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2019-10-11

Joseph Collin: Untersuchungen über Goethes Faust ...Die Schülerscene. (9)

Joseph Collin



2. Die Schülerscene.
(V. 249-444 = 1868-2050.)

Die Schülerscene ist zunächst darum von Bedeutung, weil hier Mephistopheles zum ersten Mal auftritt. Mit der Wagnerscene, die ihr im ältesten Faust unmittelbar vorhergeht, steht sie in keiner Verbindung; sie ist vielmehr der beste Beweis, wie der Dichter auch außerhalb des Zusammenhangs das ausführte, wozu ihm das Leben den nötigen Stoff und die Anregung gegeben hatte. Die große Lücke zwischen den beiden Scenen blieb lange unausgefüllt. Das Fragment von 1790 gab nur das Endstück der Vertragsscene und den sich anschließenden kurzen Monolog des Teufels zu. Die wesentliche Arbeit bei der Vollendung des ersten Teils bestand eben in der Ausfüllung der Lücke, vor der einst der junge Goethe Halt gemacht hatte, weil es ihm damals wie auch noch später an erlebtem Stoffe und der Stimmung mangelte. Daß jedoch trotzdem zwischen der Wagner- und der Schülerscene ein innerer Zusammenhang besteht, der es begreiflich macht, weshalb der Dichter gerade diese Scene ausgeführt hat, ist bereits angedeutet worden und wird aus dem folgendem noch klarer werden.

Mephistopheles erscheint hier in der Maske des Professors; er ist im Schlafrock und hat eine große Perrücke auf. Der Dichter denkt also dabei wieder an den Professor des 18., nicht des 16. Jahrhunderts. Ein Student tritt auf, nicht ein Schüler; diese mehr dem Mittelalter angemessene Bezeichnung weist erst das Fragment auf, wie es auch die Maske des Teufels jener Zeit entsprechend geändert hat. Überhaupt hat von allen Scenen diese die durchgreifendsten Änderungen erfahren und ist darum im ältesten Faust die am meisten von der späteren Fassung verschiedene Scene. Sie besteht hier aus zwei deutlich geschiedenen Teilen; zuerst werden nach der Einleitung, die auch später nur unwesentlich abgeändert worden ist, äußerliche studentische Angelegenheiten, wie Wohnung und Tisch, verhandelt, dann erst geht Mephistopheles auf das Studium selbst ein. Die Überschau über die vier Fakultäten fehlt; denn der Student hat sich von vornherein für die Medizin entschieden. Mephistopheles weist ihn aber ebenfalls auf Logik und Metaphysik hin und äußert sich danach, den Professorton aufgebend, in der bekannten Weise über die Medizin. Den ersten dieser beiden Teile hat Goethe begreiflicher Weise später gestrichen, dagegen den zweiten mit der angegebenen Erweiterung verwertet.

Die Einleitung ist, wie gesagt, im großen Ganzen unverändert geblieben. Der Student tritt auf, um den berühmten Professor kennen zu lernen und seinen Rat zu erbitten. Es gefällt dem Neuangekommenen gar nicht und er möchte schon wieder fort. Sein Grund dafür ist,—dies ist die erste Abweichung von der späteren Fassung—daß es ihm in der heißhungrigen Luft des Ortes nicht behagt, der den Studenten als seine Beute betrachtet. Damit ist der Übergang zu dem der ältesten Fassung eigentümlichen ersten Teile gegeben. Der Professor aber, dem des Studenten Bedenklichkeit wenig gefallen will, entschuldigt in lässiger Weise das, woran jener Anstoß genommen, und dann beginnt er, nicht etwa vom Gang und von der Einrichtung des Studiums, sondern—vom Logis als einer Hauptsache zu sprechen. Allein dem Studenten liegen ganz andre Dinge am Herzen: er möchte gern alles Gute zusammen haben, das Böse sich vom Leibe halten, Freiheit und auch Zeitvertreib und endlich auch dabei studieren. Mit beweglichen Worten bittet er ihn schließlich, ihm bei der Sorge um das Heil seiner Seele zu helfen. Das ist nun nichts für den Teufel. In komischer Verlegenheit kratzt er sich und bringt ohne weiteres das Gespräch wieder auf das Logis. Er verweist ihm das Wirtshausleben, gibt ihm einige Winke für sein Verhalten gegen die Professoren und schließt mit der Empfehlung einer Wohnung. Dem Studenten ists bei dem Gerede immer unbehaglicher geworden; als nun der Professor aber auch von dem studentischen Tisch beginnen will, unterbricht er ihn und deutet auf das hin, was ihm die Hauptsache ist, des »Geists Erweiterung!« Mephistopheles weist ihn spottend ab; der Student kennt noch nicht den Geist der Akademien, wenn er erwartet, er könne auf ihnen seinen Geist erweitern. Ohne Umstände springt darum der Professor zu dem neu angeschlagenen wichtigen Thema über und läßt sich nun nicht mehr in der Schilderung des studentischen Tisches stören, wobei denn auch sonst noch mancher gute Rat abfällt. Danach kommt erst wieder der andre mit dem, was ihn bewegt, zum Wort. Es erfolgt statt einer Antwort die Frage nach der Fakultät. Von hier an geht endlich Mephistopheles auf das Studium selbst ein. (Zweiter Teil der Scene.)

Was will nun der Dichter mit der niedrig derben Komik des ersten Teils? Klar ist es, daß der Teufel in der Maske des Professors den Professor verspotten will; es ist auch verständlich, daß er aus diesem Grunde mehr sagen muß als der Professor selbst gesagt hätte. Seine Denkart sollte vollständig dargestellt werden und dazu hätte das nicht genügt, was er sich sonst selbst auszusprechen erlaubte. Daraus erklären sich die anscheinenden Übertreibungen in den Versen 285 ff. und 324; ebenso wenig darf es befremden, daß Mephistopheles manchmal aus seiner Rolle fällt, so z.B. wenn er V. 309. 310 allzu offenherzig über den Geist der Akademien spricht.

Nach alledem ist offenbar schon in dem ersten Teil der Scene eine Satire auf das Professorentum beabsichtigt. Auch hier spricht Mephistopheles im Professorton. Wir müssen daraus unbedingt den Schluß ziehen, daß es in der That Professoren gegeben habe, die in solch gemein-frivoler Weise zu ihren Studenten sprachen und Logis und Mittagstisch für wichtiger hielten als das Studium. Daß eine Satire in diesem Sinne beabsichtigt ist, zeigt uns deutlich des Studenten Benehmen. Er will etwas ganz anderes hören als Belehrungen über jene Dinge, auf die der Professor ein solches Gewicht legt. So geht er V. 268 überhaupt nicht auf die Frage nach dem Logis ein, sondern bringt vor, was ihm am Herzen liegt, seine sittliche und geistige Ausbildung. Allein mit Gewalt kommt der Professor, ohne auch nur im geringsten jenes bewegliche Bitten zu beachten, auf sein Thema zurück. Der Student unterdrückt auch sein Unbehagen über das, was er wider Willen anhören muß, nicht (vergl. V. 291 u. 303 f.). Als nun aber der Professor zu einem ähnlichen Thema, zur Bestellung des Mittagtisches übergehen will, wird er abermals von ihm an das Wichtigere, des Geists Erweiterung, gemahnt. Allein er läßt sich nicht beirren und führt auch dieses Hauptstück in derselben Weise zu Ende. Jedoch ist es hier Mephistopheles, der mit feinerem, überlegenem Spotte den immer dringender werdenden Neuling abwehrt. Zum dritten Male endlich erinnert ihn der Schüler darauf an das, was ihm Herzensbedürfnis ist, eine Anleitung zu erhalten auf den verworrenen Pfaden der Wissenschaft. Jetzt erst stellt der Professor, indem er sich bezeichnender Weise das Ansehen gibt als habe er sich über das Wesentliche nun ausgesprochen und halte die Unterhaltung für beendet, die Frage nach der Fakultät.

