> Gedichte und Zitate für alle: Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 6. Buch 11.Kapitel

2019-10-16

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 6. Buch 11.Kapitel



Sechstes Buch
Eilftes Kapitel

"Lassen Sie mich", sagte Aurelia, "auch eine Frage tun? Ich habe Opheliens Rolle wieder durchgesehen und bin zufrieden damit und getraue mir, sie unter gewissen Umständen zu spielen; nur sagen Sie mir, dürfte man die Wahnsinnige nicht andere Liedchen singen lassen, es könnten ja auch Fragmente aus Balladen sein, nur nicht solche Zweideutigkeiten und Zoten, wozu das?"

"Beste Freundin", versetzte Wilhelm, "ich kann nicht ein Jota nachgeben, auch darin liegt ein großer Ausdruck. Wir sehen, womit das gute Kind im Gemüte beschäftigt war. Heimlich klangen die Töne der Lüsternheit in ihrer Seele, und sie wollte wie eine unkluge Wärterin ihre Sinnlichkeit zur Ruhe singen mit Liedchen, die sie nur mehr wach erhalten mußten. Stille lebte sie vor sich hin, und kaum verbarg sie ihre Sehnsucht und ihre Wünsche. Jetzt, da ihr jede Gewalt über sich selbst entrissen ist, da ihr Herz auf der Zunge schwebt, wird diese Zunge ihre Verräterin, und in der Unschuld des Wahnsinns ergötzt sie sich vor König und Königin an dem Nachklange ihrer lieben losen Lieder der Einsamkeit: vom Mädchen, das gewonnen ward, vom Mädchen, das zum Knaben schleicht, und so weiter."

Er hatte noch nicht ausgeredet, als auf einmal eine wunderbare Szene vor seinen Augen entstand, die er sich auf keine Weise erklären konnte.

Serlo war einige Male auf der Stube auf und ab gegangen und hatte sich unmerklich an dem Nachttische Aureliens vorbeigeschlichen; auf einmal griff er schnell nach etwas, das darauf lag, und eilte mit seiner Beute der Türe zu. Aurelie, die es bemerkte, fuhr auf, warf sich ihm in den Weg, griff ihn mit unglaublicher Leidenschaft an und war geschickt genug, ein Ende des geraubten Gegenstandes zu fassen. Sie rangen und balgten sich ganz im Ernste, er lachte, sie ereiferte sich. Sie drehten und wanden sich miteinander herum, und als Wilhelm hinzueilte, sie zu besänftigen, sie auseinanderzubringen, sah er auf einmal Aurelien mit einem bloßen Dolche in der Hand auf die Seite springen und Serlo die Scheide, die ihm zurückgeblieben war, halb verdrießlich vor sich auf die Erde werfen. Wilhelm trat erstaunt zurück, und seine verwunderte Miene schien nach der Ursache zu fragen, warum ein so sonderbarer Streit über einen so wunderbaren Hausrat habe unter ihnen entstehen können.

"Sie sollen", sprach Serlo, "Schiedsrichter sein zwischen uns. Was hat sie mit dem scharfen Stahle zu tun? Lassen Sie sich ihn zeigen. Dieser Dolch geziemt keiner Schauspielerin. Spitz und scharf wie Messer und Nadeln, zu was die Posse? Heftig wie sie ist, tut sie sich einmal von ohngefähr ein Leid.

Ich habe einen innerlichen Haß gegen solche Sonderbarkeiten. Ein ernstlicher Gedanke dieser Art ist toll, und ein so gefährliches Spielwerk ist abgeschmackt." - "Ich hab ihn wieder!" rief Aurelie, indem sie die blanke Klinge in die Höhe hielt. "Ich will meinen treuen Freund nun besser verwahren. Verzeihe mir!" rief sie aus, indem sie den Stahl küßte, "daß ich dich so vernachlässigt!"

Serlo schien im Ernste böse zu werden. "Nimm es, wie du willst, Bruder", fuhr sie fort; "ich finde dich ungerecht; weißt du denn, ob nicht etwa unter dieser Form mir ein köstlicher Talisman beschert ist; was für Hülfe und Rat ich zur schlimmen Zeit bei ihm finde; muß denn eben alles schädlich sein, was gefährlich aussieht?"

