Viertes Buch
In dem Augenblicke, als Wilhelm angekleidet war und zu der Prinzipalin hinübergehen wollte, erhielt er ein Billett von seinem Freunde, dem Herrn von C., der ihn mit großer Lebhaftigkeit des Enthusiasmus und der Überraschung wegen des gestrigen Stückes und seines unvermuteten Spieles pries und ihn zugleich auf den Abend einlud, er wolle ihn zu ein paar vortrefflichen Frauenzimmern führen, die, um das Trauerspiel zu sehen, von ihren Gütern in die Stadt gekommen seien und sehr wünschten, seine nähere Bekanntschaft zu machen. Er antwortete mündlich, daß er aufwarten wolle, und ging nach dem Zimmer der Madame de Retti.
Vor der Türe hörte er, daß sie in einem heftigen Streite befangen war, und er erkannte gar bald die Stimme des Herrn Bendel, der sich gegen sie gar unartig bezeigte. Sie hörte nicht, als Wilhelm anpochte, und da er die Türe eröffnete, konnte er noch ganz deutlich die Worte des rohen Menschen verstehen, der ausrief: "Genug, Sie hätten sich nicht so zu eilen brauchen, Sie konnten ja ein anderes Stück geben, und morgen würde ich schon selbst gespielt haben." Die Ankunft des Dritten unterbrach seine Heftigkeit, Wilhelm grüßte ihn und erfreute sich, ihn wohl zu sehen, dagegen der Grobian nur einige unverständliche Worte brummend versetzte, ein Kästchen, das auf dem Tische stand, untern Arm nahm, hinausging und die Türe hinter sich zuschlug.
"Ich wünschte", sagte Madame de Retti, "daß Sie diese Rolle von Anfange gleich übernommen und Monsieur Bendel sie gar nicht memorieret hätte; jetzt ist er verdrießlich, daß Sie sie vor ihm gespielt haben." – "Er wird Zeit genug finden, sie nach mir zu spielen", versetzte Wilhelm. "Ich habe schon zu lange verweilt, meine Geschäfte nötigen mich weiterzugehen, ich bin gekommen, es Ihnen zu eröffnen und zu bitten, daß Sie mir das Meinige, womit ich Ihnen bisher gerne ausgeholfen, wieder ersetzen, besonders da die gestrige Einnahme beinahe dazu hinreichen wird." – "Ich weiß selbst noch nicht", sagte die Prinzipalin, "wieviel eingekommen ist, ich habe soeben Herrn Bendel die Kasse gegeben, um das Geld zu sortieren und zu zählen. Gegen Abend werde ich Ihnen davon Rechenschaft geben können." – "Madame", versetzte Wilhelm, "ich wünschte, daß Sie die Kasse wieder holen ließen; ich erbiete mich, das Geschäfte selbst zu übernehmen, in einer Stunde soll alles gemacht sein." – "Sie werden gegenwärtig nicht in mich dringen", versetzte die Prinzipalin, "ich bin unserm Wirte eine ansehnliche Rechnung schuldig, und wenn ich noch einigen Kredit von ihm hoffen will, so muß ich diese sogleich abzahlen." – "bedenken Sie, Madame", versetzte Wilhelm, "daß meine Schuld nicht minder dringend ist, denn ich kann mich nicht einen Tag länger hier aufhalten." – "Ich mute Ihnen das auf keine Weise zu", sagte Madame, "lassen Sie mir Ihre Adresse, und ich verspreche, es mit nächstem nachzuschicken." – "Ich kann hierin nicht nachgeben", fiel er ein, "überlegen Sie, daß mir die ganze Garderobe, Dekorationen und alles, was nur zum Theater gehört, als Pfand verschrieben ist, und es sollte mir leid sein, wenn Sie mich nötigten, mich meines Rechts zu bedienen." – "Wären Sie fähig", rief Madame de Retti mit großer Heftigkeit aus, indem sie eine Rolle Papier, die sie bisher in der Hand geführet, auf den Tisch warf und die Stube auf und ab ging, "wären Sie fähig, so hart und ungerecht gegen mich zu sein?" – "Ich sehe nichts Unbilliges", versetzte Wilhelm, "wenn ich zu dem Meinigen zu gelangen suche." – "Nein", rief sie aus, indem sie mit der Hand vor die Stirne schlug, "nein, so etwas dachte ich nicht zu erleben! Wie