Eine satirische Absicht ist also jedenfalls vorhanden. Der Dichter trägt nicht etwa aus jugendlich naiver Freude an solchen Scherzen diese Derbheiten vor, sondern verbindet damit einen bestimmten Zweck. E. Schmidt nimmt daher einen verkehrten Standpunkt ein, wenn er sich abfällig über diesen Teil äußert, von unreifem Geplauder spricht und anzudeuten scheint, daß es für die Leipziger Zeit des Dichters gerade gut genug sei. Allein wie er sich selbst dazu verhält, hat der junge Goethe im Bilde des Studenten, der, wie wir sehen werden, keineswegs der Leipziger Fuchs ist, klar genug angedeutet. Des Dichters Spott muß sich gegen damals im Professorentum vorhandene Auswüchse richten, die ihm bekannt waren, und er wurde auch jedenfalls sofort von dem kleinen Kreise, für den seine Satiren vor allem gedichtet waren, verstanden und auf bestimmte Verhältnisse und Personen bezogen. Wir können heute nur noch vermuten, wen er etwa gemeint habe. Denn daß er hier eine Satire ohne bestimmte Spitze geschrieben habe, ist bei einem Dichter, der stets aus dem vollen Leben geschöpft und für das Leben gedichtet hat, nicht anzunehmen. Wenn auch die persönlichen Beziehungen in den satirischen Dichtungen des jungen Goethe noch so versteckt oder ins allgemeine gezogen sind, vorhanden sind sie. Es muß daher unsere Aufgabe sein, Umschau zu halten im akademischen Leben des 18. Jahrhunderts und zu prüfen, ob sich damals im Professorentum wirklich Auswüchse der Art bemerkbar machten, wie sie hier der Witz des Dichters vorauszusetzen scheint. Gab es in der That Professoren, die sich nicht scheuten, im Verkehr mit ihren Schülern den rohesten und seicht-frivolsten Studententon anzuschlagen, die es nicht verschmähten, sich mit den ungebildetesten unter ihnen auf eine gleichniedrige Stufe zu stellen und ihren kümmerlichsten Interessen durch die platteste Unterhaltung entgegenzukommen?

Nun wissen wir allerdings, daß etwa seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts auch im akademischen Leben die alle freien Regungen hemmende Strenge und Pedanterie eine Gegenbewegung hervorrief, die zum Teil um so zügelloser auftrat, je enger grade hier die Schranken gezogen waren. Also auch hier Sturm und Drang; auch hier und fast ausschließlich die Erscheinung, daß sich innerlich haltlose, äußerlich gewandte, mit einer gewissen Leichtigkeit der Auffassung und Darstellung begabte Menschen den neuen Bestrebungen zuwandten, die jedoch, nachdem sie kurze Zeit geglänzt hatten, im Dunkel verschwanden, oft mit Schmach und Schande von ihrer Höhe gestürzt wurden und frühe ein verfehltes Leben beschlossen. Gerade das Gelehrtentum trug am meisten dazu bei, dem Namen des Genies einen schlimmen Klang zu verleihen. Denn es trug, wie Kawerau treffend bemerkt, das Fratzenhafte des Genietums an sich, aber ohne die idealen Züge jener bewegten Strebezeit.

Einer der Führer dieser Bewegung, der zugleich Schule zu machen verstand, war Klotz, jener Hallische Professor, dessen Namen durch Lessings und Herders Gegnerschaft bekannt geblieben ist. Mit einer gewissen formalen Gewandtheit ausgerüstet, hatte er zugleich eine gute Witterung für das Neue, das er sofort mitzumachen begann. Er verspottet nicht nur die herrschende Pedanterie in Wissenschaft und Leben, sondern redet auch zu einer Zeit, wo abermals das klassische Altertum eine Auferstehung feierte, ihm das Wort und vertritt dabei eine ästhetisierende Auffassung, die jedoch nie in die Tiefe zu dringen vermag. Er schreibt dazu—denn Satire ist diesen Neuerern allen mehr oder weniger eigen—eine Reihe akademischer Satiren, wie Mores Eruditorum, Genius Saeculi (1760), die im Tone der Dunkelmännerbriefe gehalten sind, einer Form, die sich von selbst darbot, da wieder um ähnliches gestritten ward wie zur Zeit des Humanismus. In den Ridicula litteraria (1762) verspottet er unter anderem ganz im Geschmack der neuen Richtung die Metaphysik. Klotz hängt also mit ihr zusammen, weshalb es auch nicht wunderbar ist, daß Lessing und Herder zunächst mit Anerkennung von ihm sprachen. Aber lange konnten sie sich nicht täuschen; bald musste ihnen die Hohlheit und Oberflächlichkeit des angeblichen Mitstreiters klar werden. Klotz war auch einer jener trockenen Schwärmer, die sich ohne inneres Feuer künstlich für Ideen und Gegenstände begeisterten, die Mode geworden waren. Dazu kam noch, daß er auch sittlich jedes festen Haltes entbehrte; er war der erste, der die sittliche Zerfallenheit in die eigentliche Gelehrsamkeit verpflanzte. Darum war es auch eine Handlung der Notwehr, solche gefährliche Freunde öffentlich abzuschütteln, was denn auch Lessing Klotz gegenüber mit der ganzen Wucht seiner Persönlichkeit that. Denn es galt mehr als nur diesen Gegner niederzuschmettern. Klotz starb früh. Hausen errichtete ihm durch seine Biographie eine Schandsäule auf seinem Grabe. Goethe bezeigte sein Interesse, das er an Klotz nahm, dadurch, daß er Hausens Schrift in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen besprach und später im Anschluß daran ebenda Jacobis ängstliche Protestationen wegen seiner Beziehungen zu Klotz mit verdientem Hohne zurückwies. Zur Zeit seiner Blüte hatte es Klotz trefflich verstanden, einen Kreis von Anhängern zu sammeln und geistesverwandte Naturen an sich zu ziehen, mit deren sittlicher Haltung es womöglich noch schlimmer bestellt war als mit der ihres Beschützers; zu ihnen gehören unter anderen Riedel und Bahrdt. Auch gegen Riedel, der fast Lessing selbst bestochen hätte, gedachte Herder aufzutreten; er schrieb über seine Theorie der schönen Künste sein viertes Wäldchen, das er jedoch nicht veröffentlichte. Riedel ward 1768, als der Kurfürst Emmerich Joseph die Universität Erfurt neubegründete, dorthin berufen. Auch ihm fehlte nicht die satirische Ader; eine seiner Satiren: Launen an meinen Satyr ist in den F.G.A. besprochen, vielleicht von Goethe. Riedel fand von allen diesen Genies das traurigste Ende; er starb, nachdem er sich seine Stellung in Wien verscherzt hatte, im Irrenhause.

Der berüchtigste dieser Schwarmgeister, der uns hier am meisten interessiert, da er sich auch mit Goethe verschiedentlich berührte, war K.Fr. Bahrdt. Auch er gehört zu den falschen Propheten, die über Nacht wie Pilze aufschießen, sobald sich eine neue Zeit angekündigt hat. Sie haben anscheinend das gleiche Streben, mitzuarbeiten an der Verwirklichung neuer und großer Ideen, die sie mit beredten Worten zu verkünden wissen; allein die Mittel, die sie anwenden, sind oft gewöhnlich, ja verwerflich und gemein. Der junge Goethe erkannte mit klarem Auge das Wesen dieser eigentümlichen Erscheinung; so kam ihm der Gedanke, sie im Bilde des Mahomet darzustellen. Allein der Plan wurde, trotzdem die nähere Bekanntschaft mit Lavater und Basedow ihm neuen Stoff geliefert hatte, nicht weiter ausgeführt; wohl aber ein scherzhaftes Seitenstück dazu, der Satyros, in dem er einen der tüchtigeren dieser Propheten, obwohl er in sein Bild mit dem Rechte des Dichters noch anderer Züge aufgenommen hat, verspottet. Satyros; denn satyrgleich folgten jene, viele das Evangelium der Natur mit Behagen mißbrauchend, die eigene rohe Natur unverhüllt zu zeigen, dem Dionysoszuge der neuen Kulturbewegung. Im Pater Brey hatte der Dichter schon vorher einen der weniger bedeutenden dieser Propheten abgethan.