"Dergleichen Reden, worin kein Verstand ist, können mich toll machen", sagte Serlo und verließ mit heimlichem Grimm das Zimmer. Aurelie verwahrte den Dolch in der Scheide, die sie von der Erde nahm, und steckte ihn zu sich. "Lassen Sie uns das Gespräch fortsetzen, wo es der unglückliche Bruder gestört hat", fiel sie ein, als Wilhelm einige Fragen über den sonderbaren Streit vorbrachte.

"Ich muß es wohl geschehen lassen, wenn Sie die gute Ophelie so schildern, denn es mag des Dichters Absicht gewesen sein; ich kann sie eher bedauren als mit ihr empfinden. Und erlauben Sie mir zu sagen, daß ich, als wir eben unterbrochen wurden, mit einer Betrachtung beschäftigt war, zu der Sie, mein Freund, mir schon in der kurzen Zeit Gelegenheit gegeben haben. Mit Verwunderung bemerkte ich an Ihnen den großen und richtigen Blick, mit dem Sie Dichtung und besonders dramatische Dichtung beurteilen. Die tiefsten Abgründe sind Ihnen nicht verborgen, und die feinsten Schattierungen sind Ihnen bemerkbar. Ohne die Gegenstände in der Natur gekannt zu haben, erkennen Sie solche im Bilde; es scheint eine Vorempfindung der ganzen Welt in Ihnen zu liegen, die durch die harmonische Berührung der Dichtkunst geregt und entwickelt wird. Denn wahrhaftig", fuhr sie fort, "von außen kommt nichts in Sie hinein! Ich habe nicht leicht jemanden gesehen, der die Menschen, mit denen er lebt, so von Grund aus verkennt wie Sie. Erlauben Sie mir es zu sagen: wenn man Sie Ihren Shakespeare erklären hört, glaubt man, Sie kämen eben aus dem Rate der Götter, die sich beredet, Menschen nach eigenem Bilde zu machen, und wenn Sie mit Leuten umgehn, sehe ich in Ihnen das erste, groß geborne Kind der Schöpfung, das mit sonderlicher Verwunderung und erbaulicher Gutmütigkeit Löwen und Affen, Schafe und Elefanten anstaunt und sie treuherzig als seinesgleichen anspricht, weil sie eben auch da sind und sich bewegen."

"Ich gestehe mein schülerhaftes Wesen und bitte um Vergebung", versetzte er. "Ich habe von Jugend auf mehr einwärts als auswärts gesehen, und da ist es sehr natürlich, daß ich den Menschen bis auf einen gewissen Grad habe kennenlernen, ohne mich auf die Menschen im geringsten zu verstehen."
"Gewiß", sagte Aurelie, "ich habe im Anfange geglaubt, Sie hielten sich über uns auf, wenn Sie von den Leuten, die Sie bei uns sahen, so manches Gute sprachen. Ihr vortrefflicher Tarconi ist nichts mehr und nichts weniger als ein Pedante und ein Marktschreier dazu. Die Freundschaft zwischen Philibert und Celio ist ein einfaches Possenspiel; dieser, ein mittelmäßiger Musikus, ein schlechter Mensch, macht jenen glauben, was er will, schmeichelt ihm und kommt seinen Lüsten und Begierden zuvor, nur damit der lebhafte, überall wohl aufgenommene, talentreiche junge Künstler ihn mit sich schleppe, und alle Vorteile mit ihm teile. Was ist Ihre ganze Gesellschaft, die Sie meinem Bruder empfohlen, für ein erbärmliches Volk! Daß Sie sich an Horatio betrogen, verzeihe ich Ihnen eher.

Diese prächtige Apollosfigur, dieser Anstand, dieses Betragen scheint etwas zu verkündigen, und man sollte nicht denken, daß das Ganze ein lebloser Klotz sein würde, wenn nicht glücklicherweise der Fiedelbogen erfunden wäre, um einige Töne aus ihm hervorzuziehen." Wilhelm stand beschämt vor ihr, niemand hatte ihn so mit sich selbst bekannt gemacht; er antwortete nichts, sondern dachte zurück und sann über sich selbst, es war, als wenn ihm ein Nebel von den Augen fiel.

