> Gedichte und Zitate für alle: Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 5. Buch 15.Kapitel

2019-10-14

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 5. Buch 15.Kapitel




Fünftes Buch
Fünfzehntes Kapitel

Hatte man zwischen vier Wänden gute und fröhliche Stunden gehabt, so waren sie hier gewiß noch angenehmer, da die Freiheit des Himmels und die Schönheit der Gegend jedes Gemüt höher stimmte. Man wußte sich gar nichts Köstlichers zu denken, als in einem so angenehmen Aufenthalt sein Leben zuzubringen. Man beneidete die Jäger, Köhler und Holzhauer, welche ihr Beruf an diesen glücklichen Wohnplätzen festhielte. Über alles aber pries man die Reise einer Zigeunerwirtschaft, die in seligem Müßiggange alle abenteurliche Reize der Natur zu genießen berechtiget sind. Man hatte indessen angefangen, Erdäpfel zu sieden, einige Töpfe standen bei dem Feuer, gruppenweise lagerte sich die Gesellschaft unter Bäumen und an Büschen, ihre seltsame Kleidungen gaben ihnen ein fremdes Ansehen, die Waffen, die sie mit sich führten, machten es noch sonderbarer, die Pferde wurden beiseite gefüttert, und wenn man dafür gesorgt hätte, die Kutschen zu verstecken, so würde die Dekoration vollkommen gewesen sein. Wilhelm genoß einer köstlichen Freude bei diesem Anblicke. Er konnte sich als Anführer dieser Partei denken, er unterhielt sich von dieser Idee mit einem jeden und bildete sie so poetisch als möglich aus. Die Gefühle der Gesellschaft erhöheten sich, man aß und trank und jubilierte und bekannte, niemals schönere Augenblicke erlebt zu haben.

Wir können den Lesern hier nicht verbergen, daß dieses die Originalszene war, wovon man die Nachbildungen und Nachahmungen bis zum Überdruß neuerdings auf den deutschen Theatern gesehen hat. Die Idee von wackern Vagabunden, edeln Räubern, großmütigen Zigeunern und sonst allerlei idealisiertem Gesindel hat ihren wahren Ursprung diesem Ruheplatze zu danken, den wir soeben mit einer Art von Widerwillen geschildert haben, weil es nicht anders als höchst verdrießlich sein kann, wenn man nicht ehe Gelegenheit findet, das Publikum mit dem Originale bekannt zu machen, als wenn die Kopien schon den Reiz des Gegenstandes und seiner Neuheit weggenommen haben.

Mit jedem Augenblicke wuchs die Lustigkeit. Wilhelm und Laertes griffen zu den Rapieren und fingen an, sich in dem Zweikampfe zu üben, durch welchen Hamlet ein so tragisches Ende nimmt. Sie hatten sich vorgenommen, das Stück unter sich selbst zu versuchen, und unserm Freunde war die Rolle des dänischen Prinzen zugeteilt worden. Die übrige hatten einen Kreis um sie geschlossen, sie fochten mit dem größten Eifer, und das Interesse der Zuschauer wuchs mit jedem Ausfall. Auf einmal ward die Gesellschaft in ein großes Schröcken gesetzt; denn es fiel im nächsten Busche ein Schuß und noch einer. Als man sich umsah, erblickte man bewaffnete Leute, die auf den Ort zudrangen, wo die Pferde nicht weit von den bepackten Kutschen ihr Futter einnahmen.

Ein allgemeiner Schrei entfuhr dem weiblichen Geschlechte, unsere Helden warfen die Rapiere weg, griffen nach ihren Säbeln, eilten auf die Räuber zu und riefen, daß sie stillehalten und ihnen Rechenschaft des Unternehmens geben sollten. Da man ihnen mit ein paar Musketenschüssen antwortete, so drückte Wilhelm seine Pistole auf den einen ab, der den Wagen erstiegen hatte und die Stricke des Gepäcks auseinanderschnitt. Er traf ihn wohl, daß er gleich herunterstürzte, und da Laertes auch nicht fehlgeschossen, zogen sie beide ihre Seitengewehre, als ein Teil der Partei mit Fluchen und Gebrüll auf sie losbrach, gleichfalls einige Schüsse auf sie tat und sich mit blinkenden Säbeln ihrer Kühnheit entgegensetzte. Unsere junge Helden hielten sich tapfer, sie riefen ihren übrigen Gesellen und munterten sie auf, ihnen beizustehen. Bald aber verlor Wilhelm den Anblick des Lichtes und das Bewußtsein dessen, was vorging. Von einem Schuß, der ihn zwischen der Brust und Schulter traf, verwundet, von einem Hiebe, der ihm den Hut spaltete und fast bis auf die Hirnschale durchgedrungen, betäubt, fiel er nieder und mußte das unglückliche Ende des Überfalls nur erst in der Folge aus der Erzählung anderer vernehmen.

Als er die Augen wieder aufschlug, befand er sich in der wunderbarsten Lage. Das erste, was er durch die Dämmerung, die noch seine Blicke trübte, bemerken konnte, war das Gesicht Philinens, das sich über das seine herüberneigte. Er war zu schwach, sich aufzuheben, und da er sich anstützte, um sich emporzurichten, fühlte er sich in Philinens Schoß, in den er auch wieder zurücksank. Sie saß auf der Erde, hatte den Kopf des vor ihr ausgestreckten Jünglings leise an sich gedrückt und ihm in ihren Armen, soviel sie konnte, ein sanftes Lager bereitet. Mignon kniete mit zerstreuten, blutigen Haaren an seinen Füßen und umarmte sie mit vielen Tränen.

Als Wilhelm seine blutigen Kleider ansah, fragte er mit gebrochener Stimme, was ihm und den andern begegnet? Philine bat ihn, ruhig zu bleiben; die übrigen, sagte sie, seien alle in Sicherheit und niemand als er und Laertes verwundet; weiter wollte sie nichts erzählen und bat ihn nur immer inständig, sich zu beruhigen, weil sie befürchten müsse, seine Wunden möchten wieder aufbrechen, die nur noch schlecht verbunden seien. Er reichte Mignon die Hand und erkundigte sich nach der Ursache der blutigen Locken des Kindes.

Als ihn dieses gutherzige Geschöpf verwundet sah und nichts um sich fand, womit es das Blut hätte stillen können, hatte es seine Haare genommen, um die Wunden seines Herrn und Vaters damit auszustopfen, hatte aber bald von dem vergeblichen Unternehmen abstehen müssen. Nachher verband man ihn mit Schwamm und Moos. Philine hatte dazu Halstuch und Schürze hergegeben.
Wilhelm bemerkte, daß Philine mit dem Rücken gegen ihren Koffer saß, der noch ganz wohl verschlossen und unbeschädigt aussah; er fragte, ob die andern auch so glücklich gewesen, ihre Habseligkeiten zu erhalten? Sie beantwortete diese Frage mit Achselzucken und einem Blick auf die Wiese, wo zerbrochene Kasten, zerschlagene Koffers, zerschnittene Mantelsäcke und eine Menge kleiner Gerätschaften zerstreut hin und wider lagen. Von Menschen war der Platz leer, und die wunderliche Gruppe, die wir beschrieben haben, fand sich in dieser Einsamkeit allein.
Wilhelm erfuhr nun immer mehr, als er wissen wollte. Die noch Widerstand hätten tun können, waren leicht in Schröcken gesetzt und überwältigt; ein Teil floh, ein Teil sah mit Entsetzen dem Unfalle zu, die Fuhrleute, die sich noch wegen ihrer Pferde am wackersten gehalten, waren zuletzt auch außerstande, sich zu wehren, in kurzem war alles rein ausgeplündert und weggeschleppt. Die beängstigten Reisenden, die, sobald die Sorge vor ihr Leben vorüber war, über ihren Verlust zu jammern anfingen, eilten mit möglichster Geschwindigkeit dem benachbarten Dorfe zu, führten den leicht verwundeten Laertes mit sich und brachten nur wenige Trümmer ihrer Schätze davon. Der Harfner hatte sein beschädigtes Instrument an einen Baum gelehnt und war mit nach dem Orte geeilt, einen Wundarzt aufzusuchen, um seinem für tot zurückgelassenen Wohltäter nach Möglichkeit beizuspringen.
Eckermann: Gespräche mit Goethe


Dichtung und Wahrheit

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