> Gedichte und Zitate für alle: Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 2. Buch 6.Kapitel

2019-10-07

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 2. Buch 6.Kapitel



Zweites Buch
Sechstes Kapitel

Es kam eine Partie gewaffneter Leute durchs Feld her, die sie an ihren weiten und langen Röcken, an ihren großen Aufschlägen, unförmlichen Hüten und schweren Gewehren, an ihrem treuherzigen Gange und an dem bequemen Tragen ihres Körpers sogleich für ein Kommando Landmiliz benachbarter Herrschaft erkannten. Als dieser Trupp näher kam, sie grüßte, seine Flinte bei der großen Eiche abstellte und sich auf den Platz daneben bequem lagerte, um eine Pfeife Tobak zu rauchen, ließen sie sich mit einem Unteroffizier in ein Gespräch ein und vernahmen, daß er vom Amte geschickt sei, hier auf der Grenze ein paar junge Leute in Empfang zu nehmen, die miteinander durchgegangen und durch Steckbriefe in der nächsten Stadt angehalten worden. Die Eiche, welche bei Wilhelmen solche poetische Gefühle erregt, war eigentlich ein Grenzbaum. Hier wollten sie verweilen und die Ankunft des gefangenen Paares erwarten. Wilhelm ward auf diese Nachricht stutzig, noch mehr aber verwundert, als er hörte, der junge Mensch sei ein Komödiant und das Mädchen die Tochter eines hübschen Mannes aus dem benachbarten Städtchen. Aus der weitschweifigen Geschichte, die der Unteroffizier erzählte, war so viel zu nehmen, daß vor einem halben Jahre eine Truppe bei ihnen gewesen sei, die sich nicht lange erhalten können. Da sie endlich aufgebrochen, sei ein Akteur zurückgeblieben, der nicht weiter mitziehen wollen und der, weil er sich bequemt hätte, für ein geringes Geld junge Leute Französisch und tanzen zu lehren, einige Gönner und Aufmunterer gefunden habe. In dem Hause des Herrn N., wo er zur Miete gesessen, sei er mit dessen Tochter erster Ehe, auf welche seine zweite Frau nicht sonderlich achtgegeben, bekannt geworden, sei mit ihr viel spazierengegangen, habe sie im Garten deklamieren lehren, worüber auch die Leute zu reden angefangen; es habe darüber im Hause Händel gesetzt, eines Morgens früh seien beide vermißt worden, und da die Eltern in das Amt gelaufen, habe man die benachbarte Obrigkeit requiriert, wo sie denn auch in Verhaft gebracht, ihnen nunmehr übergeben werden sollten.
Unsere Freunde waren bei dieser Erzählung erstaunt, da ihnen die Ähnlichkeit der Schicksale in umgewechseltem Geschlechte auffiel, und ihre Neugierde wurde sehr erregt, das ungleiche Paar zu sehen. Es währte nicht lange, so kam der Aktuarius zu Pferde nach, unterhielt sich mit seinem Kommando und bekräftigte die Geschichte, auf Befragen der Gesellschaft, mit einigen noch näheren Umständen

