> Gedichte und Zitate für alle: Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 2. Buch 2.Kapitel

2019-10-06

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 2. Buch 2.Kapitel




Zweites Buch
Zweites Kapitel

Werner konnte nie recht leiden, daß Wilhelm ein Gespräch fallenließ und eine Weile in sich selbst gekehrt blieb. Er fühlte, da es nie als Verachtung auszulegen war, daß seines Freundes Herz sich bei solchen Anlässen sachte zuschloß, daß die lebhafte Seele sich in Reiche begab, wohin sie keinen bedächtig gesinnten Begleiter mitnehmen wollte. Werner hielt dafür, ein freundschaftlicher Umgang sei, um sich wechselseitig zu unterrichten, sich seine Zweifel mitzuteilen und, einer von dem andern überführt, sich zu vergleichen.

Wilhelm schien dagegen hier und da bemerkt zu haben, daß der Geist des Menschen ein eignes Ganzes ausmache, das sich mit einem andern nie vereinigen, wohl aber an mehr- oder wenigern Punkten sich berühren könnte. Er mußte bald zu dieser Erfahrung gelangen; denn ein Geschöpf, das im Werden ist, hat mit den entwickelten, auch denen von eigner Art, wenig gemein. Und was ihm als Wahrheit vorschwebte, hing an so vielen Fäden, war so gedrängt, so voller Aussichten, so leise nur zu fühlen, daß er fast nie imstande war, in einem Gespräche vorwärtszukommen und hübsch rund und deutlich zu sagen, was er wollte.

Als Knabe hatte er zu großen, prächtigen Worten und Sprüchen eine außerordentliche Liebe, er schmückte seine Seele damit aus wie mit einem köstlichen Kleide und freute sich darüber, als wenn sie zu ihm selbst gehörten, kindisch über diesen äußern Schmuck. In der Folge, als der Jüngling sich von innen heraus fühlte, seine Seele in Arbeit und Bewegung kam, verschmähte er die Worte, weil er das für unaussprechlich hielt, was in ihm aufquoll. Ihm war es auch nicht in Worte zu fassen, es dehnte sich alles zu weit auseinander, daß er es mit den engen, ängstlichen Banden des bestimmten Ausdruckes nicht umgrenzen konnte, besonders wenn ihm jemand widersprach; denn das, wovon seine Seele voll war, einem willigen Zuhörer aneinanderhängend mitzuteilen, machte ihm das größte Vergnügen, wie wir davon Beispiele gesehen haben und noch sehen werden. Zum Dialog hingegen war er gar nicht eingerichtet; ihm war nicht leicht gegeben, sich in die Gesinnungen der andern zu versetzen, und wenn der Faden seiner Ideen durch die Eingriffe des Streitenden oft zerrissen wurde, brachte er, um mehrerer Deutlichkeit willen, Sachen, Gleichnisse, Geschichten, Stellen herbei, die ganz und gar mit dem Gegenstande, wovon man sprach, keinen erscheinenden Zusammenhang hatten. Der Gegenteil behielt also immer recht, und wenn er sich sonst mit aller Lebhaftigkeit verteidigt hatte und sich zuletzt, um fertig zu werden, mit Paradoxen und Berufung an Himmel und Erde zu helfen suchte, wurde er meist überstimmt und ausgelacht. Dadurch hatte er sich nach und nach angewöhnt, in der Stille der Sonne entgegenzustreben, die seine Flügel zeitigen und ausspannen sollte. Besonders neuerdings, da ihm der große Knoten, an den er alles anknüpfte, abgerissen war, wußte er sich meist in nichts zu finden. –

Werner versuchte, das entschlürfte Gespräch sachte wieder einzufädeln. "Wenn dir es nicht zuwider ist und ich dir nicht etwas vorlesen soll, so erkläre mir doch einigermaßen, wie es mit den drei Einheiten steht und was man davon halten darf." – "Mein Kopf ist nicht ganz frei", sagte Wilhelm, "sonst wollte ich gerne dein Verlangen erfüllen. Zwar gestehe ich dir, je mehr ich es überlege, desto mehr überzeuge ich mich, daß es gefährlich ist, seinen Weg von dieser Seite in das dramatische Land zu nehmen."

"Gib mir doch einen Begriff", sagte Werner, "verwirfst du denn diese Regeln und diese drei Einheiten ganz?"