Bahrdt war es nun, der den Genieton auch in die Theologie trug. In Leipzig konnte Goethe schon von ihm hören; denn als er dort noch Student war, war Bahrdt bereits Dozent. Als jener Leipzig verließ, mußte es dieser verlassen, dort unhaltbar geworden durch Vorkommnisse, die das Unsittliche seines Wesens aller Augen bloßgelegt hatten. Bezeichnender Weise wurde danach sofort Klotzens Teilnahme für den früheren Gegner wach, als habe der plötzlich entdeckte sittliche Mangel ihm die Befähigung zur Aufnahme in den Klotzischen Kreis verschafft Bahrdt reiste nach Halle und Klotz empfahl ihn für eine Professur an der Universität Erfurt, wohin er auch berufen ward. Über den Ton, der dort herrschte, gibt Bahrdt in seiner Lebensgeschichte zum Teil Aufschluß. Riedel gab ihn an; Bahrdt ward bald sein gelehriger Schüler, obwohl er sich zwar anfangs unfähig fühlte, »diese Vollkommenheit der Genies-Sitten sogleich zu erreichen«.

Riedel glich dem wildesten Jenaischen Studenten; der roheste Burschenton war bei ihm üblich, in dem er die größten Albernheiten und Possen trieb. Bahrdt gelang es bald, ihm darin gleich zu kommen. Beide ließen sich in Gesellschaft mit Studenten ein, in der Lustigkeit und Spötterei der herrschende Ton waren. Und nun das Tollste von allem! Obwohl unverheiratet, begann Bahrdt Kostgänger zu halten und selbst für den Tisch seiner Studenten zu sorgen. Der Professor als Koch! der sich, wie er selbst rühmt, besonders darauf verstand, den Speisen die letzte Würze zu geben.

Dieser Mann, der zugleich seit jenem Skandal von der Rechtgläubigkeit zur Aufklärung abgeschwenkt war, der seine Redegewandheit auf das schändlichste mißbrauchte, um seine Zuhörer über seine wahre Gesinnung zu täuschen, wurde 1771 an die Universität Gießen berufen und trat damit Goethes Gesichtskreis wieder näher. In Darmstadt wurde er mit Merck bekannt, und pflegte auch, wie er angibt, im Hause des Herrn von Hesse, des Schwagers von Herder zu verkehren. Auch die Landgräfin Karoline schenkte ihm Beachtung. Als Merck 1772 Direktor der Frankfurter Gelehrten Anzeigen geworden war, lud er durch einen Brief vom 18. Januar auch Bahrdt zur Theilnahme ein; es ist jedoch sehr wohl möglich, daß er sich schon vorher unaufgefordert an das neue Unternehmen herangedrängt hat. Die Rezension vom 17. Januar erinnert allerdings, wie Scherer meint, stark an die Art Bahrdts. Man bemerke nur die Polemik gegen den Teufelsglauben (S. 32. Z. 17 ff.), das rationalistische Geschwätz auf S. 31. Z. 26 ff. und die S. 33. Z. 28 f. ausgesprochene Ansicht, die den Verfasser der Neuesten Offenbarungen im voraus verkündet. Bahrdt hat sich noch weiter an diesem Jahrgang beteiligt, obgleich er dem Herausgeber von Anfang an Ungelegenheiten bereitete. Eine Rezension ist aber gegen Bahrdt gerichtet; es ist die auf S. 319 ff., in der seine 1772 erschienene Schrift Eden besprochen wird. Goethe hat sie bekanntlich später als sein Eigentum erkannt und in die Ausgabe seiner Werke aufgenommen. Es scheint auch an seiner Urheberschaft nicht zu zweifeln zu sein. Bemerkenswert ist, wie er auch hier schon das falsche Prophetentum scharf kennzeichnet und abweist: »Wenn diese Herren so viele oder so wenige Philosophie haben, sich das Menschenlehren zu erlauben, so sollte ihnen ihr Herz sagen, wie viel unzweideutiger Genius, unzweideutiger Wandel, und nicht gemeine Talente zum Beruf des neuen Propheten gehören.«

Im Jahre 1773 ist aber Bahrdt der Direktor der Zeitung und rühmt sich noch später, daß er Deinets Zeitungsbude fast ganz allein furniert habe. In demselben Jahre machte er auch den Versuch Hofprediger in Darmstadt zu werden. Aus Mosers Gutachten über ihn sei hier einstweilen schon auf folgende charakteristische Stelle aufmerksam gemacht: »Seine Kanzelgaben sind ausnehmend und er besitzt eine hinreißende Beredsamkeit; man darf aber ohne alle Medisance sagen, daß ein vortrefflicher Komödiant an ihm verdorben sei,«———.

Der Versuch mißlang; ebenso der unmittelbar darauf unternommene, Nachfolger des Seniors Plitt in Frankfurt zu werden, obwohl sich Deinet sehr für ihn bemühte. 1773 erschien ferner seine Homiletik, aus der uns hier nur eine Stelle angeht, die geeignet ist, das beste Schlaglicht auf die Oberflächlichkeit und gemeine Gesinnungsart dieses Menschen zu werfen; sie lautet: »Ich meinesteils halte so viel auf eine schöne Deklamation und Aktion, daß ich längst gewünscht habe, man möchte in jedem Lande ein paar gute Schauspieler halten, welche die Kandidaten darin übten.« Wem fallen hier nicht Wagners Worte ein:

Ich hab es öfter rühmen hören,
Ein Komödiant könnt einen Pfarrer lehren.
und Fausts treffende Entgegnung:
Ja wenn der Pfarrer ein Komödiant ist.
Wie das denn wohl zu Zeiten kommen mag.

Einen offenen Angriff auf Bahrdt machte der junge Dichter nach dem Erscheinen der Neuesten Offenbarungen Gottes in Briefen und Erzählungen (seit 1772) mit seinem kleinen Prolog, in dem er ihn, wie es schon in jener Rezension geschehen war, wegen der ungeschichtlichen, modernisierenden Auffassung (hier der Evangelien) spottend zurecht wies, Auch im Jahrmarktsfest zu Plundersweilen darf man wohl, wie Scherer vermutet hat, hinter dem Hanswurst (Lichtputzer) Bahrdt suchen. Auf einen gewissen Zusammenhang zwischen ihm und Goethe deutet auch der Scherz, den man sich mit Lavater erlaubte, ihm statt Goethes Bild das von Bahrdt zu schicken. Bekannt ist schließlich aus Dichtung und Wahrheit sein Besuch bei Goethe, bei dem er über den Prolog scherzte und ein freundliches Verhältnis wünschte (1775).

Nachdem nun Bahrdts Persönlichkeit, seine Bedeutung in seiner Zeit geschildert, seine Berührung mit dem jungen Goethe erörtert sind, dürfen wir wohl fragen: Ist nicht vielleicht jenes satirische Zerrbild in der Schülerscene nach Bahrdt gezeichnet? Ist es nicht am ehesten von ihm anzunehmen, daß er, der Genosse Riedels, seinen Studenten gegenüber solchen Ton angeschlagen und er, der Erfurter Küchenmeister, mit solcher Dringlichkeit über Logis und Mittagstisch gesprochen habe? Wie er im Prolog sein wissenschaftliches Treiben verspottete, so hätte der Dichter hier seine fragwürdige Persönlichkeit zum Gegenstand seiner Satire gemacht und damit auf eine der wundesten Stellen im akademischen Leben der Zeit den Finger gelegt. Wir dürfen darum schon hier im Zusammenhang darauf hinweisen, wie ganz und gar die satirischen Scenen des ältesten Faust aus der eignen Zeit des jungen Dichters geschöpft sind, wie uns durch sie eine Reihe von Erscheinungen aus dem Leben des 18. Jahrhunderts wieder lebendig werden und umgekehrt auch jene Zeit den besten Kommentar zu ihnen liefern kann. Wagner, der trockene Schwärmer, eine ganz neue Art der Schulgelehrsamkeit, und hier das liederliche Genie, als passende Maske des Teufels!

