> Gedichte und Zitate für alle: Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 1. Buch 6.Kapitel

2019-10-03

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 1. Buch 6.Kapitel






Erstes Buch
Sechstes Kapitel

An einem Abend, als die Großmutter ihren Wilhelm zu sich berufen hatte und er in großer Stille bei ihr saß und aus Zeraten sich mancherlei Gestalten zusammenformte, stellte er endlich auch einen Goliath und David auf und ließ sie gegeneinander gar trefflich perorieren, da denn am Ende Goliath einen derben Stoß bekam, daß die wächsernen Füße von dem Tische sich lösten und er in seiner Länge dalag. Sein Kopf wurde sogleich vom Rumpfe gesondert, der kleinen Heuschrecke auf einer Stecknadel mit wächsernem Griff in die Hand gegeben, und so weiter ein Dankpsalm angestimmt. Die Alte saß ganz verzaubert, hörte ihrem Enkel mit Erstaunen zu, und wie er fertig war, ging's an ein Loben und Fragen, woher er diese Geschicklichkeit habe. Er hatte zwar eine ziemliche Gabe zu lügen, aber dabei ein reines Gefühl, wo er nicht zu lügen nötig habe. Er gestund seiner guten Großmutter, daß er im Besitz des Büchelchens sei, bat sie aber inständig, ihn dabei zu schützen und ihn nicht zu verraten, weil er's gewiß nicht verderben noch verlieren wollte. Die Alte versprach's ihm, und mit dem mündlichen Versprechen tat sie ihm und eigentlich sich selbst noch eins, daß sie den Vater dahin bewegen wolle, seinen Sohn vor irgendeiner Kinderversammlung in Gesellschaft des Artillerie-Lieutenants das große Drama selbst aufführen zu lassen. Sie verbot also Wilhelmen, weiter nichts von der Sache zu erwähnen, und machte sich wenige Tage drauf an die Unterhandlung und fand einige Schwierigkeiten. Die vorzüglichste davon war, daß ihr Sohn durch das anhaltende üble Betragen seiner Frau in die unangenehmste Gemütsverfassung versetzt war. Die ganze Sorge des Handels lag auf ihm, und sein Weib, anstatt das zu erkennen und wieder auf eine andre Weise förderlich zu sein, war sie die erste, ihn im Unglück aufzureiben, seine Handlungen zu mißdeuten, seine Fehler zu vergrößern und sein Gutes nicht zu erkennen; das gab bei seiner angebornen bürgerlichen Tätigkeit ein trauriges Mittelgefühl von vergebenem Streben und Arbeiten, wie es die Verdammten in der Hölle haben sollen. Und wenn er seine Kinder nicht gehabt hätte, auf die ein Blick ihm nicht manchmal wieder Mut und Überzeugung, daß er doch für etwas in der Welt arbeite, gegeben hätte, so wäre ihm nicht möglich gewesen, es auszuhalten. In solcher Stimmung verliert der Mensch ganz allen Sinn für die Kinderfreuden, die auch eigentlich zu erfinden und anzuwenden nicht des Vaters, sondern der Mutter Sache ist, und ist dann diese ein Unhold, so bleibt der armen Familie in ihren seligsten Jahren gar wenig Trost. Dieser Trost war ihnen hier die Großmutter. Sie wußte es denn doch so einzurichten, daß man ein paar Kammern, in denen nichts als Schränke stunden, im dritten Stock, dazu hergab, wo in der einen wieder die Zuschauer sitzen, in der andern die Schauspieler sein und die Aussicht des Theaters wie gewöhnlich die Öffnung der Türe ausfüllen sollte.

Der Alte hatte der Großmutter das alles zu veranstalten erlaubt; er selbst schien nur durch die Finger zu sehen, denn er hatte den Grundsatz, daß man den Kindern nicht müsse merken lassen, wie lieb man sie habe, sie griffen immer zu weit um sich, man müsse bei ihren Freuden ernst scheinen und sie ihnen manchmal verderben, damit sie nicht in das Übermaß fielen.
Eckermann: Gespräche mit Goethe


Dichtung und Wahrheit

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