Viertes Buch
Indessen hatte das Publikum mit großem Verlangen den folgenden Tag erwartet, wo die Gesellschaft versprach, das Trauerspiel zu wiederholen. Und auch diesmal hätte die Bude um vieles größer sein müssen, wenn sie die Menge der Zudringenden hätte fassen wollen. Denn es war in der Stadt kein Zweifel, daß der neue Schauspieler in der Rolle des Darius sich wieder zeigen würde, ob es gleich in Wilhelms Herzen ausgemacht blieb, daß er nie das Theater wieder betreten wolle, und Monsieur Bendel sich das Heldenkleid schon erweitern und auf seinen Leib, wie es erst war, hatte richten lassen. Die Prinzipalin war so klug und ließ die Namen der spielenden Personen nicht, wie sonst gewöhnlich, auf den Zettel setzen, wodurch die Neugierde noch mehr erregt und jedermann in seinen Gedanken bestärkt wurde.
Für Wilhelmen war es ein verdrießlicher Tag. Er mußte sich von Madame Melina vorklagen lassen, wie übel das Stück heute gehen werde, und von ihrem Manne besorgliche Vorwürfe hören, daß er den guten Rat nicht befolgt und die Prinzipalin wegen Wiederbezahlung des Geldes nicht schärfer gefaßt hätte. Er wurde darüber so ärgerlich, daß er wünschte, niemalen den Ort betreten zu haben. Er schalt sich selbst, daß er das Geld nicht heute früh von der Prinzipalin auf einmal zu erhalten gesucht, da er denn seinem Herzen folgen und noch diesen Abend hätte abreisen können. In das Schauspiel zu gehen, konnte er sich nicht entschließen, denn er fühlte sich schon im voraus die Eingeweide umwenden, wenn das leidige Ungeheuer seine Verse herstolpern und durch Mißtöne und Mißgebärden das Publikum aus der Harmonie der Empfindung herausnötigen würde. Er blieb deswegen auch des Abends, da sich alles rüstete und wegging, still auf seinem Zimmer, um mit dem Wirte abzurechnen und ihn zu bezahlen.
Kaum war in dem Hause alles stille geworden, so trat Mignon mit einem angezündeten Lichte herein, worüber sich Wilhelm verwunderte, weil es noch Tag war. Er hatte nicht Zeit, um die Ursache zu fragen, denn das Kind machte den Fensterladen zu, wodurch es in dem Zimmer ganz dunkel wurde, und ging schnell wieder hinaus. Nach einer kurzen Zeit tat sich die Türe wieder auf, und der Kleine trat herein. Er trug einen Teppich unter dem Arme, den er auf der Erde ausbreitete. Wilhelm ließ ihn gewähren. Er brachte darauf vier Lichter, stellte sie an jede Ecke. Ein Körbchen mit Eiern, das er holte, machte Wilhelmen die Absicht deutlicher. Künstlich abgemessen schritt sie nunmehr den Teppich hin und her und legte in gewissem Maße die Eier voneinander, dann rief sie einen Menschen herein, der bei der Truppe war und die Violine spielte. Er trat mit seinem Instrumente in die Ecke, sie verband sich die Augen, gab das Zeichen und fing zugleich mit der Musik wie ein aufgezognes Uhrwerk an, indem sie Takt und Melodie mit dem Schlage der Kastagnette begleitete. Behende, leicht, rasch, präzis führte sie den Tanz. Sie trat so scharf und so sicher zwischen die Eier hinein, bei den Eiern nieder, daß man in dem Augenblicke dachte, sie müsse eines zertreten oder bei schnellen Wendungen fortschleudern. Mitnichten! Sie berührte keines, ob sie gleich mit allen Arten von Schritten, engen und weiten, ja sogar mit Sprüngen und zuletzt halb kniend sich durch die Reihen durchwand.
Unaufhaltsam wie ein Uhrwerk lief sie ihren Weg. Und die sonderbare Musik gab dem immer wieder von vorne anfangenden und losrauschenden Tanze bei jeder Wiederholung einen neuen Stoß. Wilhelm war von dem sonderbaren Schauspiele ganz hingerissen, vergaß seiner Sorgen, er folgte jede Bewegung der geliebten Kreatur und war verwundert, wie in diesem Tanze sich ihr Charakter vorzüglich entwickelte. Streng, scharf, trocken, heftig und in sanften Stellungen mehr feierlich als angenehm. Er empfand, was er alles für Mignon gefühlt, in diesem Augenblicke auf einmal. Er sehnte sich, dieses verlassene Wesen an Kindes Statt seinem Herzen einzuverleiben, es in seine Arme zu nehmen und mit der Liebe eines Vaters Freude des Lebens in ihm zu erwecken.
Der Tanz ging zu Ende, sie rollte die Eier sachte mit den Füßen zusammen auf ein Häufchen, ließ keines zurück, beschädigte keines und stellte sich dazu, indem sie die Binde von den Augen nahm und ihr Kunststück mit einem Bücklinge endigte.
Wilhelm dankte ihr, daß sie ihm den Tanz, den er so lange zu sehen gewünscht, so artig und unvermutet vorgetragen, streichelte sie und bedaurte, daß es ihr sauer und warm geworden sei, versprach ihr ein neues Kleidchen, worauf sie heftig antwortete: "Deine Farbe!" und da er es ihr versprach, nahm sie die Eier zusammen, nachher ihren Teppich, fragte, ob er noch etwas zu befehlen hätte, und sagte ihm, sie wolle nach dem Schauspielhause gehen. Er erfuhr von dem Musiko, daß sie sich seit einiger Zeit viele Mühe gegeben, ihm den Tanz vorzusingen, bis er ihn habe spielen können, auch habe sie ihm für seine Bemühung etwas Geld angeboten, das er aber nicht nehmen mögen.
Eckermann: Gespräche mit Goethe
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