Und nun noch eins! Es betrifft die eigentümliche Maske, in der Mephistopheles auftritt, »im Schlafrock eine große Perrücke auf«. Denn auch sie scheint ein äußeres Kennzeichen Bahrdts gewesen zu sein. Im Prolog zwar sitzt er ganz angezogen am Pult und schreibt; aber da ist er auch zum Ausgang bereit. Dagegen haben wir den Doktor Bahrdt in Schlafrock und Perrücke in zwei Briefen Deinets. Am 20. Juli 1773 bittet der letztere ihn um sein Portrait für Lavater, aber ohne Perrücke; am 27. September 1773 berichtet Deinet von dem Bilde, das damals in Arbeit war, und es stellt Bahrdt im Schlafrock dar, allerdings, wie gewünscht, ohne die Perrücke. Mit diesem Bilde, das am 15. Oktober in Deinets Händen war, wurde bekanntlich Lavater mystifiziert, so wie ja auch in unserer Scene der Student vom Teufel in der Maske des Professors zum besten gehalten wird. Wenn daher Mephistopheles in Schlafrock und Perrücke auftrat, so mochte schon von vornherein Goethes Frankfurter und Darmstädter Kreis darauf gefaßt sein, auch in weitren Eigenheiten jenes verspottet zu sehen und zu hören.

Diesem Zerrbilde des Professors gegenüber ist der Student aufs liebevollste gezeichnet; daß der Dichter hierbei viel von seinem eigenem Wesen und von seinen eigenen Erfahrungen verwerthet hat, ist nicht zu bezweifeln. In ähnlicher Weise kam auch Goethe nach Leipzig, wenn auch wohl nicht mit den hohen Absichten, wie sie der Student in unserer Scene ausspricht; umgekehrt war er auch nicht in einer so hilflosen Unklarheit über sein Studium, sondern trat mit einem ganz bestimmten Plane auf. Schwere Enttäuschungen blieben allerdings auch ihm nicht erspart. Keinswegs erschien ihm jedoch der Professor in einer solchen Karrikatur. Vielmehr erschien ihm, sich zu einer akademischen Lehrstelle fähig zu machen, das Wünschenswerteste für sich. Er schreibt an seinen Vater: »Noch eins! Sie können nicht glauben, was es eine schöne Sache um einen Professor ist. Ich bin ganz entzückt gewesen, da ich einige von diesen Leuten in ihrer Herrlichkeit sah. Nil istis splendidius, gravius ac honoratius. Oculorum animique aciem ita mihi perstrinxit, autoritas gloriaque eorum, ut nullos praeter honores Professurae alios sitiam.« Selbst Gottsched, den er in den Leipziger Briefen ob seiner Gestalt und seiner Familienverhältnisse verhöhnt, dessen Verdienste er aber sonst anerkennt, bot ihm keine Veranlassung zu solchem Spott, wie er aus dem ersten Teile der Schülerscene spricht.

Was der Student begehrt, entspricht auch nicht etwa Wünschen und Hoffnungen, mit denen der junge Goethe nach Leipzig kam; er will nicht bloß studieren, es handelt sich für ihn besonders um das Heil seines inneren Menschen, und zwar in ganz bestimmter Richtung: er möchte gern alles Gute zusammen haben, sich dagegen das Böse vom Leibe halten. Damit ist ein Grundzug im Wesen des jungen Goethe bezeichnet. Er hat ihn selbst früh erkannt und an seiner Umbildung gearbeitet. »Der Mensch«—schreibt er in der Rezension über Sulzers schöne Künste—»durch alle Zustände befestigt sich gegen die Natur, ihre tausendfache Übel zu vermeiden, und nur das Maß von Gutem zu genießen; bis es ihm endlich gelingt, die Circulation aller seiner wahr- und gemachten Bedürfnisse in einen Palast einzuschließen, so fern es möglich ist, alle zerstreute Schönheit und Glückseligkeit in seine gläserne Mauern zu bannen, wo er denn immer weicher und weicher wird, den Freuden des Körpers Freuden der Seele substituiert, und seine Kräfte von keiner Widerwärtigkeit zum Naturgebrauche aufgespannt, in Tugend, Wohlthätigkeit, Empfindsamkeit zerfließen.« Mit diesen Worten ist das Charakteristische der empfindsamen Epoche vortrefflich ausgedrückt. Denn sie war es, die da glaubte, der Mensch sei nur da, um das Gute zu genießen, das Böse sich dagegen vom Leibe zu halten, kurz sich schon auf Erden ein Elysium zu gründen. Diese Anschauung wird von dem Dichter überwunden durch die andre, die sich in ihm in der düsteren Leidenszeit nach dem Wetzlarer Aufenthalt mehr und mehr befestigt hatte, der Mensch sei zu Genuß und Leiden, Freud und Leid geschaffen, habe der Erde Glück und Weh zu tragen. »Genuß, dieses unerklärbare Herumdrehen, Schweben, Aufgelöstliegen in einer Empfindung, das ist, wie wir glauben, der Zweck oder vielmehr der Endpunkt alles dessen, was in dem Menschen ist.« Es ist offenbar Goethe, der so spricht; aber am Ende des Jahres 1772 erklärte er Genuß und Leiden für den Mittelpunkt des Lebens. Die Lebensanschauung seiner empfindsamen Zeit, die er selbst schon hinter sich gelassen hatte, hat also der Dichter dem Studenten gegeben. Außerdem begehrt er Freiheit und Zeitvertreib; auch ein Wunsch, den ein Wagner nicht gethan hätte. Er, der der Enge des Collegiums nun glücklich entronnen ist, hat nicht Lust, sich körperlich und geistig in neue Fesseln schlagen zu lassen. Sich die nötige Heiterkeit und Geistesfreiheit für die Studien durch freie Bewegung zu schaffen, dazu war auch einst der Student Goethe in Straßburg von seinem Lehrer ermahnt worden. Unser Student will endlich auch tief studieren. Des Geists Erweiterung ist sein Schlagwort. Eine Fakultät genügt ihm darum nicht; das Höchste und Tiefste möchte er fassen, Himmel und Erde, die ganze Natur! Eine stattliche Reihe von Forderungen; man vernimmt den echten Sohn der fordernden Epoche. Wer denkt nicht zugleich an Faust? Sind sie nicht beide geistesverwandt? Stehen sie nicht zu einander wie Jüngling und Mann? Wer wird nicht durch die Forderungen des einen an die des anderen erinnert? Was hier der in Dumpfheit noch Befangene, naiv begehrlich, und doch bescheiden von dem teuflischen Professor verlangt, das klingt ganz ähnlich dem, was am Schluß der bereits im Fragment enthaltenen Vertragsscene, wenn auch im andren Tone und dem Denken und Fühlen des Mannes entsprechend umgebildet, vom Teufel Faust selbst fordert. Die beiden Scenen: Der Teufel und der fordernde Faust und der Teufel und der fordernde Schüler folgen als passende Gegenstücke im Fragment wie in der Ausgabe von 1808 unmittelbar auf einander. Offenbar hat also der Dichter von Anfang an das Bedürfnis gehabt, uns in dem Bilde des Studenten zugleich ein Bild von Fausts eigener Jugend zu geben und es dem des Mannes zur Seite zu stellen. Faust verlangt allerdings nicht nur alles Gute, sondern, wie er schon vom Hauche des Erdgeistes berührt, ausgerufen, der Menschheit Wohl und Weh auf seinen Busen zu häufen. Aber die Universalität des Wollens ist beiden noch gemeinsam. Was der Student mit der Naivität und Unbeholfenheit seiner Jugend »das Gute so allzusamm« nennt, das heißt ins Männliche Fausts übertragen:

Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist,
Will ich in meinem innren Selbst genießen,

Wünscht der Student seinen Geist zu erweitern, von Himmel und Erden und der ganzen Natur mit ihm, so viel er vermöchte, zu fassen, so will Faust mit seinem Geist das Höchst' und Tiefste greifen und sein eigen Selbst zu dem der Menschheit erweitern.