"Wenn du nur wüßtest", sagte Wilhelm, "was du in diesen Worten für Begriffe verwirrst. Ich entziehe mich keiner Regel, welche aus der Beobachtung der Natur und aus der Eigenschaft eines Dinges genommen ist; ich verachte auch diese sogenannten Einheiten nicht, weil sie teils zum Notwendigen eines Stückes, teils zu seiner Zierde gehören; ich halte nur die Methode für ungeschickt, womit man uns diese sonst ganz guten und nützlichen Lehren vorträgt, weil sie unsere Gedanken fesselt und uns verhindert, die wahren Verhältnisse zu erkennen. Wenn einer den Menschen einteilte in Seele, Leib, Haare und Kleider, so würde dir die Albernheit einer solchen Lehrart bald auffallen, ob du gleich nicht leugnen könntest, daß sich an dir alle diese Teile befinden. Nicht viel besser und fast ebenso unphilosophisch ist jene, wenn man sie näher beleuchtet. Ein Kerbholz, wo Dinge von ganz ungleichem Werte in einer Reihe eingeschnitten sind.

Die Einheit der Handlung im höheren Sinne genommen macht nicht allein den Ruhm des Dramas, sondern eines jeden Gedichtes, und diese, dünkt mich, ist indispensable. Nach ihr, wieviel wichtige Dinge sind nicht abzuhandeln, eh wir an Ort und Zeit kommen, worüber so viel zu sagen ist und wegen welcher man fast allen Schriftstellern oft durch die Finger hat sehen müssen. Ja, wenn denn am Ende Einheiten sein sollen, warum nur drei und nicht ein Dutzend? Die Einheit der Sitten, des Tons, der Sprache, des Charakters in sich, der Kleider, der Dekoration und der Erleuchtung, wenn du willst. Denn was heißt Einheit, wenn es doch etwas bedeuten soll, anders als innere Ganzheit, Übereinstimmung mit sich selbst, Schicklichkeit und Wahrscheinlichkeit?

Wieviel anders hat man bisher dieses Wort als Kunstwort gebraucht! Bei jeder der sogenannten drei Einheiten bedeutet es etwas anders. Einheit der Handlung heißt teils Einfachheit der Handlung, teils geschickte und innige Verbindung mehrerer. Einheit des Ortes heißt Einerleiheit, Unveränderlichkeit oder Einschränkung des Platzes. Einheit der Zeit sodann heißt kurzes, faßliches, einigermaßen wahrscheinliches Maß derselben. Du wirst also mit mir übereinkommen, daß man diese Dinge nicht hätte so nebeneinander und hintereinander rangieren sollen. Ich habe mir also diese alte Formeln bei meiner Untersuchung über das Drama ganz aus dem Sinne geschlagen, um einen natürlichern und richtigern Weg zu finden; dabei bin ich sorgfältiger als jemals, aufzusuchen, was nachdenkende Menschen darüber geschrieben haben. Sogar habe ich neulich eine Übersetzung von des Aristoteles ,Poetik’ gelesen." – "Teile mir doch etwas davon mit", versetzte Werner. "Aus dem Ganzen", sagte Wilhelm, "weiß ich wirklich noch nichts zu machen; man müßte wohl mehrere von seinen Schriften gelesen haben, um mit seiner Art etwas bekannter zu werden, auch überhaupt von dem Altertum unterrichteter sein, als ich es bin. Unterdessen hab ich mir vortreffliche Stellen daraus gemerkt und sie nach meiner Art zusammengesetzt, ausgelegt und kommentiert."

"Ich kann den Wunsch unmöglich aufgehen", versetzte Werner, "einen ausführlichen und bestimmten Maßstab zu haben, wornach ich die Güte eines Stückes beurteilen könne."