Endlich sah man von ferne einen Wagen kommen, der von einer Bürgerwache mehr lächerlich als fürchterlich umgeben war. Ein unförmlicher Stadtschreiber ritt voraus, der mit dem gegenseitigen Aktuarius unter der Eiche am Grenzsteine sich mit großer Gewissenhaftigkeit und wunderlichen Gebärden komplimentierte, wie es etwa Geist und Zauberer, der eine inner-, der andere außerhalb des Kreises, bei gefährlichen nächtlichen Operationen tun mögen. Die Aufmerksamkeit der Zuschauer war indes auf den Wagen gerichtet. Die alte Kutsche, worin man die Schöne anfangs transportierte, war unterwegs gebrochen, und da man einen Bauerwagen zu Hülfe gerufen, erbat sie sich die Gesellschaft ihres Freundes, der, wegen des besondern Begriffs von Kriminalität des Falles mit Ketten beschweret, erst nebenherging. Sie saßen also beiderseits auf einigen Bündeln Stroh beieinander, blickten sich mit Zärtlichkeit an, und er bewegte, indem er ihre Hände küßte, mit vielem Anstande die klingenden Fesseln. "Wir sind sehr unglücklich", rief er der Gesellschaft zu, die sich dem Wagen genähert hatte, "aber wir sind nicht so schuldig, als wir scheinen. So belohnen grausame Menschen treue Liebe, und Eltern, die das Glück ihrer Kinder gänzlich vernachlässigen, reißen sie mit Ungestüm aus den Armen der Freude, die sich ihrer nach langen trüben Tagen bemächtigte."
Die Fragen, die von der Gesellschaft an sie geschahen, waren etwas prosaischer. Indes sie beantwortet wurden, hatten beide Gerichte ihre Zeremonien absolviert, der Wagen ging weiter, und Wilhelm, den das Schicksal der Verliebten sehr interessierte, verlangte von dem Ehepaar, daß es mit ihm ins benachbarte Amt, welches etwa eine halbe Stunde von da lag, gehen sollte. Sie entschuldigten sich mit dem nähern Abend, nahmen ihren Weg nach der Stadt zurück, er aber eilte seinen Liebenden nach, und da er eine alte Bekanntschaft mit dem Amtmann, noch ehe sie ankamen, zu erneuern gedachte, so ergriff er einen Fußpfad und erreichte noch zu rechter Zeit das Amthaus, wo er alles in Bewegung und zum Empfange der Flüchtlinge bereit fand.

Der Aktuarius, der bald nach ihm eintraf, erzählte mit großer Freude, wie alles glücklich gegangen und daß seine jungen Leute nicht weit von dem Orte entfernt seien. Mit mehr Zufriedenheit setzte er hinzu, er habe befohlen, daß der Wagen nicht zum Stadttore hereinfahren und daß man sie an dem Garten, welcher durch eine kleine Pforte mit dem Amthause zusammenhing, absetzen sollte, da sie denn ganz in der Stille hereingebracht werden könnten.

Wilhelm, ob ihm gleich die platte und gefühllose Art, womit der Mann die Sache behandelte, mißfiel, konnte doch nicht umhin, ihn zu loben, daß er soviel Vorsicht zur Schonung des unglücklichen Paars gebraucht habe. Jener nahm zwar das Kompliment selbstgefällig auf, freute sich aber eigentlich nur deswegen in seinem Herzen, weil er der auf den Straßen und vor dem Amthause versammelten Bürgerschaft einen Streich gespielt und sie um so ein erwünschtes Schauspiel bevorteilt hatte, als die öffentliche Demütigung eines Mädchens war, das sonst etwas mehr als andre auf sich zu halten pflegte. Hierauf erzählte er dem Amtmann, wie vortrefflich sein Pferd ginge, das er erst gestern von dem Juden getauscht, und ließ sich weitläufig über dessen gute Eigenschaften heraus, wodurch denn Wilhelm verhindert wurde, sich näher nach der Angelegenheit zu erkundigen, und sich heimlich sehr wunderte, daß man in Erwartung so wichtiger Begebenheiten, mitten unter den ernsthaftesten Dienstverrichtungen fremde, gleichgültige, und er hätte wohl Lust gehabt hinzuzusetzen, alberne Dinge mit Interesse einschieben könne

Ihre Ankunft wurde gemeldet. Der Amtmann, der von solchen außerordentlichen Fällen kein sonderlicher Liebhaber war, weil er meistenteils in deren Behandlung ein- und den andern Fehler machte und bei dem besten Willen gewöhnlich von der fürstlichen Regierung mit einem derben Verweise belohnt wurde, ging mit schwerem Schritte in die Amtstube, wohin ihm Wilhelm, der Aktuarius und einige andere angesehene Bürger folgten, die sich aus Neugier versammelt hatten.
Zuerst ward die Schöne vorgeführt, die ohne Frechheit sehr gelassen und mit Bewußtsein ihrer selbst hereintrat. Die Art, wie sie ihre Kleider zurechtgerückt hatte, die auf der Flucht und in ihrer Gefangenschaft eben nicht in den vorteilhaftesten Umständen sein konnten, zeigte Wilhelmen an, daß sie ein Mädchen sei, die etwas auf sich hielt. Sie fing auch, ohne gefragt zu sein, über ihren Zustand nicht unschicklich an.