Wir kehren zur Schülerscene zurück. Für sein Begehren hat der Student noch keine Befriedigung finden können. Er ist schnell enttäuscht worden. Die Bahn der Weisheit ist ihm eröffnet worden; aber wirres Gestrüpp blickt ihm entgegen, und seitwärts, wo ihm die Ferne ein schönes Thal mit frischen Quellen vorgespiegelt hatte, trockne Wüste. Der Jüngling verzweifelt aber noch nicht und wendet sich etwa vom Wissen überhaupt ab, sondern geht den berühmten Professor an, ihm guten Rat zu geben. Sein Geschick führt ihn jetzt schon zum Teufel, ohne daß er ihn gerufen hätte.

Nachdem jener eine Zeit lang sein possenhaftes Spiel mit ihm getrieben, geht er endlich auf seine Fragen ein.

Ein zweiter Teil der Scene beginnt, der nicht mehr mit derber Komik, sondern mit feiner Ironie den Spott gegen die Wissenschaft und ihre Vertreter fortsetzt.

Der Student will Mediziner werden, ohne sich jedoch, wie wir schon gesehen haben, damit auf ein Fachstudium beschränken zu wollen. Wenn auch noch unklar, so schwebt ihm doch als höchstes Ziel seines Studiums die Natur vor; noch klingt es, wie Stammeln, da er seinen Wunsch bekennt. Der junge Goethe war einst ebenso zu einem Fachstudium bestimmt auf die Universität gekommen; auch sein Sinn war von vornherein mehr auf anderes gerichtet, allerdings noch nicht auf das Studium der Natur. Nachdem er sich ihr in den Tagen seiner Krankheit in Frankfurt auf mystisch-alchemistischem Wege zu nähern versucht hatte, trat er ihr erst in Straßburg auf dem der Wissenschaft nahe. Er wandte sich neben seinem Fachstudium der Medizin zu; »das Medizinische reizte mich, weil es mir die Natur nach allen Seiten, wo nicht aufschloß, doch gewahr werden ließ. Darum ist auch wohl der Student im Faust sofort zur Medizin entschlossen. »Fortsetzung der übrigen Natur und medizinischen Studien. Unendliche Zerstreuungen. Vorbild zum Schüler im Faust.« So lautet ein bemerkenswertes, neu aufgefundenes Schema zu der obigen Stelle im 11. Buch von Dichtung und Wahrheit. Mephistopheles lobt zwar den Studenten, aber da er ihn auf den alten, ausgetretenen Weg der Wissenschaft weisen will, um Gelegenheit zu haben, seinen Spott fortzusetzen, warnt er ihn vor der Gefahr der Zerstreuung, wie sie ja auch Goethe selbst bei ähnlichem Streben zur Genüge erprobt hatte. Darum zuerst Collegium Logicum!

Durch diese Eingangspforte hatte auch einst der junge Goethe in Leipzig das Feld der Wissenschaft betreten müssen.

Die Vorzüge der Logik werden nun mit feiner Ironie auseinandergesetzt.

An Geists Erweiterung ist bei ihr nicht zu denken; sie schnürt ihn gewaltsam ein, daß er bedächtig den vorgeschriebenen Weg schleiche; sie zerreißt, was in uns so fest verbunden ist, daß wir es als eins empfinden, in mehrere Teile. »Also wie der Mensch ißt und trinkt, und verdaut, ohne zu denken, daß er einen Magen hat, also sieht er, vernimmt er, handelt und verbindet seine Erfahrungen, ohne sich dessen eigentlich bewußt zu sein.« Dies natürliche Band hebt die Logik auf. »In der Logik«—so erklärt Goethe später, offenbar in Erinnerung an unsere Fauststelle—»kam es mir wunderlich vor, daß ich diejenigen Geistesoperationen, die ich von Jugend auf mit der größten Bequemlichkeit verrichtete, so auseinanderzerren, vereinzeln und gleichsam zerstören sollte, um den rechten Gebrauch derselben einzusehen.« Das Trennen und Zergliedern war und blieb Goethes Natur zuwider. Obwohl es—so spottet Mephistopheles weiter—bei der Erzeugung der Gedanken offenbar auf ein Verbinden ankommt und es dabei ähnlich zugeht wie beim Weben, da unzählige Fäden, einmal durch einen Schlag in Bewegung gesetzt, sich zum Gewebe vereinigen, so kommt nun der Philosoph und beweist, was ihm hier das Hauptstück zu sein scheint, die Notwendigkeit des Vorganges und wie notwendig eins aus dem andern folgt. Was hilft uns aber diese Weisheit? Keiner denkt daran, wie wenig damit gewonnen ist. Keiner wird dadurch ein Weber, daß er die Fäden des Gewebes auftrennt und sie im einzelnen nachweist. Gerade die Hauptsache, die Kraft, die ein Ganzes in allen seinen Teilen hervorbringt, wird außer Acht gelassen. »Schädlicher als Beispiele sind dem Genius Principien. Vor ihm mögen einzelne Menschen einzelne Teile bearbeitet haben. Er ist der erste, aus dessen Seele die Teile, in ein ewiges Ganze zusammengewachsen, hervortreten.« So Goethe in der Baukunst; bei der dritten Wallfahrt nach Erwins Grabe im Juli 1775 ruft er über dessen Meisterstück aus: »Du bist eins und lebendig, gezeugt und entfaltet, nicht zusammengetragen und geflickt.« Während daher das Genie schöpfergleich ein Ganzes, zu dem sich die Teile eben durch die zeugende Kraft von selbst zusammenfügen, hervorbringt, treibt die Philosophie gerade dem Lebendigen, das sie erkennen und darstellen möchte, den Geist aus; die Teile hält sie zwar in der Hand; aber das geistige Band, das sie zum Ganzen verflocht, ist zerrissen. Ebenso macht es auch die Chemie; sie sucht die Teile der schaffenden Natur in die Hand zu bekommen, im Glauben, daraus könne sie ein Ganzes bilden. Mit unbewußtem Spotte nennt sie diesen rohen Versuch treffendEncheiresis naturae, als vermöchten ihre Handgriffe den schaffenden Geist der Natur zu ersetzen. Im ähnlichen Sinne äußert sich auch Herder in den Fragmenten: »Allein zur Erweckung des Genies trägt dies Zergliedern nichts bei; bei aller Mühe bleibt die vivida vis animi so unangetastet als der rector Archaeus bei den Scheidekünstlern: Erde und Wasser bleibt ihnen; die Flamme verflog, und der Geist blieb unsichtbar; allen ihren chymischen Zusammensetzungen können sie nach dem, was sie bei der Scheidekunst gewahr wurden, zwar Farbe, Geruch und Geschmack, nie aber die Kraft der Natur geben.« Die gemeine Encheiresis der Natur, wodurch sie Leben schafft und fördert, wie sich Goethe einmal am Ende seines Lebens ausdrückt, wird durch solche Bemühungen nicht enthüllt. Ein Unerforschliches, wie er es zu nennen pflegte, bleibt bestehen; ein Geheimnis, in das allerdings der Faust des jungen Goethe noch einzudringen begehrte.

