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2019-10-11

Joseph Collin: Untersuchungen über Goethes Faust ....Die Wagner-Scene (7)




1. Die Wagner-Scene.
(V. 169-248 = 522-605 mit Ausschluß der V. 598-601.)

Die Wagnerscene ist bereits im ältesten Faust unmittelbar an die erste Hauptmasse angeschlossen. Der Erdgeist ist verschwunden. Faust will sich seinen Empfindungen über die Erscheinung überlassen, da wird er durch Wagners Klopfen unterbrochen. Er tritt herein in höchst burleskem Gegensatz zu der ungeheueren Erscheinung des Erdgeists. Damit ist von vornherein der Ton dieser ganzen zweiten Scenenreihe angegeben; wir befinden uns besonders bei den beiden ersten auf dem Boden der kecken Fastnachtspiele von 1773/74; der Kampf, den der junge Goethe im Jahre 1772 in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen begonnen hatte, ward in ihnen weiter fortgesetzt. Hans Sachsischer Rythmus bot sich dafür willig dar, und es gilt besonders für jene beide Faustscenen, was der Dichter später in seiner Lebensgeschichte bemerkt, bedeutende Werke, die eine jahrelange, ja eine lebenslängliche Aufmerksamkeit und Arbeit erforderten, seien auf so verwegenem Grunde bei leichtsinnigen Anlässen mehr oder weniger aufgebaut worden.—Die Verbindung zwischen der ersten und zweiten Scenenreihe ist nur wenig eng; sie beruht auf dem Motiv der Störung. Aus der Fülle der Empfindungen gerissen und an das Unbedeutende und Kleinliche seiner Umgebung erinnert zu werden, mochte dem jungen Dichter oft genug begegnet sein. So erzählt er in Dichtung und Wahrheit, wie er in den Tagen, da ihm seine erste Liebe entrissen worden war, in Wäldern sich ergangen und sich in ihm im Wechselgespräch mit der Natur das Gefühl des Erhabenen erzeugt habe. »Die kurzen Augenblicke solcher Genüsse verkürzte mir noch mein denkender Freund; aber ganz umsonst versuchte ich, wenn ich heraus an die Welt trat in der lichten und mageren Umgebung ein solches Gefühl bei mir wieder zu erregen; ja kaum die Erinnerung davon vermochte ich zu erhalten.« So unterbricht hier Wagner Faust in dem Wechselgespräch, das er mit dem Erdgeist in seinem Busen begonnen hatte. Dies Motiv findet sich, wie man richtig gesehen hat, noch öfter bei dem jungen Goethe; in dem Mahometfragment wird ähnlich Mahomet in seiner Erhebung zum Göttlichen durch seine Pflegemutter gestört; im Prometheus wird durch Merkur Prometheus aus der Gesellschaft seiner Geschöpfe gerissen; in Werthers Leiden heißt es einmal: »Ein unerträglicher Mensch hat mich unterbrochen. Meine Thränen sind getrocknet. Ich bin zerstreut«.

Faust wendet sich unwillig ab, als Wagner eintritt; dieser bittet um Verzeihung und erklärt zugleich den Grund seines Kommens. Die Gefühlsausbrüche seines Herrn hat er für Deklamation gehalten! Um ja nichts zu versäumen, wo er etwas bei seinem Professor profitieren könnte, kommt er sogar in tiefer Nacht zu ihm. Handelt es sich doch auch um eine Kunst, die gerade jetzt, wie er behauptet, an der Tagesordnung und darum von besonderer Wirkung sei. Damit ist das Thema des ersten Teils dieser Scene angeschlagen. Es ist der Streit gegen die äußere Form und zwar insbesondere auf dem Gebiet der Rede. Wie soll man, so fragt sich Wagner, zumal wenn man der Welt fast ganz entfremdet ist, sie zu dem Guten überreden? Er glaubt, das durch die äußere Form des Vortrags erreichen zu können. Da bricht denn Faust gewaltig los. Auch die Form muß gefühlt sein; das Gefühl des Redners muß ihn mit seinem Zuhörer verbinden; er muß ein Gefühl dafür haben, was er ihm zu sagen hat. »Deswegen gibts doch eine Form«, schreibt Goethe im Anhang zu Wagners Mercier, »die sich von jener—es war dort die Rede von der äußeren theatralischen Form—unterscheidet, wie der innere Sinn vom äußern, die nicht mit Händen gegriffen, die gefühlt sein will. Unser Kopf muß übersehen, was ein anderer Kopf fassen kann, unser Herz muß empfinden, was ein anderes füllen mag.« Innere Form nennt er sie im Gegensatz zu jener äußerlichen, nach der Wagner verlangt. Nicht nur der Gehalt, auch Form muß aus dem Innern geholt werden; um auf den Menschen zu wirken, muß gerade der Inhalt der Gefühle schon im Innern so geformt werden, daß er dem Gefühl derer entspreche, auf die eingewirkt werden soll. »Gehalt bringt die Form mit«. Weil aber bereits im Inneren mit den Gefühlen, um ihnen wirkende Kraft zu verleihen, eine Art künstlerischer Umformung vorgehen muß, darum erklärt er a.a.O. S. 687: »Jede Form, auch die gefühlteste, hat etwas Unwahres, allein sie ist ein für allemal das Glas, wodurch wir die heiligen Strahlen der verbreiteten Natur an das Herz des Menschen zum Feuerblick sammeln. Aber das Glas! Wems nicht gegeben wird, wirds nicht erjagen, es ist wie der geheimnisvolle Stein der Alchimisten Gefäß und Materie Feuer und Kühlbad.« Aus dem Herzen muß also mit dem Gehalt auch die Form kommen, um die Herzen der Hörer zu bezwingen. Was kann es dagegen bedeuten, mühsam erst die Teile zu einem Ganzen zusammenzuleimen, aus dem von anderen bereits Geschaffenen einzelnes zusammenzutragen, und es dann mit dem Feuer eines fast erloschenen Herzens kümmerlich zu beleben? Was kann das anderes eintragen, als Bewunderung von denen, die selbst nur äußerlich nachzuahmen verstehen und darum auch vom Äußerlichen noch ergriffen werden?