sehr habe ich Sie bisher verkannt! wie sehr in Ihnen geirrt! Ich vergebe es Ihnen nicht, solang ich lebe!" Sie fuhr noch mit lebhaftem Verdrusse fort, sich über sein Betragen zu beschweren und ihn fühlen zu lassen, wie sehr beleidigt sie durch seine Forderung sei. Wilhelm stand ganz erstaunt, denn seiner Empfindung nach war er eigentlich der beleidigte Teil; er hatte sich zu beschweren, er hatte zu verzeihen! Und er kam sich selbst ganz wunderbar vor, indem er Madame zu besänftigen suchte und ihr versicherte, daß es seine Absicht gar nicht gewesen sei, sie zu erzürnen und ihr Verdruß zu machen. "Damit Sie sehen", versetzte sie, "daß es mir Ernst ist, so will ich gleich mit einer abschläglichen Zahlung den Anfang machen und Ihnen fünfundzwanzig Taler von der gestrigen Einnahme geben und ebensoviel von einer jeden folgenden, bis Kapital und Interessen abgetragen sind. Denn glauben Sie nicht", versetzte sie mit einem stolzen Tone, ""daß ich gern jemanden etwas schuldig bleibe!" Unser guter Freund war betäubt und beschämt; auf seinen Vorteil genau zu sein, hatte er nie gelernt, er vergaß also den guten Rat des Herrn Melina, den leeren Raum seiner eigenen Kasse und ließ es bei ihrem Anerbieten bewenden, ohne es abzuschlagen oder anzunehmen. Und Madame de Retti war so klug, ihm, als er auf sein Zimmer ging, sogleich die versprochene Abschlagssumme nachzuschicken.
Herr Melina, dem Wilhelm von dem Ausgange dieser Sache, obgleich wider Willen, Nachricht gab, war höchst mißvergnügt über die Gefälligkeit, über die Nachlässigkeit und besonders darüber, daß, wenn er ja eine abschlägliche Zahlung hätte annehmen wollen, er sich nicht größere Summen ausgemacht und die noch bevorstehende Handwerkszettel an sie gewiesen habe. Über die Unzufriedenheit ihres Gemahls kam Madame Melina ganz aus der Fassung und konnte alles Angenehme, worauf sie sich vorbereitet hatte, ihrem theatralischen Freunde kaum zum hundertsten Teile sagen, und ihre schönsten Gedanken mußten ökonomischen Gesinnungen Platz machen. Herr Melina sann hin und her, wie er der Sache eine andere Wendung geben könnte; alleine Wilhelm wollte sich nicht entschließen, nach einmal mit der aufgebrachten Prinzipalin anzubinden.
Nach Tische kamen, wie man vorausgesehen hatte, einige Handwerksleute, die bezahlt sein wollten. Man schickte sie nach Herrn Melinas Rat an die Prinzipalin, die sie aber mit Protest wieder zurückgehen ließ, versicherte, sie habe von dem allem nichts bestellt, sie möchten sich an den Herrn halten, der es angeordnet habe. So bedeutet kamen sie wieder herüber, und Wilhelm bat nur, daß sie sich bis den andern Morgen gedulden möchten, wo er alles in Ordnung bringen wollte.
Abends ging er zu seinem Freunde, der ihn in eine sehr angenehme Gesellschaft brachte. Jedermann und besonders ein paar Frauenzimmer von vortrefflichen Eigenschaften bemühten sich um ihn und konnten nicht genug loben, wie glücklich er sie gestern und auf eine große Zeit gemacht habe. Man sprach viel von dem Stücke, ging es einzeln durch und bezeugte sich auch mit der Übereinstimmung der Dekoration, der Kleider zufrieden; ja sogar des grünen Teppichs ward nicht vergessen, daß Wilhelm vollkommen vergnügt hätte sein können, wenn ihn nicht alle diese gepriesene Gegenstände an die Verlegenheit erinnert hätten, in der er sich ihrentwegen schon heute befunden und noch mehr sich morgen befinden werde. Und so wurde der ganze schöne Genuß, der ihm bereitet war, durch die bösen Geister der Sorgen ihm von den Lippen weggenommen.
Eckermann: Gespräche mit Goethe
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