Der Aktuarius gebot ihr zu schweigen und hielt seine Feder über dem gebrochnen Blatte. Der Amtmann setzte sich in Fassung, sah ihn an, räusperte sich und fragte das arme Kind, wie ihr Name heiße und wie alt sie sei?

"Ich bitte Sie, mein Herr", versetzte sie, "es muß mir gar wunderbar vorkommen, daß Sie mich um meinen Namen und mein Alter fragen, da Sie sehr gut wissen, wie ich heiße und daß ich so alt wie Ihr ältster Sohn bin. Was Sie von mir wissen wollen und was Sie wissen müssen, will ich gerne ohne Umschweife sagen.

Seit meines Vaters zweiter Heurat werde ich zu Hause nicht zum besten gehalten. Ich hätte einige hübsche Partien tun können, wenn sie nicht meine Stiefmutter aus Furcht vor der Ausstattung vereitelt hätte. Nun habe ich den jungen Melina kennenlernen, ich habe ihn lieben müssen, und da wir die Hindernisse voraussahen, die unserer Verbindung im Wege stunden, entschlossen wir uns, miteinander in der weiten Welt ein Glück zu suchen, das uns zu Hause nicht gewährt schien.
Ich habe nichts mitgenommen, als was mein eigen war, ja ich habe noch ein ansehnliches Mütterliches zu fordern; wir sind nicht als Diebe und Räuber entflohen, und mein Geliebter verdient nicht, daß er mit Ketten und Banden belegt herumgeschleppt werde. Der Fürst ist gerecht, er wird diese Härte nicht billigen. Wenn wir strafbar sind, so sind wir es nicht auf diese Weise."
Der alte Amtmann kam hierüber doppelt und dreifach in Verlegenheit. Die gnädigsten Ausputzer summten ihm schon um den Kopf, und die geläufige Rede des Mädchens hatte ihm den Entwurf des Protokolls gänzlich zerrüttet. Das Übel wurde noch größer, als sie bei wiederholten ordentlichen Fragen sich nicht weiter einlassen wollte, sondern sich auf das, was sie eben gesagt, standhaft berief.
"Ich bin keine Verbrecherin", sagte sie, "man hat mich auf Strohbündeln zur Schande hierhergeführt; es ist eine höhere Gerechtigkeit, die uns wieder zu Ehren bringen soll."

Der Aktuarius hatte indessen immer ihre Worte nachgeschrieben und flüsterte dem Amtmanne zu, er solle nur weitergehen, ein förmliches Protokoll würde sich nachher schon verfassen lassen.
Der Alte nahm wieder Mut und fing nun an, nach den süßen Geheimnissen der Liebe mit dürren Worten und in hergebrachten, trocknen Formeln sich zu erkundigen.

Wilhelmen stieg die Röte ins Gesicht, und die Wangen der artigen Verbrecherin belebten sich mit der reizenden Farbe der Schamhaftigkeit. Sie schwieg und stockte, bis die Verlegenheit zuletzt ihren Mut erhöhte.

