> Gedichte und Zitate für alle: Joseph Collin: Untersuchungen über Goethes Faust ....Entstehungszeit der Wagnerscene. (8)

2019-10-11

Joseph Collin: Untersuchungen über Goethes Faust ....Entstehungszeit der Wagnerscene. (8)




Entstehungszeit der Wagnerscene.

Die Frage nach der Entstehung dieser Scene ist im allgemeinen schon durch die vorhergegangene Erörterung beantwortet. Es kann danach kein Zweifel sein, daß die in dem Kampfesjahre von 1772 gewonnene lebendige Erfahrung die Farbe zu dem Bilde geliefert hat, was der Dichter, auch hier noch streitend, von der Gelehrsamkeit der Zeit entworfen hat. Damit ist diese Scene in eine Reihe gestellt mit den ausgeführten Satiren, die meist in der Nachwirkung des Kampfes von 1772 noch aus jener Streitlaune heraus und unter dem Einfluß Herderischen Humors entstanden sind. Wir sind demnach von selbst auf die Jahre 1773 und 1774 hingewiesen. Es fragt sich also, ob in der Scene bestimmte Beziehungen enthalten seien, die den Ausschlag für das eine oder das andere Jahr geben könnten. Im großen und ganzen konnte der Ideenkreis, in dem die Scene sich bewegt, als schon in den Rezensionen der Frankf. Gel. Anzeigen vorhanden nachgewiesen werden. Im ersten Teile der Scene ergaben sich Beziehungen und Anklänge zu dem 1775 entstandenen Anhang zu Mercier. Allein was Goethe damals niederschrieb, konnte er sich recht wohl schon viel früher in seinem Geiste als bestimmte Ansicht gebildet haben, um so mehr als offenbar Herders persönliche Anregung beim Straßburger Aufenthalte dazu bei mitgewirkt hatte. Im übrigen fanden sich Beziehungen mit Schriften Herders, die erst im Jahre 1774 erschienen, so den Provinzialblättern und Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit; aber bei diesen Parallelen ist von vorn herein Vorsicht geboten. Es ist ja derselbe Geist, der hier kämpft, in Herder wie in dem jungen Goethe. Dieser Geist äußert sich leicht in gleichen Wendungen und Bildern. Dazu kommt noch, daß sich die neue Richtung auch ihre Sprache geschaffen hatte; es hatte sich mit der Zeit ein fester Bestand von Worten und Wendungen gebildet, die sich mit geringen Veränderungen immer wieder benutzen ließen. So entstand leicht eine gewisse Gleichmäßigkeit im Ausdruck und im Gebrauch von Lieblingsworten und Bildern, die dazu nicht bloß von schriftlicher, sondern auch mündlicher Überlieferung herrühren konnten. Suphan hatte auf die Ähnlichkeit des merkwürdigen Ausdrucks: Schnitzel kräuseln in V. 202 = 555 mit dem von Herder in den Provinzialblättern gebrauchten: gekräuseltem Schnitzwerke hingewiesen. Ein ähnliches Bild findet sich jedoch schon früher bei Herder; es ist bereits auf die Stelle hingewiesen worden, wo er Schlözers Leitfaden ein schönes Krausgewinde aus mancherlei neuen Schriften aufgewunden nennt. Hier sind es also Fäden, die aus einem andren Gewebe aufgezogen und gekräuselt sind; auch jenes Bild vom krausen Labyrinth ist aus ähnlicher Vorstellung hervorgegangen. Ferner meint auch Herder mit seinem Schnitzwerk wohl etwas anderes als Goethe mit seinen Schnitzeln. Schnitzwerk ist Schnitzerei; gekräuseltes Schnitzwerk also eine krause Schnitzerei, die dem künstlerischen Geschmack als unnatürlich, künstlich, überladen, verworren und verwirrend erscheint. Herder denkt an die geschnitzte Handhabe eines Gefäßes, die beim Gebrauch zerbricht, wie der Bogen in Lessings Fabel. Über sie übersieht der des Einfachen und Natürlichen entwöhnte Blick die andere Handhabe, die »einfältig, stark, unzerbrechlich, wahre Handhabe« ist. Schnitzel dagegen sind Abfälle, das, was beim Schneiden oder Schnitzeln als unbrauchbar weggeworfen wird; sie sind wertlos wie die dürren Blätter des Baumes, unlebendig. Solche Abfälle werden aber gerade von jenen Nachlesern zusammengesucht. Es ist dasselbe kümmerliche Interesse, wie es nachher am Historiker verspottet wird, überall den Schutt und das Gerümpel zu sammeln. Das Zeitwort schnitzeln gebraucht Herder sonst für eine kleinliche, geistlose und künstliche Beschäftigung. So schreibt er in den Fragmenten: Die lateinische Litteratur erstickte den Geist und schnitzelte den Geschmack an Spekulationen und Unsinn—. Am Spane schnitzeln gebraucht er in der Bedeutung von kleinlichen Herumtadeln und -bessern in Zusammenhang mit am Farbenklümpchen klauben. Das Substantivum Schnitzel gebraucht dagegen Goethe sonst oft; ebenso Merck. An ihn schreibt er über Lenz: »Er hat Sublimiora gefertigt; kleine Schnitzel, die Du auch haben sollst«. (Man beachte den Gegensatz zwischen Sublimiora und Schnitzel!); ein andermal: »so schnitzelweis genießt kein Mensch was«. Wieland an Merck am Allerheiligentag 1779: Rezensionsschnitzel; dafür auch Schnitzen; einmal: Die neuerlich übersandten Schnitzen, wie du es nennst, (also als ein Merckischer Ausdruck!) Der Ausdruck »Kräuseln« findet sich beim jungen Goethe öfters, in gebundener Rede immer im Reim auf »säuseln«; so schon in der Laune des Verliebten: »indem er sich mit dir im Reihen kräuselt,« also hier gleich sich kunstvoll drehen. Dann im Faust außer an unserer Stelle noch V. 558 = 2706. Den Sand—kräuseln = im Sand künstliche Figuren hervorbringen; am 26. Dezember 1774 schreibt er an Schlosser: »Denn der Wirbel kräuselt mir schon bei frühem Morgen das Köpfchen;« in Cäsars Charakteristik bei Lavater spricht er von dessen gekräuselter, unbestimmter und fatal zurückgehender Stirne. Bekannt ist endlich die Stelle in Claudine von Villa Bella: »Das ist doch einmal ein gescheuter Einfall von ihnen; etwas unglaubliches, daß sie wieder zur Natur kehren; denn sonst pflegen sie immer das Gekämmte zu frisieren; das Frisierte zu kräuseln; und das Gekräuselte am Ende zu verwirren, und bilden sich Wunderstreiche darauf ein«. Also auch hier: im Gegensatz zur Natur etwas Künstliches noch mehr verkünsteln. Das Eigenschaftswort kraus gebraucht der junge Goethe ebenfalls häufiger; so in seiner Rezension über Sandrart, wo er vom üppigen Auswuchs krauser Diction spricht; im Faust V. 329 (in der alten Fassung der Schülerscene): Aber sieht drin so bunt und kraus———das Compositum krausborstig in der Baukunst: und so graute mirs—vom Anblick eines mißgeformten kr. Ungeheuers; vorher ist die Rede von dem gedrechselten Puppen- und Bilderwerk, von abenteuerlichen Schnörkeln und erdrückenden Zierart, was er dann alles in jenen Worten zusammenfaßt. Kräuseln bedeutet also etwas schnörkelhaft, künstlich aufputzen und verzieren; es ist dem Klaren, Einfachen entgegengesetzt, wie etwa die Kunst der Gothik oder des Rokkoko der stillen Einfalt des Altertums. »Und es ist doch nichts wahr als was einfältig ist;« schreibt Goethe schon am 13. Februar 1769 an Fr. Oeser. Bei der Wendung Schnitzel kräuseln haben wir also die Vorstellung, die den ganzen ersten Teil der Scene durchzieht, daß etwas Inhaltleeres äußerlich künstlich aufgeputzt werde, um damit die Augen der Menschen zu bestechen. Das Goethische Bild ist also denn doch von dem Herders verschieden; die Ähnlichkeit kommt nur daher, daß es aus dem gleichen Gedankenkreise hervorgegangen ist, der sich bei seinem geistigen Zusammengehören auch ähnlicher Wendungen und Bilder bediente. So findet sich z.B. in dem Entwurfe zu den Provinzialblättern, den Goethe gewiß nicht gelesen hat, eine Stelle, die an V. 175 ff. = 528 ff. deutlich anklingt: »Akteurs sollen Prediger und können nie sein; oder sie sind das schlechteste, lächerlichste Ding unter der Sonne, und unter keiner Sonne, wenn in die Kirche und auf das Theater keine Sonne scheint. Theaterillusion ist so etwas ganz anderes—doch was gehört das hierher, für den der die Sache etwas näher erwogen?« Solche grundsätzliche Anschauungen hatte aber Goethe von Herder oft genug ausgesprochen und auch durch die That bestätigt gehört.

