> Gedichte und Zitate für alle: Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 3. Buch 4.Kapitel

2019-10-08

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 3. Buch 4.Kapitel




Drittes Buch
Viertes Kapitel

Madame warf, indem er hereintrat, einen weißen Mantel um, ihre tiefe Nachtkleidung zu verbergen, der Gemahl zog seine heruntergefallene Strümpfe hinauf und die Nachtmütze vom Kopfe. Man wollte einen Stuhl frei machen, ihn dem Hereintretenden anzubieten, aber der Tisch, das Bett, selbst der Ofen und das Fenstergesimse faßten nichts mehr. Man war sehr vergnügt, sich wiederzufinden, und Madame Melina besonders verbarg nicht ihre Absicht auf Wilhelms Achtung, sie machte einigen Anspruch auf Witz, Poesie und was darzu noch weiter gehören mag. Sie war ehemals während ihres verlängerten ehelosen Standes das Orakel ihres kleinen Städtchens, und die Anmaßung, womit sie sich Wilhelmen gegenwärtig zeigte, ließ sie freilich in keinem so vorteilhaften Lichte sehen, als wie sie damals im Glanze des Unglückes erschien. Ihre Bemühungen ließen Wilhelm kalt, oder viel mehr, er bemerkte sie ganz und gar nicht. Man führte Beschwerde über die Direktrice, denn es war eine Frau, die diese Truppe zusammenhielt, man schalt sie als eine üble Wirtin, die in guten Zeiten nicht zurücklege, vielmehr mit einem von der Truppe, den sie sich zum Günstling ausersehen, alles vertue, und wenn denn schlimme Wochen einfielen, genötigt sei zu versetzen und ihren Akteurs das Versprochene dennoch nicht bezahlen könne. Ja sogar glaube man, sie habe noch außerdem Schulden, und es stehe nicht zum besten mit ihr, man müsse sich vorsehen.

Wilhelm erinnerte sich unter den Reden der sonderbaren Figur, die ihm begegnet war, und fragte nach ihr. "Wir wissen selbst nicht", sagte Madame Melina, "was wir aus dem Kinde machen sollen. Vor ohngefähr vier Wochen war eine Gesellschaft Seiltänzer hier, die sehr künstliche Sachen zeigte. Unter andern war auch dieses Kind dabei, ein Mädchen, das alles recht gut ausführte, besonders tanzte sie den Fandango allerliebst und machte verschiedene andere Kunststücke mit vieler Geschicklichkeit und Anstand, doch war sie immer still, wenn man mit ihr sprach oder sie lobte oder sie um etwas fragte. Eines Tages kurz vor der Abreise hörten wir einen erschröcklichen Lärm unten im Hause. Der Herr von dieser Truppe schalt entsetzlich auf das Kind, das er zur Stube hinausgeworfen hatte und das in der Ecke des Saales unbeweglich stand. Er verlangte mit Heftigkeit etwas von ihm, das es, wie wir aber hörten, zu tun sich weigerte. Er holte darauf eine Peitsche und schlug unbarmherzig auf das Kind zu, es rührte sich nicht, verzog das Gesicht kaum, und es überfiel uns ein Mitleiden, daß wir herunterliefen und uns in die Sache mischten. Der ergrimmte Mann schalt nunmehr auf uns und schlug immer zu, bis er endlich, von uns aufgehalten, seinen Unwillen in einen ungeheuren Strom von Worten ausgoß. Er schrie, stampfte und schäumte, und soviel wir verstehen konnten, hatte das Kind sich geweigert zu tanzen und war weder mit Bitten noch mit Gewalt zu bewegen gewesen. Es sollte auf das Seil, es tat es nicht, viele hundert Menschen waren herbeigelaufen, den angekündigten Eiertanz zu sehen, man forderte ihn laut, aber vergebens. Der Unternehmer ward rasend, da das Publikum unwillig auseinanderging und unter diesem Vorwande nicht bezahlte. ,Ich schlage dich tot’, rief er aus, ,ich lasse dich auf der Straße liegen, du magst auf dem Miste sterben, du sollst von mir keinen Bissen mehr nehmen!’ Unsere Direktrice, die dabeistund und lange ein Aug auf das Kind gehabt hatte, weil das Mädchen, welche sonst die Fiamette in der ,Gouvernante’ spielte, ihr vor kurzem entführt worden war und uns auch ein Kammermädchen abging, wozu sie es zu brauchen glaubte, war gleich mit ihren gewöhnlichen Kunstgriffen hinter dem erzürnten Manne her und suchte ihn zu überreden, das beste sei, er gäbe das Kind weg. Sie erreichte auch ihre Absicht, und in der ersten Hitze überließ er das Geschöpf mit der Bedingung, daß man eine gewisse Summe für ihre Kleider bezahlen sollte, die ziemlich hoch angeschlagen waren. Madame de Retti, nicht faul, bezahlte das Geld auf der Stelle und nahm die Kleine mit auf ihre Stube. Es verging keine Stunde, als es den Seiltänzer reute und er das Kind wiederhaben wollte. Unsere Prinzipalin wehrte sich tapfer, sie drohte, daß, wenn er noch einen Augenblick drauf bestünde, so wollte sie seine Grausamkeit gegen das Kind bei dem Oberamtmann anzeigen, der ein sehr gerechter und strenger Mann sei, und er sollte gewiß nicht mit heiler Haut davonkommen; dadurch ließ er sich abschröcken, und nach einigem Wortwechsel blieb das Kind unser. Es hat uns aber schon hundertmal gereut, daß wir uns der Kreatur angenommen haben. Sie ist uns zu gar nichts nütze. Auswendig lernt sie sehr geschwind, spielt aber erbärmlich. Es ist nichts aus ihr zu bringen. Sie ist sehr dienstfertig, tut nur eben das nicht, was man von ihr verlangt; wir hätten sie hundertmal selbst prügeln mögen. Den ersten Morgen, als sie bei uns geschlafen hatte, kam sie in den Knabenkleidern, in denen Sie sie gesehen haben, hervor und ist bisher nicht zu bewegen gewesen, sie abzulegen. Als unsere Direktrice sie halb im Scherze und halb im Ernste fragte, wie sie nun das ausgelegte Geld wieder ersetzen wollte, antwortete sie: ,Ich will dienen!’ Und von der Zeit an leistet sie unverlangt der Direktrice und der ganzen Gesellschaft alle Dienste, auch die niedrigsten, mit einer Eile, einer Pünktlichkeit, mit einem guten Willen, der uns wieder mit ihrem halsstarrigen Wesen, mit ihren schlechten Talenten zum Theater aussöhnt."