"Sie dürfen nicht darüber betreten sein", rief Aurelie, "das ist eine schöne Eigenschaft eines jungen Dichters und Künstlers, denn beides sind Sie, wenn Sie auch sich nicht dafür ausgeben wollen. Diese Dunkelheit und Unschuld ist wie jene Hülle, die eine Knospe einschließt und nährt; Unglücks genug, wenn wir zu früh hinausgetrieben werden. Gewiß ist es gut, wenn wir die nicht immer kennen, für die wir arbeiten.

So war mir es auch, als ich mit dem höchsten Begriff von meiner Nation auf der Bühne erschien. Was waren die Deutschen nicht! was konnten sie nicht sein! Zu dieser Nation sprach ich, über die mich ein kleines Gerüste erhob, von welcher mich eine Reihe Lampen trennten, deren Glanz und Dampf mich hinderte, die Gegenstände vor mir genau zu unterscheiden. Wie willkommen war mir der Klang des Beifalls, der mir da herauftönte, und welch eine köstliche Masse war das Geschenk, welches von so vielen Händen mir einstimmig dargebracht wurde! Lange wiegte ich mich so hin. Wie ich würkte, würkte die Menge wieder auf mich zurück, ich und mein Publikum waren in dem besten Vernehmen, in der besten Harmonie miteinander; und im Gefolge meines Publikums erblickte ich jederzeit die Nation, alle Edle und Gute! Unglücklicherweise war es nicht die Schauspielerin allein, die einen großen Teil der Theaterfreunde interessierte, sie machten an das junge, lebhafte Mädchen mehr Ansprüche. Viele wünschten, daß ich die Empfindungen, die ich in ihnen rege gemacht, mit ihnen teilen möchte, und leider war das gar meine Sache nicht. Ich wünschte, ihre Gemüter zu erheben, an das, was sie ihr Herz nannten, hatte ich nicht den mindesten Anspruch, und nun war mir immer einer nach dem andern zur Last. Alle Stände, Alter und Charaktere, jeder machte Versuche nach seiner Art, und ich ließ jeden nach meiner Art ablaufen. Nichts war mir verdrüßlicher, als daß ich mich nicht wie ein andres ehrliches Mädchen in meinem Zimmer verschließen und so mir manche Mühe ersparen konnte. Die Männer zeigten sich nun alle auf der Seite, wie ich sie bei meiner Tante zu sehen gewohnt war; sie würden mir auch hier wieder abscheulich gewesen sein, wenn mich nicht ihre Eigenheiten und Albernheiten unterhalten hätten. Da ich nicht vermeiden konnte, sie auf dem Theater und auch im Hause zu sehen, nahm ich mir vor, alle auszulauren, und mein alter, werter Freund, der die Welt fürtrefflich kannte, half mir wacker dazu, und wenn Sie denken, daß von dem abgeschmackten Ladendiener und dem eingebildeten Kaufmannssohn bis zum gewandten, abwiegenden Weltmann, dem kühnen Soldaten und dem gerad eingreifenden Prinzen alle nach und nach bei mir vorbeigegangen, der eine seinen Roman von vorn, der andre ihn von hinten anzuknüpfen Anstalt machte, so werden Sie mir zugeben, daß ich allenfalls glauben durfte, mit meiner Nation ziemlich durchgekommen zu sein.

Den phantastisch aufgestutzten Studenten, den demütig verlegenen Gelehrten, den schwankfüßigen, genügsamen Domherrn, den steifen, aufmerksamen Geschäftsmann, den unwissenden Baron, den freundlich glatt-platten Hofmann, den jungen, aus der Bahn schreitenden Geistlichen, den gelaßnen Reichen sowie den schnell spekulierenden, beweglichen Kaufmann, alle hab ich das Vergnügen gehabt manövrieren zu sehen, und beim Himmel, nur wenige fanden sich darunter, die mir ein gemeines Interesse einzuflößen imstande gewesen wären, vielmehr war es mir äußerst verdrüßlich, den Beifall der Narren im einzelnen mit größter Beschwerlichkeit und Langerweile einzukassieren, der mir im ganzen so wohl behagt hatte, den ich mir als große Masse so gern zueignete. Ich fing an, sie alle von Herzen zu verachten, und es war mir eben, als wenn die ganze Nation sich recht vorsätzlich durch Abgesandte bei mir hätte prostituieren wollen. Sie kamen mir in ganzen so links vor, so übel erzogen, so schlecht unterrichtet, so gefälligen Wesens leer, so geschmacklos; ,denn’, sagte ich oft, ,es kann ein Deutscher keinen Schuh zuschnallen, der es nicht von einer fremden Nation gelernt hat.’