Auch Beziehungen zu der kleinen, mit den Provinzialblättern gleichzeitig erschienenen, Schrift: Auch eine Philosophie u.s.w. sind nicht so überzeugend, daß sie viel beweisen könnten. Der Geist, der in ihr weht, ist auch schon in früheren Schriften Herders zu erkennen und war auch wohl im mündlichen Austausch der Gedanken zum Ausdruck gekommen. Suphan hat aus der erwähnten Schrift zu V. 222 f. = 575 f. die Stelle angezogen: »Philosoph, wilt Du den Stand deines Jahrhunderts ehren und nützen: das Buch der Vorgeschichte liegt vor Dir! Mit sieben Siegeln verschlossen, ein Buch voll Weissagung«. Aber ähnliches hatte Goethe selbst schon von der Geschichte der Vergangenheit gesagt; und vor beiden ihr gemeinsamer Prophet Hamann in den Sokratischen Denkwürdigkeiten: »Doch vielleicht ist die ganze Historie mehr Mythologie als es dieser Philosoph meint, und gleich der Natur ein versiegelt Buch, ein verdecktes Zeugnis. ein Rätsel, das sich nicht auflösen läßt, ohne mit einem anderem Kalbe als unserer Vernunft zu pflügen.« Aus allen spricht der gleiche Geist der neuen Gefühlsrichtung, der sich gegen die herrschende rationalistische erhebt. Ebenso wenig darf auch aus der von uns angezogenen Stelle ein Schluß auf die Abfassungszeit der Scene gezogen werden. Es sind Äußerungen gleichgestimmter Geister, die gegen dieselben Verkehrtheiten der Zeit ankämpfen.

