Zehntes Kapitel
Wilhelm kam nunmehr in die Jahre, wo die körperliche Kräfte sich meist zu entwickeln anfangen und wo man oft nicht begreifen kann, warum ein witziges und munteres Kind zusehends dumpf und unbetulich wird. Er las nunmehro viel und fand in Komödien immer seine beste Befriedigung, und was er von Romanen las, konnte er nicht umhin, in seinem Sinne zu Schauspielen umzubilden. Er war in dem Wahn, daß alles, was in der Erzählung ergötze, vorgestellt noch viel treffender sein müsse. Auch wenn er etwa den Abriß einer Welt- und Staatengeschichte in der Schule durchlesen mußte, zeichnete er sich sorgfältig aus, wo einer auf eine besondere Weise erstochen oder vergiftet wurde, weil sich, nach seiner Vorstellung, dieses zu einem fünften Akt gar trefflich qualifizierte, denn die vier vorhergehende bracht er in seinen Kompositionen nicht leicht in Anschlag, weil er sie in keinem Stück jemals gelesen hatte. Seine Kameraden, die in den Geschmack vom Agieren gekommen waren, veranlaßten ihn manchmal, Rollen auszuteilen, und er, der eine sehr lebhafte Vorstellungskraft hatte und sich in alle Rollen denken konnte, glaubte, er könne sie auch alle vorstellen; er nahm daher meistens die sich am wenigsten für ihn schickten, und, wenn's nur einigermaßen angehen wollte, gewöhnlich ein paar Rollen. Es ist ein Zug der Kindheit, aus allem alles machen zu können, sich die augenscheinlichsten Quiproquos nicht irren zu lassen. So spielten unsere Knaben fort, und jeder dünkte sich genug. Sie führten erst Stücke von bloß Mannspersonen auf, deren es nun nicht viel gibt, verkleideten nun bei andern einige aus ihrem Mittel und zogen zuletzt die Schwestern mit ins Spiel. In einigen Häusern sah man's als eine nützliche Beschäftigung an, lud Gesellschaften drauf. Ein verwandter Hagestolz, der sich Kenner zu sein ausgab, mischte sich drein, lehrte sie, wie sie sich stellen, deklamieren und abgehen sollten, mit welchem Unterricht Wilhelm meist übel zufrieden war, weil er sich dünkte, es immer noch besser zu machen als der es anwies. Sie fielen gar bald aufs Trauerspiel, sie hatten gar oft sagen hören und glaubten es selbst, es sei leichter, ein Trauerspiel als ein Lustspiel zu machen und vorzustellen, und waren auch durchgehends bei jenem zufriedner als bei diesem, weil hier das Platte, Abgeschmackte, Unnatürliche gar schnell in die Augen fiel, dort aber sie sich selbst als erhabne Wesen vorkamen und nichts war, das ihnen das Schwülstige, Affektierte, Übertriebne ihrer tragischen Aktion mißbilligte, besonders da sie im gemeinen Leben bemerkt hatten, daß viele Personen, die nichts bedeuten, sich durch steifes Betragen und fremde Grimassen ein Ansehen zu geben glauben.
Knaben und Mädchen waren in diesem Spiele nicht lange beisammen, als die Natur sich zu regen und die Gesellschaft sich in verschiedene kleine Liebesgeschichten zu teilen anfing, da denn meistenteils Komödie in der Komödie gespielt ward. Die glücklichen Paars kneipten sich hinter den Theaterwänden die Finger fast ab und verschwammen in Glückseligkeit, wenn sie sich einander so geschminkt und aufgebändert noch einmal so idealisch und schön vorkamen, indes gegenüber auf der andern Seite die unglückliche Nebenbuhler sich für Neid verzehrten und oft in kindischem Trotz und Schadenfreude ein- und andre Stellen verdarben oder verderben machten. Bei solchen Gelegenheiten zeigte sich immer Wilhelms Direktorialqualität in ihrem Glanze, denn wenn er in den Proben dergleichen Zwiste in Güte beizulegen suchte, nachgiebig war und über manches ein Auge zutat, wenn sie nur sonst sich Mühe gaben und ihre Rollen wohl auswendig wußten, so verstund er doch am Tage der Ausführung keinen Spaß, und sobald er in Halbstiefeln, in königlichem Mantel und Diadem hinter dem Vorhang stund, durfte nichts Profanes und Läppisches vorfallen, und wehe dem, der ihm etwa in einer Neronischen Stimmung in die Quere kam, der wurde gewiß mit so einem gräßlichen Blick, mit so viel Würde des Arms und Festigkeit der Stimme in seine Schuldigkeit zurückgeschröckt, daß für diesmal wenigstens Ruhe ward.
Je mehr und wichtigere Stücke sie spielten, je weiter sich ihre Gesellschaft ausbreitete, desto schwerer ward Wilhelm das Amt eines Direktors, das er als Stifter mit dem besten Willen aller hergebracht hatte. Wenn ein Stück vorgeschlagen und ausgesucht war, gab's manchen Verdruß, bis sie sich in die Rollen teilten; jeder machte an die ersten, an die Liebhaber und glänzenden, Anspruch, daß Wilhelm, dem's nur drum zu tun war, daß ein Stück gespielt wurde, oft selbst zurücktrat und großmütig eine geringere nahm, nur daß er sich nicht entschließen konnte, den Vertrauten zu spielen. Wenn nun überdies gar eins und das andere in den Proben verdrießlich ward und etwa aus abgeschmacktem Trutz kurz vor dem bestimmten Tage der Aufführung seine Rolle absagte, da hatte er nun freilich alle Gelegenheit, seine Geduld, seine Nachgiebigkeit, seine Überredensgabe zu üben. Es ging denn doch. Sein Eifer, seine Unverdrossenheit, seine Liebe zur guten Sache, die durch die leidlichste Eigenliebe genährt wurde, die Treue, womit die Vorzüglichsten von der Gesellschaft an ihn gebunden waren, erleichterten ihm alle Mühe, und wie sollte der nicht seinen Vorsatz zustande bringen, der, sobald davon die Rede war, keine andre Leidenschaft hatte, durch nichts abseits gebracht werden konnte, sondern der auf seinen vorgesetzten Zweck mit der möglichsten Gradheit und dem besten Mute losging und die Mitwanderer durch Freundlichkeit und Gutheit auf seinen Pfad lockte.
Ein besonder Schicksal war's, das hierin Wilhelms guten natürlichen Eigenschaften zu Hülfe kam, daß keine von den Mädchen, für die er zeitig genug eine Neigung empfand, mit von der theatralischen Gesellschaft sein konnten; seine Liebe zum Theater blieb ganz rein, und er konnte es ohne Mitwerben ansehen, wenn jeder von den andern seine Prinzessin auf den Thron setzen wollte. Diese Unparteilichkeit mehrte das Zutrauen der Seinigen, und öfters beruhigten sie sich bei seiner Entscheidung, die sie in unzuvergleichenden Fällen anzugehen pflegten.
Eckermann: Gespräche mit Goethe
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