Die Logik schlägt also den Geist in unnatürliche Fesseln; sie hemmt die freie Entwicklung der Gedanken; sie führt, statt den schöpferischen Genius zu wecken, zu einem unproduktiven Trennen und Sondern; sie tötet, statt daß sie belebe. Das Genie in seinem Schaffensdrang, das nach dem geistigen Band sucht, das die Welt im Innersten zusammenhält, kämpft gegen den starren Mechanismus in der Wissenschaft. Dem Studenten ist es selbstverständlich nicht klar, was der Professor eigentlich meint. Mephistopheles tröstet ihn, das Verständnis werde schon kommen, sobald er nur alles zu reduzieren und klassifizieren gelernt habe. »Was heißt das anders«—hören wir Goethe mit ähnlichem Spott auf jene Schulausdrücke in der Lavaterrezension reden—»als durch gelehrtes Nachdenken sich eine Fertigkeit erworben zu haben, auf wissenschaftliche Klassifikation eine Menschenseele zu reduzieren«. Und ähnlich in der Beurteilung von Sulzers schönen Künsten: »daß einer, der ziemlich schlecht raisonnierte, sich einfallen ließ, gewisse Beschäftigungen und Freuden der Menschen, die bei ungenialischen gezwungenen Nachahmern Arbeit und Mühseligkeit wurden, ließen sich unter die Rubrik Künste, schöne Künste klassifizieren, zum Behuf theoretischer Gaukelei, das ist denn der Bequemlichkeit wegen Leitfaden geblieben zur Philosophie darüber, da sie doch nicht verwandter sind als septem artes liberales der alten Pfaffenschulen.« »Meine Wissensbegierde wurde reg«—scherzt er in den biblischen Fragen—»und ich bat ihn mich in die Schule zu nehmen. Das that er gerne, denn er sticht gewaltig auf einen Professor, konsultierte hier und da seine Hefte, und das Dozieren stund ihm gar gravitätisch an. Nur bemerkt ich bald, daß die ganze Kunst auf eine kalte Reduktion hinauslief.«—Der Spott richtet sich also gegen den philosophischen Hang, alles in bestimmte Klassen gebracht, auf einzelne Begriffe reduziert, in ein System zu zerren, wogegen wiederum sich die Gefühlsrichtung als gegen etwas, das alles wahre Leben ersticke, erhoben hatte.—Dem Studenten wirds bei dem betäubenden Klang der Schulausdrücke ganz schwindlich im Kopf. Mephistopheles fährt weiter: Nach der Logik die Metaphysik! Sie sucht mit dem Verstand zu begreifen und faßlich zu machen, was zu seinem Gebiete gar nicht gehört; dann müssen eben Worte aushelfen. Wieder einer der vielen Angriffspunkte, die sich der neuen Bewegung darboten. Mit ihren schärfsten Waffen wenden sich Hamann und Herder gegen die Unfehlbarkeit der Metaphysik, die alles beweisen zu können meinte und doch so oft nur taube Worte gab. Mephistopheles schließt seine Belehrung mit einigen guten, natürlich wieder ironisch gemeinten Ratschlägen, die den äußeren Gang des Studiums betreffen. Der Student bittet ihn darauf, ihm auch für sein Fachstudium, die Medizin, einen Fingerzeig zu geben, Mephistopheles ist aber nun des Professortons satt; er legt die Maske ab und ist wieder Teufel. Jetzt empfiehlt er dem Studenten nicht mehr wie vorher, wo es ja auch nur versteckter Hohn war, den engen Pfad der Schulwissenschaft zu wandeln. Was nützt das Studium? Der Mensch kann doch nicht mehr fassen als ihm gegeben ist. Darum weist er ihn auf das wirkliche Leben hin. Bei diesem guten Rate offenbart sich aber der Teufel, er sucht den Menschen bei seiner niedrigen und gemeinen Seite zu fassen und ihn anzureizen, den Vorteil des überlegenen Verstandes zum Schaden oder zur Beherrschung anderer auszubeuten. Der Teufel lockt zum Leben, aber um den Menschen zu verderben. In ähnlicher Weise hätte Mephistopheles auch zu Faust sprechen müssen, wenn der Dichter schon im ältesten Faust eine solche Scene ausgeführt hätte, um ihn von der Wissenschaft weg zu einem Leben, wie es in des Teufels Sinne ist, zu führen. Dem Studenten gefällt das Bild praktischen Lebens, das der Teufel entworfen, schon besser als der philosophische Lehrgang, den ihm der Professor zuerst vorgezeichnet hat.

Mephistopheles schließt darauf mit den denkwürdigen Worten ab, die, vom Teufel ausgesprochen,
zugleich im höchsten Sinne gelten:

Grau, teurer Freund, ist alle Theorie
Und grün des Lebens goldner Baum.

Klar und scharf ist damit wiederum der Gegensatz zwischen der alten und neuen Richtung ausgesprochen: Fort mit dem spekulativ-theoretischen Erkenntnisgang; nur aus dem Leben selbst erblüht eine wahre, lebendige Weisheit. Vom Baum der Erkenntnis weg zum Baum des Lebens! »Noch immer steht der Baum der Erkenntnis mitten unter uns; je weniger man davon isset, desto besser; und wehe denen, die sonst keine Nahrung haben!« So in einer Rezension der F.G.A., die vielleicht Goethe gehört; jedenfalls ist die Bemerkung ganz in seinem Geiste. »Der Mensch ist nicht zum Methaphysicieren da—ruft Herder in der schon mehrfach angezogenen Beurteilung eines Werkes von J. Beattie aus—»und trennet er einmal Vernunft vom gesunden Verstande, Spekulation von Gefühl und Erfahrung—der Dädalus und Ikarus hat den festen Boden der Mutter Erde verlassen; wohin kann er sich mit seinen wächsernen pennis homini non datis hin verlieren? wohin kann er sinken?—Spekulation als Hauptgeschäfte des Lebens—welch elendes Geschäfte! Sie gewöhnt endlich alles als Spekulation anzusehen! ein Opium, was alle Lebenskraft tötet und mit süßen Träumen sättigt, u.s.w.—Spekulation löset das eiserne Band der Natur, Trieb und Nerven in Zwirnsfäden« u.s.w. Goethe selbst scheint wieder zu reden in einer kurzen Mitteilung über Lavaters Geheimes Tagebuch: »Das wahre Leben verdrängt gewiß das Spekulieren, so wie Gefühl das Raisonnement;«—Mit voller Bestimmtheit ist Goethe in folgenden Worten der Rezension über Sulzers schöne Künste zu erkennen: »Er bedenke, daß er sich durch alle Theorie den Weg zum wahren Genusse versperrt, denn ein schädlicheres Nichts, als sie, ist nicht erfunden worden.«

Überall also im Widerspruch zu dem starren Formalismus der Zeit der Hinweis auf Lebenskraft und Lebensgehalt; aus den Geisteskämpfen dieser Zeit sind auch vor allem die satirischen Scenen des ältesten Faust erwachsen. Dies ist der Boden, in dem sie wurzeln.

