Fünftes Buch
Eine ihrer vorzüglichsten Unterhaltungen, womit sie sich am meisten ergötzten, war ein extemporiertes Spiel, in welchem sie ihre bisherigen Gönner und Wohltäter nachahmten und durchzogen. Einige unter ihnen hatten sich sehr gut die Eigenheiten des äußern Anstandes verschiedener vornehmer Personen gemerkt, und die Nachbildung derselben wurde von der übrigen Gesellschaft mit dem größten Beifall aufgenommen. Philine produzierte aus dem geheimen Archive ihrer Erfahrungen einige besondere Liebeserklärungen, die an sie geschehen waren. Als Wilhelm sie darüber schalt, nahm der Klügste das Wort und versetzte: "Man hat uns für unser Spiel bezahlt und genährt, sonst aber wüßte ich nicht, daß ihr Betragen gegen uns eine sonderliche Schonung verdiente." Diese Worte waren das Signal, auf welches ein jeder anfing, sich zu beschweren, wie wenig Achtung man ihm erzeigt, wie sehr man ihn zurückgesetzt habe. Sie spotteten dann über das Betragen der Standspersonen, auch unter sich, über ihre zeitverderbende Beschäftigungen und wurden immer bittrer und ungerechter.
"Ihr dünkt euch sehr viel", versetzte Wilhelm, "und weil manches Wahre in euern Beobachtungen ist, so bemerkt ihr den Irrtum nicht, den ihr begeht, indem ihr diese Personen und ihre Handlungen aus einem allzu niedrigen Gesichtspunkte betrachtet. Ich kann auch nicht sagen, daß ich auf dem Schlosse sonderlich erbaut worden wäre, vielmehr hab ich Gelegenheit gehabt, gewisse Ideen zu berichtigen, welche ich verständigen Freunden schuldig bin. Personen, welche schon durch ihre Geburt auf einen erhabenen Platz der menschlichen Gesellschaft gesetzt sind, denen ererbte Reichtümer eine vollkommene Leichtigkeit ihres Daseins verschaffen, welche, wenn ich mich so ausdrücken darf, mit allem Beiwesen der Menschheit bequem und reichlich versehen sind, gewöhnen sich meistens, diese Güter als das Erste und Größte zu betrachten, und verlieren den Begriff des Wertes einer von der Natur allein ausgestatteten Menschheit. Nicht nur ihr Betragen gegen Geringere, sondern auch ihr Betragen untereinander ist nach äußern Vorzügen abgemessen, sie erlauben gerne einem jeden, seinen Titel, seinen Rang, sein Vermögen, seine Kleider und Equipage, nur nicht seine Verdienste geltend zu machen."
Diesen Worten gab die ganze Gesellschaft einen unmäßigen Beifall, und sie ließen sich in mancherlei Geschichtchen heraus, die seine Meinung auf das kräftigste unterstützen sollten. "Scheltet sie nicht darüber, bedauret sie vielmehr; denn von jenem Glücke, das wir für das höchste erkennen müssen, weil es aus den innern Reichtümern der Natur genommen wird, haben sie selten eine erhöhte Empfindung. Nur uns Armen, die wir wenig oder nichts besitzen, ist es gegönnt, das Glück der Freundschaft in reichem Maße zu genießen. Wir können unsere Geliebten weder durch Gnade erheben, noch durch Gunst befördern, noch durch Geschenke beglücken; wir haben nichts als uns selbst. Dieses ganze Selbst müssen wir hingeben und, wenn es einigen Wert haben soll, dem Freunde dieses Gut auf ewig versichern. Welch ein Glück! welch ein Genuß für den Geber und Empfänger! welch überirdische Glückseligkeit gewährt uns die Treue! Sie gibt dem vorübergehenden Zustande des Menschen gleichsam eine himmlische Gewißheit. Diese ist es, die unsere ganze Glückseligkeit ausmacht, die das Hauptkapital unseres Reichtums ist."
