Dreiundzwanzigstes Kapitel
Der Tag wollte, da es schon gegen das Frühjahr ging, gar nicht endigen, als er, diesen Brief schön gefaltet in der Tasche, sich zu Marianen hinsehnte. Endlich erschlich er ihre Wohnung und konnte sich in ihren Armen nach einer so langen Abwesenheit kaum wieder fassen. Ihr Herz war wie in Stücken geschnitten, geteilt mit sich selbst in schwer blutenden Schmerzen von jeder seiner Umarmungen. Sein Plan war, er wollte sich auf die Nacht nur anmelden, ihr beim Weggehen den Brief in die Hand drücken und ihre Entzückungen, ihre ergreifende Freuden bei seiner Rückkehr in tiefer Nacht genießen, und eh er sich's versah, ward's ihm ganz matt in der erwünschten Nähe seiner Geliebten. Sie war krank und konnte nicht sagen wo; unbehaglich war sie nun sehr und konnte sich auch auf den Vorschlag, daß er heute nacht wiederkommen wollte, nicht einlassen. Er, der bei einem längern Umgang dergleichen weibliche Winke zu ehren gewohnt war, stund in Stille ab, es war ihm aber doch, als wenn auch sein Brief nicht in der Jahreszeit wäre, er behielt ihn bei sich, da verschiedene ihrer Bewegungen ihn auf eine leidliche Weise wegzugehen nötigten. In dem Taumel seiner ahndenden Liebe raffte er noch ein Halstuch von ihr, das er auf der Kommode liegend fand, zusammen, steckte es in die Tasche und verließ wider Willen ihre Lippen und ihre Türe. Er schlich nach Hause, konnte da nicht lange bleiben, kleidete sich um, suchte wieder die freie Luft. Er hörte in einer Straße von Klarinetten, Waldhörnern und Fagotts eine angenehme Nachtmusik, es schwoll ganz durchaus in ihm. Es waren durchreisende Spielleute, er hatte schon von ihnen sprechen gehört. Er machte sich an sie, und für ein Stück Geld schleppte er sie mit sich nach Marianens Wohnung. Es waren Bäume in der Nachbarschaft, die den Platz von alther zierten, darunter steckte er seine Sänger, er selbst ruhte weiter hin, überließ seinen Busen ganz den schwebenden Tönen, die in der labenden Nacht um ihn säuselten. Unter den holden Sternen hingestreckt, war ihm sein Dasein wie ein goldner Traum. "Sie hört auch diese Flöten", sagt' er zu seinem Herzen, "sie fühlt, wessen Andenken, wessen Liebe die Nacht wohlklingend macht. Auch in der Entfernung sind wir durch diese Melodien zusammengebunden, wie in jeder Entfernung durch die feinste Stimmung der Liebe. Ach, zwei liebende Herzen, sie sind als wie zwei Magnetuhren, was in dem einen sich bewegt, muß auch das andere mit bewegen, denn es ist nur eins, was beide bewegt, eine Kraft, die sie durchgeht. Kann in ihren Armen der Mensch eine Möglichkeit fühlen, sich von ihr zu trennen? Und doch, ich werde fern von ihr sein, werde einen Heilort für unsere Liebe suchen und werde sie immer mit mir haben. Wie oft ist mir's geschehen, daß ich abwesend von ihr, in Gedanken an sie verloren ein Buch, ein Kleid oder sonst was berührte und glaubte, ihre Hand zu fühlen, so ganz war ich mit ihrer Gegenwart umkleidet. Und jener Augenblicke mich zu erinnern, die das Licht des Tages wie das Auge des kalten Zuschauers fliehen, die zu genießen Götter den schmerzlosen Zustand gleich rein schwebender Seligkeit verlassen! – zu erinnern! – als wenn Erinnerung für den Rausch des Taumelkelchs wäre, der unsere Sinnen an himmlischen Stricken gebunden aus aller ihrer Fassung peitscht – und ihre Gestalt - - -" Er verlor sich in Erinnerungen, die Ruhe ging in Verlangen hinüber, er umfaßte einen Baum, kühlte seine heiße Wange an der Rinde, und die Winde der Nacht saugten begierig den Hauch auf, der aus dem reinen Busen bewegt hervordrang. Er suchte nach dem