"Sein Sie versichert", rief sie aus, "daß ich stark genug sein würde, die Wahrheit zu bekennen, wenn ich auch gegen mich selbst sprechen müßte; sollte ich nun zaudern und stocken, da sie mir Ehre macht? Ja, ich habe ihn von dem Augenblicke an, da ich seiner Neigung und seiner Treue gewiß war, als meinen Ehmann angesehen, ich habe ihm alles gerne gegönnt, was die Liebe fordert und was ein überzeugtes Herz nicht versagen kann. Machen Sie nun mit mir, was Sie wollen. Wenn ich einen Augenblick es zu gestehen zauderte, so war es die Furcht, daß mein Bekenntnis für ihn schlimme Folgen haben möchte."

Wilhelm faßte, als er das hörte, einen hohen Begriff von den Gesinnungen des Mädchens, indes sie die Gerichtspersonen für eine freche Dirne erkannten und die gegenwärtigen Bürger Gott dankten, daß dergleichen Vorfälle in ihrer Familie entweder nicht geschehen oder nicht bekannt geworden waren.

Wilhelm versetzte seine Mariane in diesem Augenblicke vor den Richtstuhl, legte ihr noch schönere Worte in den Mund, ließ ihre Aufrichtigkeit noch herzlicher und ihr Bekenntnis noch edler werden. Die heftigste Leidenschaft, beiden Liebenden zu helfen, bemächtigte sich seiner. Er verbarg sie nicht und bat den zaudernden Amtmann heimlich, er möchte doch der Sache ein Ende machen, es sei ja alles so klar als möglich und bedürfe weitere Umstände nicht.

Dieses half so viel, daß man das Mädchen abtreten, dafür aber den jungen Menschen, nachdem man ihm vor der Tür die Fesseln abgenommen hatte, hereinkommen hieß. Dieser schien über sein Schicksal mehr nachdenkend. Seine Antworten waren ordentlicher und gesetzter, und wenn er von einer Seite weniger heroische Freimütigkeit zeigte, so empfahl er sich Wilhelmen hingegen durch mehr Zärtlichkeit, die aus seinen Reden hervorblickte.

Da auch dieses Verhör geendigt war, welches mit dem vorigen in allem übereinstimmte, nur daß er, um das Mädchen zu schonen, was sie schon gestanden hatte, hartnäckig leugnete, ließ man endlich sie selbst vortreten, und es entstand zwischen beiden eine Szene, welche ihnen das Herz unsers Freundes ganz zu eigen machte.

Was nur in Romanen und Komödien vorzugehen pflegt, sah er hier in einer unangenehmen Gerichtsstube vor Augen: den Streit wechselseitiger Großmut, die Stärke der Liebe im Unglück.
"Ist es denn also wahr", sagte er bei sich selbst, "daß die schüchterne Zärtlichkeit, die vor dem Auge der Sonne und der Menschen sich furchtsam verbirgt und nur in abgesonderter Einsamkeit, im tiefen Geheimnisse zu genießen wagt, wenn sie durch einen feindseligen Zufall hervorgeschleppt wird, daß sie sich alsdann mutiger, stärker, tapferer zeigt als andere brausende und großtuigte Leidenschaften?" Er beneidete heimlich ihr Glück, und der Verlust Marianens wurde ganz in seiner Seele lebendig. Wenn er sie dadurch wieder hätte erhalten können, wie gern würde er sich mit ihr an den Platz der beiden Liebenden gestellt und sich der gefühllosen Justiz preisgegeben haben!

Durch seine Vermittlung schloß sich die ganze Handlung noch ziemlich balde. Er verschaffte, daß sie beide in leidliche Verwahrung genommen wurden, und wenn es möglich gewesen wäre, so hätte er die Geliebte zu ihren Eltern diesen Abend noch hinübergebracht. Denn er setzte sich fest vor, hier ein Mittelsmann zu werden und die glückliche und ständige Verbindung beider Liebenden zu befördern. Er schickte seinem Schwager einen Boten, daß er diese Nacht und den morgenden Tag außenbleiben würde. Darauf begab er sich mit des Amtmanns Erlaubnis dahin, wo man den jungen Menschen in einem kleinen Zimmer verwahrt hielt.
Eckermann: Gespräche mit Goethe


Dichtung und Wahrheit

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