Mignon hatte sich ihm unter diesen Worten genähert, schlang seine zarten Arme um ihn und blieb so mit dem Köpfchen unter seine Brust gelehnt stehen. Er legte die Hand auf des Kindes Haupt und fuhr fort: "Wie leicht wird es einem Großen, sich die Gemüter zu gewinnen, sich Herzen zuzueignen! Ein gefälliges, bequemes, nur einigermaßen menschliches Betragen tut Wunder, und wie viele Mittel hat er, die einmal erworbenen Geister festzuhalten! Uns kommt alles seltner, wird alles schwerer, und wie natürlich ist es, daß wir einen großen Wert darauf legen! Welche rührende Beispiele treuer Diener, die sich für ihre Herren aufopferten! Wie schön hat uns Shakespeare solche geschildert! Ich sehe die Treue in diesem Falle als ein Bestreben einer edlen Seele an, einem Größern gleich zu werden. Durch fortdauernde Anhänglichkeit und Liebe wird der Diener seinem Herrn gleich, der ihn sonst nur für einen bezahlten, verachteten Sklaven anzusehen berechtigt ist. Und so sind die Tugenden nur für den geringen Stand. Die Bequemlichkeit, sich leichte loskaufen zu können, ist zu groß, als daß der Mensch ihr nicht unterliegen sollte. Ja, in diesem Sinne glaube ich behaupten zu können, daß ein Großer wohl Freunde haben, aber nicht Freund sein könne."
Mignon drückte sich immer fester an ihn an.
"Nun gut", versetzte einer aus der Gesellschaft, der nicht eben der Feinste war, "wir brauchen ihre Freundschaft nicht und haben sie auch niemals verlangt, nur sollten sie sich besser auf die Künste verstehen, die sie doch beschützen wollen. Wenn wir am besten gespielt haben, hat uns niemand zuhören mögen, und meistens hat man nur dem Albernen und Abgeschmackten Aufmerksamkeit und Beifall geschenkt." – "Wenn ich abrechne", versetzte Wilhelm, "was Schadenfreude und Ironie gewesen sein mag, so denke ich, geht es mit der Kunst eben wie mit der Liebe. Wie will der Weltmann in seinem zerstreuten Leben die Innigkeit behalten, in der ein Künstler bleiben muß, wenn er etwas Vollkommnes hervorbringen will, und die selbst denjenigen umgeben muß, der einen solchen Anteil am Werke nehmen will, wie ihn der Künstler wünscht und hofft. Glaubt mir, meine Freunde, es ist mit den Talenten wie mit der Tugend, man muß sie um ihrer selbst willen üben oder sie lieber ganz aufgeben, und doch werden sie beide nicht anders erkannt und belohnt, als wenn man sie gleich einem gefährlichen Geheimnis im verborgenen und beinahe furchtsam treibt." – "Unterdessen kann man Hungers sterben", rief einer aus der Ecke. "Nicht eben das", versetzte Wilhelm, "ich habe gesehen, solange einer lebt und sich rührt, findet er immer seine Nahrung, und wenn sie auch gleich nicht die reichlichste ist. Und worüber habt ihr euch denn zu beschweren? Sind wir nicht ganz unvermutet, eben da es mit uns am schlimmsten aussah, gut aufgenommen und bewirtet worden? Und jetzo, da es uns noch an nichts gebricht, fällt es uns denn ein, etwas zu unserer Übung zu tun und uns einigermaßen nach einer Art von Vollkommenheit in der Kunst zu bestreben? Wir treiben fremde Dinge und entfernen gleichwie Schulkinder alles, was uns nur an unsere Lektion einigermaßen erinnern könnte."