Für den Studenten freilich sind die widerspruchsvollen Lehren des Professors ebenso viele Rätsel, ihm ists als wie ein Traum. Zum Abschied überreicht er sein Stammbuch. Der Teufel schreibt sich mit den Worten ein, mit denen einst die Schlange im Paradies die ersten Menschen lockte. Die symbolische Bedeutung der Scene ist dadurch zum Schlusse deutlich ausgedrückt und zugleich in die Form gebracht, die bereits die älteste Urkunde des Menschengeschlechts gebraucht hatte. Mephistopheles weist wieder auf den Baum der Erkenntnis hin; er will den Schüler auf denselben Pfad verlocken, auf dem einst auch Faust wandelte, ehe er sich dem Teufel übergab. Aber der Erfahrene sieht voraus, welch schwere Pein auch jenem aus der erstrebten Gottähnlichkeit erwachsen würde. Dann wird es auch ihm nach dem Baume des Lebens verlangen; Er wird verstehen lernen, was ihm einst in des Teufels Worten noch unverständlich geblieben war. Die Geistesverwandtschaft zwischen Faust und dem Schüler ist schon betont. Darum bildet auch der letztere von selbst einen Gegensatz zu Wagner, wodurch die beiden satirischen Scenen des ältesten Faust in noch höherem Grade einen gewissen Zusammenhang in ihrer Entstehung und Bedeutung erkennen lassen. Goethe stellt sie später selbst in dem Schema so gegenüber: Helles kaltes wissenschaftliches Streben: Wagner. Dumpfes warmes wissenschaftliches Streben: Schüler.

Was endlich die Anlage der ganzen Scene betrifft, so ist sie in einer ganz und gar volkstümlichen und in der Litteratur eingebürgerten Form gehalten. Solche Belehrungsdialoge entsprachen durchaus dem lehrhaften Charakter der Litteratur, besonders seitdem sie durch die Reformation zu einer wichtigen Waffe für Aufklärung, Anfeindung, Verspottung geworden waren. Auch die besondere Form, daß der Schüler vom Lehrer oder überhaupt der Jüngere vom Vorgeschritteneren belehrt wird, fehlt nicht; vor allem findet sie sich gerade in der poetischen Litteratur. Schröder hat in der Vierteljahrschrift auf das Spiel von Frau Jutten hingewiesen. Daraus zu folgern, daß es Goethe gekannt habe, ist zu voreilig. Denn diese Form war ein überliefertes Element der Volksdichtung. Besonders eigentümlich ist jedoch die Ähnlichkeit mit J.V. Andreas gutem Leben eines rechtschaffenen Diener Gottes, das Herder in den Briefen das Studium der Theologie betreffend mitgeteilt hat. Ein Kandidat der Theologie wird hier durch die praktische Lebensweisheit eines alten Pfarrers belehrt. Nachdem jener das Studium der Logik, Rhetorik, Physik, Ethik beendet und sich auch für sein Fachstudium vorbereitet hat, geht er auf die Suche nach dem Amt. Unterwegs trifft er einen alten Pfarrer an, den er ganz in der Art anmaßlicher Jugend anredet, wie später der Schüler im zweiten Teile des Faust.

Der alte Herr sprach: mein Herr Studios,
Mich dünkt, Eur' Kunst, die mach sich los.
Die Logik wird sich in euch regen,
Daß Ihr mit mir redt so verwegen.

Mit einem kräftigen Wort Luthers wird er weiterhin abgewiesen. Als ihn aber danach der Pfarrer über den Unterschied zwischen der wissenschaftlichen Theorie und der Amtspraxis belehren will, bricht seine anmaßliche Schulweisheit noch einmal durch. Er spricht:

Ihr gabt aufs Geistlich' Acht,
Und der Philosophie nichts acht,
Daher möcht es wohl kommen sein,
Daß Euch die Welt nit wollt ein.

Der Pfarrer macht ihn aber mit fischartischem Humor darauf aufmerksam, wie auch er durch die Schule der freien Künste gegangen sei, bis endlich »die Praktik kommt zu Haus, die all Theorik treibet aus.«

Der Kandidat, der das ganze Gespräch erzählt, bemerkt dazu:

»Die Ding' mir spanische Dörfer waren,«—

Darauf beginnt die eigentliche Belehrung über die Schwierigkeiten des Predigtamtes; alsdann wird auf dessen Verlangen:

Doch bitt ich, wollt mich weiter lehren,
Wo ich mich nun hinaus soll kehren?

der hohe Wert des Predigerstandes gepriesen. Beschämt und erfreut geht der Jüngling mit dem Pfarrer in sein Haus, mit dem Wunsche, daß allen seinen Gesellen so die Schellen abgetrennt würden. Es ist nicht unmöglich, daß bereits der junge Goethe diese Pastoraltheologie, vielleicht durch Herders Vermittlung, gekannt habe. Einzelne Anklänge an die Schülerscene wird man heraus gehört haben; jedenfalls beweist das im Hans Sachsischen Maß gehaltene Gedicht, daß die ganze Anlage der Faustscene im Boden der volkstümlichen Litteratur wurzelt. Dagegen ist es ihr eigentümlich, daß sie zugleich eine Mystifikation der Art ist, wie sie Goethe im Leben und in seiner Dichtung liebte; sie bringt ihm hier den Vorteil, den Professor in der Maske des Professors ohne besondere Verletzung der Wahrscheinlichkeit verspotten zu können.

Es ist uns nun noch übrig, die Einheit der ganzen Scene zu betonen und gegen gewisse Angriffe in Schutz zu nehmen.—Daß die Scene aus zwei verschiedenen Teilen bestehe, wird niemand bezweifeln; dagegen darf man nicht mit Anwendung einer Methode, die auch mehr ihre Freude daran hat, zu zerstückeln und auseinander zu zerren als künstlerische Einheit zu empfinden, den von Anfang an vorhandenen inneren Zusammenhang bestreiten und gar die Scene in zwei Teile zerlegen, die zu verschiedenen Zeiten entstanden und später notdürftig zusammengeflickt worden seien. Wie Scherer diese Kunst am ersten Monolog geübt, so Pniower an der Schülerscene. Er geht von der Erscheinung der Wiederholung aus d.h. von der Thatsache, daß ein Dichter sich innerhalb desselben Werkes wiederhole, einzelne Gedanken und Motive wieder aufgreife, um sich von neuem in alte Stimmungen zu versetzen. Man wird davon mit Recht bei einem größeren Werke sprechen können, das im Laufe vieler Jahre entstanden, eine Zeit lang unterbrochen, schließlich die redigierende Hand nötig machte, also etwa bei dem Fragment von 1790 und ganz besonders bei der Ausgabe von 1808. Mißtrauisch wird man aber dem bei einem Werk gegenüberstehen, wo von einer Redaktion keine Rede sein kann, wie beim ältesten Faust, dessen einzelne Teile, nachdem sie im Geist des Dichters ausgetragen waren, durch einen bestimmten Anstoß in einem ununterbrochenen Strom, des Entstehens hervorgebracht wurden, von denen, wie er selbst erklärt, nichts nieder geschrieben ward, was nicht bestehen konnte. Pniower hält nun die Verse 339. 340 für eine solche Wiederholung und zwar aus V. 386 = 1955 (»Nehmt euch der besten Ordnung wahr.«); er schließt daraus, daß die beiden zusammengehörigen Verse 339. 340:

Ihr seid da auf der rechten Spur,
Doch müßt ihr euch nicht zerstreuen lassen.

Flickverse seien und bei einer späteren Zusammenfügung der ursprünglich getrennten Teile der Scene eingeschoben worden seien. Diese Annahme findet er dadurch bestätigt, daß sie weder zum Vorhergehenden noch zum Folgenden recht paßten; darauf baut er weiter und sucht die völlige Verschiedenheit der beiden Teile im Ton, Stil, Metrik nachzuweisen und auch damit seine Ansicht zu stützen.