Halstuch, das er von ihr mitgenommen hatte, es war vergessen, es stak im vorigen Kleide. Seine Lippen lechzten, seine Glieder zitterten in Verlangen. Die Musik hörte auf, und es war ihm, als wär er aus dem Elemente gefallen, in dem seine Empfindungen bisher getragen wurden. Seine Unruhe vermehrte sich, da seine Gefühle nicht mehr an den sanften Tönen genährt und gelindert wurden. Er irrte herum und ward gegen Marianens Wohnung getragen. Er setzte sich auf der Schwelle nieder, er ward schon beruhigter, er küßte den messingenen Ring, womit man an ihre Türe pochte. Er saß wieder eine Weile stille. Wie er sie sich dachte hinter ihren Vorhängen, im weißen Nachtkleide mit dem roten Band um den Kopf in süßen Träumen! und dann dacht er sich so nahe zu ihr hin, daß ihm vorkam, sie müßte nun von ihm träumen. Seine Gedanken waren lieblich wie die Geister der Dämmerung, Ruhe und Verlangen wechselte in ihm, die Liebe lief mit schaudernder Hand tausendfältig über alle Saiten seiner Seele; es war, als wenn der Gesang der Sphären über ihm stille stünde, um die leisen Melodien seines Herzens zu belauschen.
Hätte er den Hauptschlüssel bei sich gehabt, der ihm sonst Marianens Türe öffnete, er würde sich nicht gehalten haben, würde ins Heiligtum der Liebe eingedrungen sein. Er schwankte halb träumend unter den Bäumen hin, er entfernte sich langsam; etlichemal wollte er seitwärts nach Hause und ward immer wieder umgewendet, endlich, als er's über sich vermochte und an der Ecke noch einmal zurücksah, kam's ihm vor, als wenn Marianens Türe sich öffnete und eine schwarze Gestalt sich herausbewegte; er war zu weit, um deutlich zu sehen, eh er sich faßte und hinsah, war schon wieder in der Nacht die Erscheinung verloren, nur ganz weit schien sie ihm an einem weißen Hause hinzustreifen, er stund und blinzte, und eh er sich ermannte und nachlief, war sie in den mannigfaltigen Gassen verloren. Wie einer, dem ein Blitz die Gegend in einem Winkel erhellt, der drauf vergebens mit geblendeten Augen die vorige Gestalten, den Zusammenhang der Pfade in der Finsternis sucht, so war's vor seinen Augen, so war's in seinem Herzen.
Und wie ein Gespenst der Mitternacht, das ungeheure Schröcken erzeugt, in folgenden Augenblicken der Fassung für ein Kind des Schröckens kann ausgedeutet werden und Zweifel in der Seele endlos sich auf- und abwickeln, so war's ihm, als er, an einen Eckstein gelehnt, des Morgens Lichtgrau und das Geschrei der Hahnen nicht achtete. Die frühe Gewerbe, die lebendig zu werden anfingen, trieben ihn endlich durch sein Schlupfloch nach Hause.
Er hatte sich, wie er ankam, dieses Blendwerk mit bündigsten Gründen ziemlich aus der Seele wegräsoniert, doch die schöne Stimmung der Nacht, an die er jetzt auch wie an eine Erscheinung zurückdachte, war auch dahin. Sein Herz zu letzen, ein Siegel seinem erholten Glauben aufzudrücken, zog er das Halstuch aus der vorigen Tasche; das Rauschen eines Zettels, der herausfiel, zog ihm das Tuch von den Lippen, er hob auf und las:
"So hab ich dich lieb, kleiner Narre, was war dir auch gestern? Heute nacht komm ich zu dir. Ich glaub wohl, daß dir's leid tut, von hier wegzugehen, aber hab Geduld, auf die ***Meß komm ich auch. Höre, tu mir nicht wieder die schwarz-grün-braune Jacke an, du siehst drin aus wie die Hexe von Endor; hab ich dir nicht das weiße Negligé drum geschickt, daß ich ein weiß Schäfchen in meinen Armen halten will? Schick mir deine Zettel immer durch das alte Luder; die hat der Teufel selbst zur Iris bestellt.
Eckermann: Gespräche mit Goethe
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