Wilhelm verlangte, sie näher zu sehen, und Melina ging, sie zu holen. "Du hast dem Herren", sagte Frau Melina, als das Kind hereintrat, "diesen Morgen nicht gedankt." Es blieb an der Türe stehen, als wenn es gleich wieder hinausschlüpfen wollte, legte die rechte Hand vor die Brust und die linke vor die Stirne und bückte sich tief: "Tritt näher, liebe Kleine", sagte Wilhelm. Sie sah ihn mit unsicherm Blick an und kam herbei.

"Wie nennst du dich? " fragte er. "Sie heißen mich Mignon", antwortete sie. "Wieviel Jahre hast du?" – "Es hat sie niemand gezählt." – "Wer war dein Vater?" – "Der große Teufel ist tot." Die letzten Worte erklärte man ihm, daß ein gewisser Springer, der vor kurzem gestorben und sich den großen Teufel nannte, für ihren Vater sei gehalten worden. Sie brachte ihre Antworten in einem gebrochenen Deutsch und mit einer Art vor, die Wilhelmen in Verwirrung setzte, dabei legte sie jedesmal die Hände an Brust und Haupt und neigte sich tief.

"Was soll nun diese Gebärde bedeuten", sagte Frau Melina, "das ist wieder etwas Neues, so hat sie alle Tage etwas Sonderbares." Sie schwieg, und Wilhelm konnte sie nicht genug ansehen. Seine Augen und sein Herz wurden unwiderstehlich von dem geheimnisvollen Zustande dieses Wesens angezogen. Er schätzte sie zwölf bis dreizehn Jahre. Ihr Körper war gut gebaut, nur daß ihre Knöchel und Gelenke einen stärkern Wachstum versprachen oder einen zurückegehaltnen ankündigten. Ihre Bildung war nicht regelmäßig, aber auffallend, ihre Stirne kündigte ein Geheimnis an, ihre Nase war außerordentlich schön und der Mund, ob er schon ein wenig aufgeworfen war und sie manchmal mit demselben zuckte, doch noch immer treuherzig und reizend. Ihre Gesichtsfarbe war bräunlich, mit wenigem Rot ihre Wangen besprengt, überhaupt von der Schminke sehr verdorben, die sie auch jetzo nicht anders als mit dem größten Widerwillen auflegte. Wilhelm sah sie noch immer an und schwieg und vergaß der Gegenwärtigen über seiner Betrachtung. Frau Melina weckte ihn, indem sie dem Kinde ein Zeichen gab, das nach einem Bücklinge wie oben blitzschnell zur Türe hinausfuhr.
Wilhelm konnte diese Gestalt nunmehr nicht loswerden. Er hätte gerne immerfort gefragt und immerfort von ihr erzählen hören, als Frau Melina es nun für genug hielt und das Gespräch auf ihr eigen Talent, Spiel und Schicksal brachte.
Eckermann: Gespräche mit Goethe


Dichtung und Wahrheit

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