Sie sehen, wie verblendet hypochondrisch ich war, und je länger es währte, desto mehr nahm meine Krankheit zu. Ich hätte mich hängen können, allein ich fiel auf ein ander Extrem, ich verheuratete mich, oder vielmehr, ich ließ mich verheuraten. Mein Bruder, der das Theater übernommen hatte, wünschte sehr, einen Gehülfen zu haben, mein alter Freund wollte mich vor seinem Ende versorgt wissen, ihre Wahl fiel auf einen jungen Mann, der mir nicht zuwider war, dem alles mangelte, was mein Bruder besaß: Genie, Leben, Geist und rasches Wesen, an dem sich aber auch alles fand, was jenem abging: Liebe zur Ordnung, Fleiß, eine köstliche Gabe hauszuhalten, mit Geld umzugehen.

Er ist mein Mann geworden, ohne daß ich weiß wie; wir haben zusammen gelebt, ohne daß ich recht weiß warum; genug, unsre Sachen gingen gut, wir nahmen viel ein; daran war die Anstelligkeit meines Bruders Ursache; wir kamen damit aus, und dies war das Verdienst meines Mannes. Ich dachte nicht mehr an Welt und Nation. Mit der Welt hatte ich nichts zu teilen, und die Nation verachtete ich, oder vielmehr ich dachte gar nicht an sie. Wenn ich auftrat, tat ich es, um zu leben, und wenn ich den Mund auftat, geschah es, weil ich nicht schweigen durfte, weil ich doch herausgekommen war, um zu reden.

Doch, daß ich es nicht zu arg mache! Eigentlich hatte ich mich ganz in die Absichten meines Bruders ergeben, ihm war um Beifall und Geld zu tun (denn unter uns, er hört sich gerne loben und braucht viel). Ich spielte nun nicht mehr nach meinem Gefühle, nach meiner Überzeugung, sondern wie er es anwies, und wenn ich es ihm zu Danke gemacht hatte, war ich zufrieden. Es ging Geld ein, er konnte nach seiner Willkür leben, und wir hatten gute Tage mit ihm.

Ich war indessen in einen handwerksmäßigen Schlendrian gefallen, ich zog meine Tage ohne Freude, ohne Anteil dahin, meine Ehe war kinderlos und dauerte kurze Zeit. Mein Mann war krank, und wie seine Kräfte im Abnehmen waren und ich außer der Sorge für ihn in einer allgemeinen Gleichgültigkeit lebte, machte ich eine Bekanntschaft, mit der ein neues Leben für mich anfing, ein neues und schnelleres, denn es wird mich frühzeitiger beiseite bringen."

Sie schwieg eine Zeitlang stille, dann fuhr sie fort: "Auf einmal stockt meine geschwätzige Laune, und ich getraue mir den Mund nicht weiter aufzutun! Lassen Sie mich ein wenig ausruhen, und wenn wir allein bleiben, so sollen Sie nicht weggehen, ohne ausführlicher zu wissen, was Ihnen schon bekannt ist. Rufen Sie doch indessen Mignon herein und hören, was er will."

Das Kind war während Aureliens Erzählung einigemal im Zimmer gewesen. Da es hörte, daß man bei seiner Ankunft leiser sprach, hatte es sich wieder weggemacht und saß auf dem Saale still und wartete.