"Du irrst darinne", versetzte Wilhelm, "wenn du glaubst, es könne einer dem andern dieses Maß sogleich in die Hand geben. Man muß sich lange mit einer Sache beschäftigen und sie durchaus kennenlernen, alsdann versteht man erst recht, was verständige und gelehrte Leute darüber für Meinung hegen. Und wie der Dichter eher ist als der Kritiker, so müssen wir auch vieles sehen, lesen und hören, ehe wir uns einfallen lassen wollen zu urteilen. Nicht gerechnet, daß einer, der nicht vom Handwerke ist, am besten tut, er überläßt sich seinem natürlichen Gefühle und grübelt nicht lange, wenn ihn der Dichter oder Schauspieler ergötzt." – "So habe ich es auch immer gehalten", sagte Werner, "bis man mir neuerdings gar zuviel vorgeschwätzt und mich irregemacht hat. Denn so kam ich zum Exempel mit großem Vergnügen aus dem ,Lustigen Schuster oder der Teufel ist los’ und hatte gesehen, daß sich die ganze Welt recht sehr daran ergötzt hatte; das nahmen mir gewisse Personen sehr übel, die man für Kenner hält, spotteten über meinen schlechten Geschmack und bewiesen mir ihr Recht der Länge nach. Man will doch auch nicht dastehen, als wenn man aufs Maul geschlagen wäre, besonders wenn man doch ein paar Augen im Kopfe hat wie ein anderer."
Wilhelm versetzte: "Es ist schwerer, als man denkt, gerecht zu sein. Wie ich meine Untersuchungen anstelle, will ich dir sagen; ich sehe, daß man auf keine andere Weise herauskommt. Ich suche nun schon lange Zeit und besonders, seitdem mir meine Krankheit zum Lesen Raum läßt, zu finden, was zum Wesen des Schauspieles gehört und was nur zufällig dran ist; freilich sollte mehr Studium dazu, als ich habe machen können, denn man müßte die Geschichte des Schauspiels von seinem ersten Ursprunge, die Theater aller Nationen und den größten Teil ihrer Stücke kennen, man müßte untersuchen, worin sie miteinander übereinkommen müssen, um gute Stücke zu sein, und worin sie voneinander abweichen können; auf diese Gedanken hat mich der brave Legationsrat R. gebracht, der dir auch so wohl gefiel. Ich sehe aber, es ist keine Sache für mich. Ich habe mit dem französischen Theater anfangen wollen. Ich nahm den Corneille vor, und kaum hatte ich einige Stücke gelesen, als eine solche Gärung in meinem Kopfe war und ein unwiderstehlich Verlangen in mir entstand, gleich eins in dieser Art zu komponieren." – "Du wirst es doch aufgeschrieben haben", sagte Werner, "laß mich doch auch was sehen. Du bist immer so geheimnisvoll damit; wenn mir es meine Frau nicht verraten hätte, so wüßte ich gar nicht, daß du so vielerlei geschrieben hast." – "Vielleicht finde ich einmal eine Stunde", sagte Wilhelm, "wo ich leichtsinnig genug bin, dir von der Kindheit meiner Bemühungen Rechenschaft zu geben. Ich bin überzeugt, daß es tausend Schriftstellern und andern, die sich um Talente und Künste bemühten, gegangen ist wie mir. Ein Trieb jugendlicher Nachahmung führt den verwandten Geist auf gebahnte Wege, die großen Muster reizen uns an, die Anfänge sind leicht, wir lassen uns tändelnd auf einen Pfad ein, dessen Beschwerden und Länge wir dann erst bemerken, wenn schon ein Teil zurückgelegt ist. Gewohnheit, Neigung heißen uns darauf beharren, meist mit innerm Unwillen und mit dem ängstlichen Gefühl, daß wir hinter jenen, denen wir vorzulaufen gedachten, weit zurückblieben. Gib lieber den Corneille her, den Teil, wo ,Cinna’ drinne steht, und lies mir daraus einige Szenen vor."

Werner tat es, und da er die französische Verse nicht gut deklamierte, so ergriff Wilhelm endlich selbst das Buch und las mit vielem Feuer und Erhebung der Seele, so daß Werner zuletzt ausrief: "Herrlich und außerordentlich!"

"Sage mir", fuhr Wilhelm auf, "ist dir nicht auch so, müssen nicht diese Situationen jede Menschenseele gewaltig angreifen? Im ganzen so sonderbar, so einfach und schön! Es ist so groß und scheint so natürlich, man nimmt den innigsten Teil und wagt doch nicht, sich selbst in die Lage zu denken, man ist und bleibt Zuschauer und erwartet von den höhern Wesen, wie sie sich benehmen werden. Ja wenn der Autor Kraft und Saft hat, fähig ist, was wir uns allenfalls nur denken und vorstellen, lebendig hervorzuführen, wenn wir unsere Halbgötter jeden wichtigen Schritt gesetzt und fest tun sehen und eines jeden Betragen kernhaft und ganz ist in der schröcklichen Lage, wie befriedigt werden wir und wie dankbar vergnügt kehren wir zurück, wenn uns die Verlegenheiten, die geteilten Gefühle so liebreich ängstlich, so wohl zu dem Schröcklichen stimmend in unser Herz gelegt werden. Es mag nur einer nach etwas Neuem und Fremdem schnappen, oder er mag seine Brust zum Anteile hingeben, er findet bei so einem Gegenstande immer seine Befriedigung, will mich dünken. Ich bitte dich, lies das Stück ganz! lies es ja!"