Ein sicherer Anhalt zur genaueren Zeitbestimmung läßt sich also aus derlei Anklängen nicht gewinnen. Die Frage steht demnach noch offen, ob die Scene 1773 oder 1774 gedichtet sei. Sie erscheint nun in einem gewissen Zusammenhange mit der ersten Hauptmasse; sie ist mit ihr durch ein Übergangsmotiv verbunden, das der junge Goethe auch sonst benutzt hat. Darf man also vielleicht daraus schließen, daß sie nach und im Zusammenhang mit der ersten Hauptmasse entstanden sei? Ist dies nicht das Natürlichste? Nötig ist jedoch diese Annahme von vornherein nicht. Denn da der Stoff der Dichtung seit Jahren in dem Dichter schon lebendig war und sich mehr und mehr ausbildete, konnte ja nach einem äußerm Anstoß und je nach der Stimmung des Dichters sich bald diese, bald jene Scene aus dem in seinem Geiste bestehenden Zusammenhange loslösen und ausgestalten; ja es konnte sich sogar, wie es bei Werthers Leiden eintrat, ein besonderes kleines Werk abzweigen, an das er zunächst noch gar nicht gedacht hatte, worauf er mit um so größerer Klarheit und Bestimmtheit zu seinem Hauptwerk zurückkehrte. Wie er es später that, konnte er auch damals die Absicht sachte neben sich hergehen lassen und die gerade interessantesten Stellen ausarbeiten. Daher kommt auch, wie bei dem Volksliede das Sprunghafte in der Komposition. Dem Dichter war sein Stoff so lebendig, daß er manche Mittelglieder in der Ausführung von selbst überging. Deshalb konnte er recht wohl auch die Wagnerscene ausführen, von Anfang an in der Absicht, die erste Hauptmasse damit abzubrechen und sie unmittelbar daran anzuschließen. So hat er ja auch die Schülerscene außer allem Zusammenhang gedichtet. Der erste Monolog und die Erdgeistscene schwebten ihm dann dabei bereits im allgemeinen vor der Seele. In der unbezweifelt Goethischen Beurteilung von Lavaters Aussichten in die Ewigkeit finden wir schon eine Stelle, die sich in manchem mit dem Grundgedanken des ersten Monologs vergleichen läßt: »Wie deutlich sieht man nicht—eine Seele, die von Spekulation über Keim und Organisation ermüdet, sich mit der Hoffnung letzt, die Abgründe des Keims dereinst zu durchschauen, die Geheimnisse der Organisation zu erkennen, und vielleicht einmal da als Meister, Hand mit anzulegen, wovon ihr jetzt die ersten Erkenntnislinien nur schwebend vordämmern; eine Seele, die in dem großen Traum von Weltall, Sonnendonnern und Planetenrollen, sich über das Irdische hinauf entzückt, Erden mit dem Fuß auf die Seite stößt, tausend Welten mit einem Finger leitet und dann wieder in den Leib versetzt, für die mikromegischen Gesichte, Analogie in unseren Kräften, Beweisstellen in der Bibel aufklaubt«. Man sieht, wie das in dem Dichter bereits vorhandene Bild von Faust zur Charakteristik Lavaters mit beigetragen hat.

Kann er nicht also von Anfang an beabsichtigt haben, mit der Wagnerscene ein Gegenstück zu der Erdgeistscene zu schaffen, um den niedergedrückten Faust vor unseren Augen wieder zu erheben? Kann er nicht etwa dann sie schon in jener satirisch gestimmten Zeit des Jahres 1773 nicht lange nach den kecken Vorstößen der Fr. Gel. Anzeigen, mit denen sie in so engem Zusammenhang steht, ausgeführt haben? Man sieht also aus diesen Erwägungen, daß eine ganz bestimmte Entstehungszeit, wie es bei der ersten Hauptmasse möglich war, aus der Scene selbst nicht zu ermitteln ist. Sie kann vor wie nach jener gedichtet sein; sie kann eben so wohl im Jahre 1773 wie 1774 gedichtet sein.

Auch die Sprache bietet nicht viel Besonderes: V. 201 = 554. »Und all die Reden,« wofür die späteren Fassungen: »Ja, eure Reden« bieten. Zu der wenig glücklichen Ausdrucksweise und Versform in V. 179. 180 = 532. 533 vergleiche man aus der ersten Hauptmasse V. 144 = 496.




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