Als man sie hereinkommen hieß, brachte sie ein Buch mit, das man bald an Form und Einband für einen kleinen geographischen Atlas erkannte. Sie hatte bei dem Pfarrer unterwegs mit großer Verwunderung die ersten Landkarten gesehn und sich durch hundert Fragen, soweit es gehen wollte, unterrichtet; ihr unmäßiges Verlangen, etwas zu lernen, schien durch diese neue Kenntnis noch viel lebhafter zu werden. Sie bat Wilhelmen inständig, ihr das Buch zu kaufen, sie habe dem Bildermann ihre silberne Schnallen dafür eingesetzt und wolle sie, weil es heut abend zu spät geworden, morgen früh wieder einlösen. Es ward ihr bewilligt, sie schlug nun das Buch mit großer Freude auf und fing an, dasjenige, was sie wußte, teils herzusagen, teils nach ihrer Art die wunderlichsten Fragen zu machen. Man konnte auch hier wieder bemerken, daß bei einer großen Anstrengung ihr alles sehr schwer wurde. Ein Gleiches sah man an ihrer Handschrift, über welcher sie sich so viel Mühe gegeben hatte. Sie sprach noch immer sehr gebrochen deutsch, und nur wenn sie den Mund zum Singen auftat, wenn sie die Zither rührte, schien sie sich des einzigen Organs zu bedienen, wodurch sie ihr Inneres aufschließen und mitteilen konnte. Wir müssen, da wir von ihr sprechen, auch der Verlegenheit gedenken, in die sie neuerdings unsern Freund versetzte. Bei einer jeden Gelegenheit des Kommens oder Gehens, eines "guten Morgens" oder einer "guten Nacht" schloß sie ihn so fest in ihre Arme und küßte ihn mit solcher Inbrunst, daß es ihm vor der Heftigkeit dieser aufkeimenden Natur oft angst und bange ward. Die zuckende Lebhaftigkeit vermehrte sich in ihrem Betragen, und ihr ganzes Wesen bewegte sich in einer rastlosen Stille. Oft, wenn sie gelassen dazustehen schien, bemerkte man, daß sie mit den Zähnen zusammenschlug oder ganz leise knirschte, sie mußte auch immer etwas in den Händen haben, ein Tuch, das sie knetete, einen Bindfaden, den sie drehte, und immer nicht mit einem leichten Ausdruck des Spielens, sondern nur, als wenn eine innerliche heftige Erschütterung dadurch abgeleitet würde.

Da sie diesmal ihren Fragen kein Ende machte, ward Aurelia ungeduldig, die sich eben in einer Stimmung befand, um mit unserm Freunde über einen Gegenstand, der ihr so sehr am Herzen lag, weiter eine Unterredung zu wünschen; man gab es der Kleinen deutlich genug zu verstehen und schickte sie endlich, da es nicht helfen wollte, fort.

"Jetzt oder niemals", sagte Aurelie, "muß ich Ihnen den Überrest meiner Geschichte erzählen. Wäre mein zärtlich geliebter ungerechter Freund nur wenige Meilen von hier, ich würde sagen: ,Setzen Sie sich zu Pferde, machen Sie auf irgendeine Weise Bekanntschaft mit ihm, und wenn Sie zurückkehren, so haben Sie mir verziehen und bedauren mich.’ Eben zu der kritischen Zeit, da ich für meines Mannes Tage besorgt war, lernte ich ihn kennen, er war von Reisen zurückgekommen, und sein Gesellschafter trennte sich von ihm.

Er begegnete mir mit einem gelaßnen Anstande, mit einer offnen Gutmütigkeit, sprach über mich selbst und meine Lage, mein Spiel, daß mich seine erste Unterredung gleich aufmerksam machte. Seine Urteile waren richtig, ohne absprechendes Wesen, treffend, ohne lieblos zu sein; wurde er auch manchmal hart, so stand’s ihm nicht übel, und sein Mutwille war zugleich gefällig, Er schien des guten Glücks bei Frauen gewohnt zu sein, das machte mich aufmerksam; er war keineswegs schmeichelnd und andringend, das machte mich sorglos.