"Du hast mich sehr neugierig darauf gemacht und auf seine übrigen; sind sie diesem gleich?" – "Wie ein Mann sich nicht ganz gleich, nicht ganz ungleich sein kann." – "Seine Landsleute haben ihn den Großen genannt; einige, wenn ich mich nicht irre, haben ihm diesen Ehrennamen streitig gemacht." – "Welchen er als Dichter verdient, wage ich nicht zu entscheiden; ich bewundere, was über mir ist, ich beurteile es nicht. Soviel weiß ich, ein großes Herz hatte er gewiß. Eine tiefe innere Selbständigkeit ist der Grund aller seiner Charaktere, Stärke des Geistes in allen Situationen ist das Liebste, was er schildert. Laß auch, daß sie in seinen jüngern Stücken manchmal als Rodomontade aufschlägt und in seinem Alter zu Härte vertrocknet, so bleibt es immer eine edle Seele, deren Äußerungen uns wohltun." – "Sollte man denn aber so sicher von dem Werke auf den Verfasser schließen können? Denn es ist eben keine große Kunst, im Trauerspiel edel und großmütig zu sein, ein Königreich zu verschenken, einer Geliebten zu entsagen, das Leben dranzusetzen und de gleichen Dinge mehr, die im gemeinen Leben, ich wollte wetten, ein König so gut als ein anderer von sich ablehnet. Auf den Brettern kann ein jeder seine Prinzen nach Belieben großtun lassen." – "Wirklich großtun kann einer auf dem Theater so wenig als irgendwo, wenn er nicht eine große Ader in sich hat. Ein Schriftsteller mit einer kleinen, engen Seele wird, wenn er erhabene Gegenstände bearbeitet, das Große immer am unrechten Orte suchen, er wird gleich übertrieben und albern werden, und es wird’s ihm kein Mensch zugute halten, dagegen das wirklich Edle immer Beifall und Bewunderung abzwingt. Wie uns die grausamen Leidenschaften zum Entsetzen und traurige Schicksale zum Mitleiden hinreißen, Falschheit uns verachten heißt, übermütiger Mißbrauch der Gewalt unsern Haß aufreizt und so jede der mannigfaltigen Leidenschaften, die uns bewegen, einzeln oder verbunden! Gewiß, wer von allen diesen das hohe Menschengefühl hat, und wen die Natur zum Dichter machte, daß er diese Wirkung als lebendig hervorbringen kann, der wird durch viele Zeiten durch die menschliche Seele erschüttern und bewegen."

Werner suchte nun das Gespräch, das ihm für Wilhelms Gesundheitsumstände zu lebhaft wurde, zu verändern und gedachte noch zum Schluß etwas von den eignen Werken des jungen Dichters zu erhaschen; allein sosehr er sich auch bemühte, war es diesen Abend unmöglich, in diese Geheimnisse zu dringen. Zu voll von dem Bilde Corneillens, und wenn man will, vom Ideale Corneillens, das sich Wilhelm gebildet hatte, sah er seine Arbeiten als Sudelpapiere der Schulübung an, die, wenn sie der Knabe vollgeschrieben hat, gewöhnlich zu Wickeln verschnitten werden. Er fühlte einen Abstand, den ihm sein Gefühl zu überspringen nicht erlaubte. Ein seltner Fall bei einem Schriftsteller, ja bei einem Menschen überhaupt. Die Natur hat uns meist so glücklich mit uns selbst verwebt, daß wir nicht leicht einen andern, seine Handlungen und Besitzungen ansehen, ohne auf uns zurückzukehren, um das Unsere, wäre es auch verhältnismäßig noch so klein, mit dem angenehmsten Vorgefühl zu genießen. Gütige Mutter, wie weise und liebreich hast du die kleine, enge Haushaltung eines jeden sparsam reichlich ausgestattet!

Werner stund endlich ab, besonders da er merkte, sein Freund hatte sich in der Lebhaftigkeit des Gesprächs zu sehr angegriffen. Er versparte es auf ein andermal, wo es ihm auch gelang.
Eckermann: Gespräche mit Goethe


Dichtung und Wahrheit

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