> Gedichte und Zitate für alle: Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 1. Buch 12.Kapitel

2019-10-04

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 1. Buch 12.Kapitel






Erstes Buch
Zwölftes Kapitel

Der alte Meister setzte bei zunehmenden Jahren und immer gleichem Verdruß im Haushalt seine einzige Hoffnung auf Wilhelmen, dessen schöne Fähigkeiten ihm mitunter einen heitern Ausblick machten, nur wünschte er, daß der Knabe sie besser anwenden und sich zeitig und ganz dem Handelsgeschäfte widmen möchte. Auch hatte er in verschiedenen Stücken Ursache, mit seinem Sohne zufrieden zu sein. Französisch und Italienisch hatte er bald gelernt, im Lateinischen wußte er seinen Casum zu setzen, die Korrespondenz führte er mit vieler Leichtigkeit, außer daß hie und da, und besonders in den fremden Sprachen, ein theatralischer Ausdruck mit unterlief. Im Englischen gab er sich auch Mühe und im Laden war er unverbesserlich. Erstlich hatte er nie Langeweile, weil er an ruhigen Stunden gleich sein Buch oder seine Rolle unter dem Ladentisch hervorholte, zweitens weil er durch seine Leutseligkeit und gutes Betragen viele Leute herbeizog, zur rechten Zeit etwas zuzugeben wußte und über das unendliche Wählen der Frauenzimmer nie verdrießlich ward, ihnen vielmehr mit gutem Rate beistund und sie ehrlich abzuhalten suchte, wenn sie endlich für aller Wahl auf das Schlechteste zu fallen pflegten. Die Mädchen, die ihn auf dem Theater gesehen hatten, kamen meistenteils kurz drauf, um sich bei Tage zu überzeugen, wie er aussähe, und kamen meist miteinander darin überein, daß er zwar nicht so schön sei als bei Licht, geschminkt und in der Ferne, ihnen aber doch immer noch ganz wohl gefiel. Denn das ist gewiß, das Theater tingiert den Schauspieler mit einem gewissen Glanz, der auch sogar im gemeinen Leben nicht ganz von ihnen wegschwindet. Ihre Imagination suchte immer das schöne Bild, das ihnen vorschwebte, und wenn sie gleich anfangs unbefriedigt umkehrten, so kamen sie so lange wieder, wozu ihnen die Weitläufigkeit seines Handels erwünschte Gelegenheit gab, bis sie endlich alles zu finden glaubten oder wohl gar den frischen, wahren Burschen dem geschminkten, erlogenen Prinzen in der Ferne vorzogen.
Bei allen diesen guten Eigenschaften mangelte es ihm am wahren Geiste des Handelsmanns. Die Liebe zu Zahlen und besonders die Liehe zu Brüchen, in denen so viel zu stecken pflegt, ging ihm ab, Aufmerksamkeit auf kleine Vorteile, Gefühl von dem hohen Wert des Geldes. Mit großen Schmerzen bemerkte das der Alte oft, daß sein Sohn nie ein Rechner und vollkommner Wirt werden könne, ob er gleich ziemlich gut rechnen konnte und nichts verschwendete.

Wilhelms Geist war lang über diese niedre Bedürfnisse weg, besonders da ihm in seines Vaters Haus nichts abging, und er war viel zu lebhaft und aufrichtig, als daß nicht manchmal, selbst gegen seinen Vater, die Verachtung des Gewerbes durchgeblickt hätte. Er hielt es für eine drückende Seelenlast, für Pech, das die Flügel seines Geistes verleimte, für Stricke, die den hohen Schwung der Seele fesselten, zu dem er sich von Natur das Wachstum fühlte. Manchmal gab's über irgendeine solche Äußerung Streit zwischen Vater und Sohn, an dessen Ende der Alte meist erzürnt, der Junge bewegt und die Sache dadurch nichts besser ward, indem jede Partei nur ihrer Meinung gewisser zu werden schien und Wilhelm, der seinen Vater liebte, auch nicht gerne angefahren war, sich mehr in sich selbst verschloß. Sein Gefühl, das wärmer und stärker ward, seine Einbildung, die sich erhöhte, waren unverrückt gegen das Theater gewendet, und was Wunder? In eine Stadt gesperrt, ins bürgerliche Leben gefangen, im Häuslichen gedrückt, ohne Aussicht auf Natur, ohne Freiheit des Herzens. Wie die gemeinen Tage der Woche hinschlichen, mußte er mitunter hingehn, die alberne Langeweile der Sonn- und Festtage machte ihn nur unruhiger, und was er etwa auf einem Spaziergange von freier Welt sah, ging nie in ihn hinüber, er war zum Besuch in der herrlichen Natur, und sie behandelte ihn als Besuch. Und mit der Fülle von Liebe, von Freundschaft, von Ahndung großer Taten, wo sollte er damit hin? Mußte nicht die Bühne ein Heilort für ihn werden, da er wie in einer Nuß die Welt, wie in einem Spiegel seine Empfindungen und künftige Taten, die Gestalten seiner Freunde und Brüder, der Helden und die überblinkende Herrlichkeiten der Natur bei aller Witterung unter Dache bequem anstaunen konnte? Kurz, es wird niemand wundern, daß er wie so viele andere ans Theater gefesselt war, wenn man recht fühlt, wie alles unnatürliche Naturgefühl auf diesen Brennpunkt zusammengebannt ist.
Eckermann: Gespräche mit Goethe


Dichtung und Wahrheit

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