"Wahrhaftig", sagte Philine, "es ist wahr und unverantwortlich! Hört ihr sechse schlagen? Laßt uns ein Stück wählen, wir wollen es auf der Stelle spielen. Jeder muß sein möglichstes tun, als wenn er für dem größten Auditorio stünde." Man überlegte nicht lang, einige pfiffen eine Symphonie, jeder besann sich schnell auf seine Rolle, man fing an und spielte mit der größten Aufmerksamkeit das Stück durch, würklich über die Erwartung eines jeden, auch Wilhelms, der als Zuschauer sich nicht enthalten konnte, mehr als einmal zu klatschen und bravo zu rufen. Als sie geendigt hatten, empfanden sie alle ein ausnehmendes Vergnügen, teils über ihre wohl zugebrachte Zeit, teils weil jeder besonders mit sich zufrieden sein konnte. Wilhelm ließ sich weitläufig zu ihrem Lobe heraus, ihre Unterhaltung war aufgeheitert und fröhlich.
"Ihr solltet sehen", rief unser Freund aus, "wie weit wir kommen müßten, wenn wir in dieser Übung fortführen, welches Genügen wir dabei empfinden würden. Ich habe oft die Tonkünstler gegen die Schauspieler gehalten. Jene können sich nicht mehr ergötzen, als wenn sie gemeinschaftlich ihre Übungen vornehmen. Wie sehr bemühen sie sich nicht, ihre Instrumente übereinzustimmen, die Stärke und Schwäche des Tons so auszudrücken, wie es der Stimme gemäß ist, die man ihnen zugeteilt hat. Nur der Ungeschickteste würde glauben, sich bei dem Solo eines andern durch ein unerlaubtes Akkompagnieren Ehre zu machen. Jeder ist auf den Sinn des Komponisten gerichtet und trägt für sein Teil alles dazu bei, ihn auszudrücken; es sei viel oder wenig, was er dabei zu tun hat. Sollten Schauspieler dieses nicht eben untereinander vornehmen können? ihr größtes Glück und Vergnügen dareinsetzen, sich untereinander selbst zu gefallen und auch nur insofern den Beifall des Publici zu schätzen, als er einer geschmackvollen Ausführung zuteil würde, die sie sich gleichsam untereinander selbst garantiert haben? Alle die Kleinheiten, die diese edle Kunst zu einem Handwerke erniedrigen, werden wegfallen, man wird nicht mehr um Rollen streiten, man wird nicht mehr an unrechten Orten zu glänzen suchen, man wird seinem Part genugtun und für den geringsten belohnt sein. Wie glücklich müßte sich der Direktor einer solchen Vereinigung schätzen! Er müßte der Sache wohl kundig sein, einen jeden auf seine Fähigkeiten aufmerksam zu machen wissen, selbst nur die Rollen, denen er gewachsen, übernehmen, sich kein ausschließlich Recht über diese und jene Gattung anmaßen, sowie dieses sich auch kein anderer erlauben dürfte; jeder bliebe doch zuletzt, wohin ihn sein Naturell führte, worinnen die Übung ihn bestätigte, und auf diesem Posten würde er leicht von jedem andern erkannt werden. Gewiß, unter Guten ist die republikanische Form die beste und die einzige. Wenn ich etwas bei einer solchen Einrichtung zu sagen hätte, so müßte das Amt eines Direktors herumgehen und eine Art von kleinem Senate ihm beigesetzt bleiben." – "Was hindert uns", riefen sie aus, "gleich einen solchen Versuch zu machen? Wir sind alle zusammen freie Menschen, wir haben keine Verbindung noch Verbindlichkeit. Lassen Sie uns wenigstens diese idealische Republik auf der Reise, die uns noch bevorsteht, bilden." – "Es ist ein wanderndes Reich", sagte einer, "wir werden wenigstens keine Grenzstreitigkeiten haben." Man schritt sogleich zur Sache, man erwählte Wilhelmen zum ersten Direktor, der Senat ward bestellt, die Frauen erhielten darinne Sitz und Stimme, man schlug Gesetze vor, man verwarf, man genehmigte sie, die Zeit ging unvermerkt vorüber, und man glaubte sie noch niemals so angenehm zugebracht zu haben.
Eckermann: Gespräche mit Goethe
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