Er ging mit wenigen um, war meist zu Pferde und besuchte seine vielen Bekanntschaften in der Gegend; kam er zurück, so stieg er bei mir ab, behandelte meinen immer kränkern Mann mit warmer Sorge, schaffte dem Leidenden durch einen geschickten Arzt Linderung, und wie er an allem, was mich betraf, teilnahm, ließ er mich auch an dem Seinigen teilnehmen. Er erzählte mir, wie er als zweiter Sohn erst dem Soldatenstande, zu dem er eine unüberwindliche Neigung fühle, gewidmet gewesen, wie er nachher durch den Tod seines ältern Bruders genötigt worden, sich den Absichten der Familie zu fügen; er habe reisen, sich mit Dingen beschäftigen müssen, die ihn wenig interessierten. Genug, er hatte nichts Verborgenes vor mir, er entwickelte mir seine Seele, seine Geschichte, seine Fähigkeiten, seine Leidenschaften, alles nahm mich mit, alles, alles riß mich hin.

Zwischen diesem verlor ich meinen Mann, ohngefähr wie ich ihn genommen hatte, und die Sorge für das Ganze fiel nach seinem Tode auf mich. Denn mein Bruder wollte nur agieren und leben und nicht sorgen; ich ward höchst geschäftig, studierte meine Rollen fleißiger als jemals und spielte wieder wie vor alters, ja mit ganz anderer Kraft und Leben. Nicht immer spielte ich zum besten, wenn ich wußte, daß mein edler Freund im Schauspiel war; einigemal behorchte er mich, und wie angenehm mir alsdann sein unvermuteter Beifall entgegenkam, mögen Sie denken. Gewiß, ich bin ein seltsames Geschöpf! wenn ich eine Rolle spielte, war mir es eigentlich nur immer, als wenn ich ihn lobte, denn das war die Stimmung meines Herzens, die Worte mochten übrigens sein, wie sie wollten. Wußte ich ihn unter den Zuhörern, so schämte ich mich, mit der ganzen Gewalt zu sprechen und zu agieren, als wenn ich ihm das Lob nicht geradezu ins Gesicht sagen wollte; war er abwesend, alsdann hatte ich freies Spiel, und gewiß, ich ließ es an nichts fehlen. Auch war mir wie durch ein Wunder das Verhältnis zum Publikum, zu der ganzen Nation verändert. Sie erschien mir auf einmal wieder in dem vorteilhaftesten Lichte, ich kann nicht sagen, wie ich erstaunte, und noch ist mir unbegreiflich, wie solche Veränderung der Vorstellungsart in uns geschehen könne.

,Wie unverständig’, sagte ich oft zu mir, ,warst du, als dir ehemals die Nation mißfiel, eben weil sie eine Nation ist. Eine Masse von Menschen, unter die eine Menge von Anlagen und Kräften verteilt ist, ohne daß sie eigentlich einen gemeinen Endzweck haben, ohne daß sie einzeln interessant sind; denn dadurch werden sie eben zusammen zu einem Elemente, auf das ein vorzüglicher Mensch würken kann.’ Ich freute mich darüber, daß sie geboren seien, um geführt zu werden, ich liebte sie deswegen, denn ich glaubte, ihnen einen Anführer gefunden zu haben.

Lothar hatte mir immer die Deutschen von der Seite ihrer Tapferkeit vorgestellt und mich versichert, daß keine bravere Nation in der Welt sei, wenn sie recht geführt werde. Dies fiel mir auf, und ich schämte mich, daß ich niemals an diese erste Eigenschaft gedacht hatte. Ich fing nun bald an, meine Denkensart zu verbessern, ich fragte nicht mehr nach Bildung, nach Art und Weise und ließ mir die rauhe und unansehnliche Schale des trefflichen Kerns wegen gefallen. Nun sprach ich wie begeistert, mittelmäßige Verse wurden zu Gold in meinem Munde, und hätte ein Dichter mir beigestanden, ich hätte Wunder der Würkung hervorgebracht. So lebte Ihre junge Witwe monatelang fort. Er konnte mich nicht entbehren, ich war höchst unglücklich, wenn er ausblieb; er zeigte mir die Briefe seiner Verwandten, seiner fürtrefflichen Schwester, er war von jeder Kleinigkeit meines Zustandes unterrichtet, eine vollkommnere, innigere Einigkeit ist nie gedacht worden, der Name der Liebe ward nicht genannt.

Er ging und kam, kam und ging – und nun, mein Freund, ist es hohe Zeit, daß Sie auch gehen."
Eckermann: Gespräche mit Goethe


Dichtung und Wahrheit

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