Der erste und der Grundirrtum ist in der Annahme enthalten. V. 340 sei nur eine Wiederholung des späteren Verses 386. Im ersten Falle aber—und damit ist auch der richtige Zusammenhang nach vor- und rückwärts gegeben—warnt doch Mephistopheles den Studenten, der das ganze Universum mit seinem Geiste umfassen möchte, vor der Gefahr der Zerstreuung bei der ungeheuren Ausdehnung des Wissensgebietes. Dagegen empfiehlt er nun als gutes Mittel die Logik, die den Geist, der ringsum wissenschaftlich schweifen möchte, in enge Schranken drängt und den vorgeschriebenen Weg zu wandeln zwingt; sie bringt ihm, der sich sonst zerstreuen könnte, die wahre Konzentration. Denn an diese Gegensätze ist hier zu denken, nicht etwa wie Pniower mit völliger Verkennung des bestehenden Zusammenhanges meint, an andre als wissenschaftliche Zerstreuung. Zugleich gewinnt Mephistopheles mit dem »Doch« die erwünschte Gelegenheit, sich dem Thema, das ihm am Herzen liegt, zuzuwenden, wie er ähnlich auch in V. 277 und V. 409 dazu übergeht. Darum gehört auch die Anrede an die Spitze von V. 341 und nicht von 339; denn jetzt erst ist er wieder in seinem Fahrwasser und beginnt die eigentliche Belehrung. V. 339. 340. sind also beim Vortrag herablassend anerkennend und rasch abbrechend zu sprechen, während dann mit V. 341 der lehrhafte Ton in seiner ganzen professoralen Würde einsetzt.

V. 376 bezieht sich dagegen auf den äußeren Gang des Studiums überhaupt; hier ist nicht mehr die Rede von einer inneren Zucht des Geistes durch die verschiedenen Disziplinen der Wissenschaft, sondern von Regelmäßigkeit im Besuch der Vorlesung, im Nachschreiben u.s.w. Pniower hat demnach das »Zerstreuen« falsch verstanden; er ist dazu wohl durch die Änderung verführt worden, die Goethe später an unsrer Stelle vorgenommen, und mit der er dem Zerstreuen einen ganz andren Sinn gegeben hat, V. 1902 spricht Mephistopheles dieselben Worte; darauf folgt aber nicht sogleich seine Spottrede auf die Logik, sondern zunächst schließt sich eine Bemerkung des Schülers an, in der er allerdings das Zerstreuen im anderen Sinne faßt, in dem von Freiheit und Zeitvertreib, die er im ältesten Faust V. 272 bereits in seinem langen Wunschzettel für sich verlangt hatte. Danach warnt ihn der Teufel vor Zeitverlust und gibt ihm als Mittel dagegen die Ordnung an:

»Doch Ordnung lehrt euch Zeit gewinnen.«

Aber auch hier ist Ordnung von der in V. 386 = 1955 gemeinten ganz und gar verschieden; im Grunde ist es dasselbe, wenn hier die Ordnung empfohlen, dort vor der Gefahr der Zerstreuung gewarnt wird; denn auch sie bezieht sich auf den inneren Gang des Studiums, darauf, daß der Schüler hübsch ordentlich den alten Weg trete und mit dem propädeutischem Studium der Logik den Anfang mache. In V. 1955 ist nach wie vor die äußere Ordnung, fleissiger Kollegienbesuch u.s.w. gemeint. Hervorgebracht wurde diese ganze Verschiebung eben dadurch, daß der Dichter alten Bestand (V. 272.) in erweiterter Form hier einfügte, weil es sich so am leichtesten, mit leiser Umdeutung des Sinns von »zerstreuen« machen ließ. Den charakteristischen Zug, das Verlangen nach Freiheit und Zeitvertreib, wodurch der Schüler in Gegensatz zu Wagner tritt, wollte Goethe offenbar bei der späteren Redaktion nicht verwischen. Nachdem dem »Zerstreuen« einmal ein anderer Sinn gegeben war, war nun natürlich am Anfang der Rede des M. (V. 1909 f.) Wechsel im Ausdruck nötig; er setzte daher eine mit der alten Wendung ungefähr gleichbedeutende ein, wobei es ihm im Augenblick gewiß nicht gegenwärtig war, daß er an der späteren Stelle das gleiche Wort schon einmal—allerdings in anderm Sinn—gebraucht habe.—Mit der Annahme von Flickversen ist es also nichts.

Nun ist es allerdings unzweifelhaft, daß die beiden Teile der Scene in Inhalt, Sprache, Metrik verschieden sind; d.h. also, daß mit der Verschiedenheit des Gehalts auch die der Form verbunden ist. Zu dem burlesken Inhalt gehört auch die derbere, volksmäßige Sprache; diese kleidet sich dann von selbst in das Gewand des für sie geeigneten, hier des kurzen, gedrungenen vierhebigen Verses. Dunkel scheint sie nur, wo man sie nicht versteht: für Sentenzen war natürlich kein Raum.

Wie wenig mit derartigen sprachlichen und metrischen Kriterien ohne Zuziehung des gesamten sprachlichen und metrischen Materials zu machen ist, zeigt sich bei Pniowers Untersuchung, wenn er z.B. das Fehlen des pronomen personale beim Zeitwort als Zeitmesser annimmt, der eine frühere Stufe Goethischer Sprache anzeige; aber diese Auslassung findet sich im älteren Götz (1771) gerade seltener wie in dem von 1773. Der vierhebige Vers ist schließlich ebenso wenig ausschlaggebend; er kommt z.B. wie Pniower selbst angibt, in den 76 ersten Versen des Monologs vor, die offenbar ins Jahr 1774 gehören; ebenso in der ersten Scene der Gretchentragödie, im Monolog Valentins, auch noch meist in der Brunnenscene, über deren Entstehungszeit wir noch näheres ermitteln werden; auch Pater Brey wird angeführt, der ja aber auch in die Jahre 1773/74 gehört und nicht so früh zu setzen ist, wie es Pniower thut. Der Brief an Merck, den die Weimarische Ausgabe in den Dez. 1771 setzt, gehört natürlich nicht in diese Zeit.

Es bleibt die wichtigste Frage: Ist es möglich, daß der Dichter zwei an Inhalt so grundverschiedene Teile gleichzeitig gedichtet habe? Darauf ist nur zu sagen, was schon wiederholt betont worden ist, daß der Dichter die derben Scherze des ersten Teiles nicht aus bloßer Freude daran vorbringe, sondern eine bestimmte satirische Absicht habe und auf thatsächlich vorhandene und bekannte Mißstände im Professorentum ziele, der Ton also auch hier professoral sei. Sein eigenes Herz ist nicht bei den Späßen des Professors, sondern bei dem Studenten, der sie mit Entsetzen und Widerwillen vernimmt und immer wieder von dem zu hören verlangt, was ihm das Höchste ist, des Geists Erweitrung. Man könnte noch einwenden, ob sich nicht der Dichter auf einer späteren Entwicklungsstufe vor derartigen derben Scherzen gescheut hätte. Aber das wissen wir ja vom jungen Goethe, daß er seinem Übermut zu jeder Zeit die Zügel schießen ließ, diese Possen aber gerade seit 1773 erst recht in dem kleinen Kreise von Goethes Freunden im Schwange waren. 1775 hat er das derbe Gedicht auf Nikolai geschrieben, ebenso das derbste, was er wohl je gedichtet hat, Hanswursts Hochzeit. Derartige unkünstlerische Auswüchse gehören mit zu der Natur des jungen Goethe; sie zeigen sich in milderer Art auch in seinen größeren Werken neben den herrlichsten Stellen edler Kunst, im Götz und Werther. Es war dies eben eine Folge von der Anschauung der Sturm- und Drangperiode, die wir auch in der Wagnerscene gefunden haben, alles, was aus der Empfindung komme mit der von ihr selbst mitgebrachten Form, sei anzuerkennen. »Die charakteristische Kunst ist nun die einzig wahre.«

Man denke auch an das bezeichnende Wort aus einem Briefe an die Karschin vom Jahre 1775: »Mir ist alles lieb, was treu und stark aus dem Herzen kommt, mags übrigens aussehen wie ein Igel oder wie ein Amor.« Im ersten Teil der Schülerscene siehts nun mehr aus wie ein Igel; aber daraus ist noch kein Schluß auf eine verschiedene Entstehungszeit zu ziehen. Die Einheit der Scene darf nicht bezweifelt werden. Die Frage, wann sie entstanden sei, kann jetzt beantwortet werden.




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