> Gedichte und Zitate für alle: Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 1. Buch 14.Kapitel

2019-10-04

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 1. Buch 14.Kapitel





Erstes Buch
Vierzehntes Kapitel

In der gärenden Zeit dieser natürlichen Kunstbemühungen wollte das Schicksal, daß die Liebe ihn mit noch festern Banden ans Theater knüpfte. Bisher waren seine kleine Geschichtchen wie Präludien zu einem großen Musikstücke gewesen, wo man in mannigfaltigen Harmonien aus einem Tone in den andern übergeht, ohne eine bestimmte Melodie vorzutragen und ohne einen andern Zweck zu haben, als das Ohr zu mehr Empfänglichkeit für das Folgende vorzubereiten und den Zuhörer unvermerkt an die Pforte zu führen, wo sich ihm die ganze Herrlichkeit auf einmal offenbaren soll. Den meisten Menschen geht's so in der Liebe, und wen das Schicksal liebhat, den leitet's so zu Glück und Unglück.

Wilhelm, der das Schauspiel, das etlichemal des Jahrs in ihre Stadt kam, so oft besuchte, als es mit leidlichem Verdruß zu Hause angehen konnte, hatte sich unter allen Spielenden ein Mädchen gemerkt, die ihm öfters aufgefallen war, weil sie vor den übrigen etwas in ihrem Ton hatte, das manchmal ans Herz ging, besonders wenn sie klagte oder etwas drollig Gutherziges sagte. Sie gefiel ihm nicht immer, und wenn er sie oft nicht leiden konnte, warf er die Schuld auf die Rollen, und das feine Gesichtchen und die volle Brust redeten ihr wieder mächtig das Wort; er beneidete jeden Bedienten, der im Stück, frei mit ihr tun durfte. Die übrigen machten's ihm selten recht. Um ihrentwillen schienen die Stücke aufgeführt zu werden, und er verglich den einem Gott, der seine Arme um sie werfen und bei einer fröhlichen Wiedererkennung sie als Bruder oder Gatte an sich drücken durfte. Ja es ging so weit, daß, wenn sie halbweg in ein Stück verflochten war, daß er, der sonst eine Vorstellung mit Kunst- und Kenneraugen ansah, in die wahre kindliche Täuschung aufgehoben ward und manchmal wie aus einem Traum auffuhr, wenn ein langweiliger Akt oder eine von andern schlecht vorgetragne Szene ihn sehr unsanft fallen ließ.

So ging es eine Weile fort, ohne daß er mit ihr bekannt wurde, seine bürgerliche Schüchternheit hielt ihn ab, wenn er auch aufs Theater kam, sich ihr zu nähern, und sooft er sie wiedersah, schien sich eine neue Ader in ihm zu bewegen; er machte gewiß immer einen schiefen Bückling, wenn er hinter den Theaterwänden nicht weit von ihr zu stehen kam, oder stieß irgendwo an oder verbrannte ehrerbietig ausweichend seinen Rock. Sie sah ihn auch etlichemal mit so einem bedeutenden Blick an, daß er glauben mußte, sie bemerke ihn, und es tat ihm äußerst wohl, ob sie gleich nicht im geringsten auf ihn achthatte. Denn auf dem Theater und in der großen Welt gewöhnt man sich, die Augen bedeutungsvoll auf Gegenstände zu richten, von denen man oft gar keine Notiz nimmt, und einer Frau besonders, die aus der Erfahrung hat, daß ihre Augen mannigfaltig wirken, aufreizen, lebendig machen, wird's mechanisch, mit den Leuten Katzenmäusches zu spielen, ohne sie zu bemerken.
Eckermann: Gespräche mit Goethe


Dichtung und Wahrheit

Keine Kommentare: