Neunzehntes Kapitel
Wilhelms Freund und vermutlicher Schwager war einer von denen geprüften, in ihrem Dasein bestimmten Leuten, die gewöhnlich kalte Leute genennt werden, weil sie bei Anlässen weder schnell noch sichtlich auflodern. Auch war sein Umgang mit Wilhelmen ein anhaltender Zwist, wodurch ihre Liebe sich immer fester knüpfte. Jeder fand seine Rechnung beim andern. Werner tat sich was zugute drauf, daß er denen trefflichen, obgleich leider gelegentlich ausschweifenden Gaben Wilhelms mitunter Zügel und Gebiß anzulegen schien; und Wilhelm fühlte oft einen herrlichen Triumph, wenn er seinen bedächtlichen Freund in warmer Aufwallung mit sich fortnahm. So wetzte sich einer am andern, und sie wurden gewohnt, sich täglich zu sehen, eben darum, weil keiner was vom andern hatte, sie einander nicht verstunden, sich einander nicht verständlich machen konnten. Im Grund aber gingen sie doch, weil sie beide gute Menschen waren, nebeneinander, miteinander nach einem Ziel und konnten niemals begreifen, warum keiner den andern auf ebendie Gesinnungen reduzieren konnte. Werner spürte, daß Wilhelms Besuche seltner wurden, daß er in Lieblingsmaterien kurz und unruhig abbrach, daß er sich nicht mehr in lebhafter Ausbildung seltsamer Vorstellungen vertiefte, welches freilich immer ein Zeichen eines unbefangenen, sich selbst genügenden, in der Gegenwart eines Freundes Ruhe findenden Herzens ist. Werner, der sehr pünktlich war, suchte den Fehler in seinem eignen Betragen, so lang bis einige Kaffeehausgespräche ihn auf die Spur brachten und einige überfließende Unvorsichtigkeiten Wilhelms ihm mehr Gewißheit gaben. Er ließ sich auf eine nähere Untersuchung ein, entdeckte gar bald mit großem Entsetzen: Wilhelm habe sich an eine Komödiantin gehängt, an ein Weibsbild, das ihn verführe, ihn ums Geld bringe und noch dabei nebenher sich von dem unwürdigsten Nebenbuhler unterhalten lasse. Er unterließ nichts, sich von allem pünktlich zu überzeugen, und da er das war, formierte er eines Abends auf Wilhelm seinen Angriff, trug ihm alles haarklein erst gelassen, dann mit dem dringendsten Ernste der wohldenkenden Wahrheit vor, ließ keinen Zug unbestimmt, ließ seinen Freund alle die Bitterkeiten kosten, mit denen ruhige Menschen gegen Liebende so leicht freigiebig sind, aber er fiel auch aus den Wolken, als Wilhelm, zwar mit einiger Bewegung, doch mit großer Sicherheit versetzte: "Du kennst das Mädchen nicht! Ich weiß, daß der Schein wider sie ist, aber ich bin ihrer Treu und Tugend so gewiß als meiner Liebe." Werner blieb fest, erbot sich zu Beweisen und Zeugen, Wilhelm verwarf sie und ging bald in einer verdrießlichen Erschüttrung weg wie einer, dem ein ungeschickter Zahnarzt einen schadhaft festsitzenden Zahn gefaßt und vergebens dran geruckt hat. Mit heimlichem Unwillen schüttelte Wilhelm allen Verdacht aus seiner Einbildung, das schöne, ganze Bild Marianens, das vor seiner Seele stund, war durch Werners Erzählung auf einige Augenblicke verschoben und befleckt worden; es währte nicht lange, so hatte es Wilhelm wieder vollkommenlich gesäubert, zurechtegeruckt, und da er sie gar abends einen Augenblick wiedersah, fing es an, von neuem zu leuchten und zu glänzen.
Werner sann nun Tag und Nacht, wie er seinen Freund durch Zureden und Vorstellungen wieder zurechtbringen könnte, machte verschiedene Versuche, denen aber ganz gelinde ausgewichen wurde; darüber wurde er traurig und konnte nicht begreifen, wie die besten Gesinnungen, in reiner Wahrheit vorgetragen, auf Wilhelms gutes, treffliches Herz Eindruck zu machen nicht kräftig genug sein sollten.
Der alte Meister lag diese Zeit her an einer Krankheit nieder; Wilhelms Arbeiten nahmen ihm seine Tage, die Sorgfalt für seinen Vater die Abende weg, es blieb ihm also für seine Geliebte nur die Nacht übrig. Sie wurde auch mit ihm drauf eins, er fand eine Türe, die aus einem Holzstall in ein enges Gäßchen ging, sehr bequem, um nächtlich sein Haus zu verlassen.
Die seltsame Stimmung der Nacht, die öden Gassen, die er sonst nur voller Gewerbe gewohnt war, die flimmernde Nachtlichter seiner Bekannten und das Gefühl des Geheimnisses würzten das Abenteuer, und er schlich, in seinen Mantel eingewickelt, alle Lindors und Leanders im Busen, meist nachtnächtlich ein zu seiner Geliebten.
Eckermann: Gespräche mit Goethe
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen