pflegte sich einem freigebigen Geliebten zu Ehren mit Milch, Wein und wohlriechenden Wassern zu waschen, bald tat ihr der gemeine Brunnen gleiche Dienste. Gegen Arme war sie sehr freigebig und überhaupt von Herzen mitleidig, nur nicht gegen die Klagen eines Liebhabers, den sie einmal abgedankt hatte. Was sie von Kleidern, Bändern, Hauben, Hüten und dergleichen ablegte, warf sie gewöhnlich zum Fenster heraus. Ihr ganzes Wesen hatte etwas Kindisches und Unschuldiges, das ihr in den Augen eines jeden einen neuen Reiz gab. Alle Frauen waren ihr aufsässig, und zwar mit Recht. Auch ging sie mit keiner um und hatte selbst zu ihrer Bedienung bald einen alten Abenteurer, bald einen jungen Anfänger.
Der Leser wird sie genug aus diesen Zügen kennen, wir häufen deswegen nicht mehrere zusammen und kommen nur zu der Verwunderung, die unser Freund über diesen Besuch bezeigte, da sie selten und niemals alleine zu ihm zu kommen pflegte. Sie ließ ihn nicht lange in der Ungewißheit, vielmehr zeigte sich es, daß ihr die bevorstehende Reise verraten worden war. Sie bestund darauf mitzugehen und betrug sich so artig, so schmeichelnd, so eifrig, daß es ihr Wilhelm wenigstens in dem Augenblicke nicht abschlagen konnte.
Es setzte, da Wilhelm dieses, wiewohl mit einiger Schüchternheit, Madame Melina vortrug, einige Debatten; doch balde war das Projekt noch ruchtbarer geworden, und es drängten sich noch mehrere hinzu, jeder mit der Überzeugung, daß die Gesellschaft nur besser aufgenommen werden würde, wenn er sich dabei befände. Und da man es einigen zugestand und noch eine Kutsche zu nehmen sich entschloß, so war auch gar bald der dritte Wagen nötig; andere wollten den Weg zu Pferde machen, und zuletzt waren sogar die Böcke besetzt. Man behandelte Herrn Melina und seinen Freund als Anführer dieser Karawane, und die Gesellschaft machte sich auf den Weg.
Eckermann: Gespräche mit Goethe
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