Wagner wagt noch eine Einwendung, mit der er das anfangs Geäußerte (V. 173 = 525.) in veränderter Form nochmals vorbringt:

»Allein der Vortrag nützt dem Redner viel.«

Abermals erregt er seines Herrn heftigen Unwillen. Nicht nur jede andere Form als die der Inhalt selbst mit aus dem Innern bringt, ist zu verschmähen, auch jede äußere Kunst des Vortrags ist abzuweisen. Auch er muß von der im Inneren wohnenden Kraft unmittelbar hervorgebracht werden. Alle Künstelei dabei gehört ins Puppenspiel, auf die Bühne. Was soll es heißen, gleich den Narren mit den Schellen zu läuten und so die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen? Was brauchts der Kunst, um die Gefühle der Freundschaft und Liebe auszudrücken? Was ist es nötig auf die Wortjagd zu gehen, wenn man im Ernst etwas sagen will? Alle diese glänzenden Worte, mit denen jene die Abfälle des Menschenlebens künstlich aufstutzen, was erzeugen sie anders, als leeres Geräusch so unerquicklich, wie wenn im Herbst der Nebelwind durch die abgestorbenen, dürren Blätter säuselt?—Der Dichter bekämpft also in diesem ersten Teile der Scene (V. 169-204 = 522-557) das Äußerliche der Form und das Künstliche des Vortrags, mit denen zugleich Kümmerlichkeit des Inhalts Hand in Hand geht, und verweist dagegen auf das Gefühl. Das Gefühl! Unter diesem Zeichen kämpfte die neue Richtung gegen den Rationalismus der Zeit; es war die Quelle, aus der alles geschöpft werden sollte; also auch Inhalt und Form in Kunst und Dichtung, überhaupt in allem, was der Mensch hervorbringen wollte. Nur das sollte ausgesprochen, dargestellt, gebildet werden, was im Inneren lebendig empfunden war; der Inhalt, der sich sonst so von selbst verstand, ward die Hauptsache. Dabei durfte er am wenigsten durch die künstlichen Schranken einer äußerlichen Form behindert werden, auf deren Ausbildung die vorhergehende Epoche ausschließlich Wert gelegt hatte. Die Kerkerwände der drei Einheiten im Drama wurden gesprengt. »Besser ein verworrenes Stück machen als ein kaltes.« Alle Regeln wurden abgethan, die man mit Mühe aufgestellt hatte, da sie das wahre Gefühl von Natur und den wahren Ausdruck desselben zerstörten. Auch der Ausdruck, die Form muß gefühlt sein. »Die characteristische Kunst«, schreibt der junge Goethe, »ist nun die einzig wahre. Wenn sie aus inniger, einiger, eigener, selbstständiger Empfindung um sich wirkt, unbekümmert, ja unwissend alles Fremden, da mag sie aus rauher Wildheit oder aus gebildeter Empfindsamkeit geboren werden, sie ist ganz und lebendig.« Bei solchen Anschauungen galt Unform und Formlosigkeit mehr als Form, wenn nur der Gehalt aus der Tiefe des Busens kam. »Mir ist alles lieb und wert, was treu und stark aus dem Herzen kommt, mags übrigens aussehen, wie ein Igel oder wie ein Amor,« schrieb Goethe am 17. August an die Karschin. »Der Freiheits- und Naturgeist der Zeit,« bemerkt er später, »der jedem sehr schmeichlerisch in die Ohren raunte, man habe ohne viele äußere Hilfsmittel Stoff und Gehalt genug in sich selbst, alles komme nur darauf an, daß man ihn gehörig entfalte«, weht uns aus solchen Anschauungen entgegen. Darum kennzeichnet er in dem späteren Schema die Scene folgendermaßen: Streit zwischen Form und Formlosem. Vorzug dem formlosen Gehalt vor der leeren Form. Gehalt bringt die Form mit. (Die innere Form.) Die Widersprüche, statt sie zu vereinigen, disparater zu machen.«—Mit ihrer Vereinigung begann für den Dichter selbst eine neue Epoche; er suchte nun bloß den Gehalt in seinem Busen allein, die Form in seinem Geist.

In unserer Fauststelle ist der Kampf gegen leere, äußere Form besonders auf das Gebiet der Rede hinübergespielt. Vor allem ist wohl an die Predigt und den akademischen Vortrag gedacht. Deklamation nannte man damals die Kunst des Vortrags und die Kunst schöne Worte zu machen. Seit Sturms Tagen war dieser leere Formalismus, die Kunst, die Rede mit glänzenden Federn zu schmücken, herrschend geworden. Der Einfluß französischer Rhetorik verlieh ihr im 18. Jahrhundert einen neuen glänzenden Anstrich. Dagegen erhob sich denn auch die neue Gefühlsrichtung, voran ihr Meister, Herder. Die Frankfurter Gelehrten Anzeigen, die vorübergehend 1772 ihr Organ geworden waren, kämpften, wie gegen allen Formalismus und Rationalismus, auch gegen diese Äußerlichkeit.

So schreibt Herder daselbst in seiner Beurteilung von Schlözers Vorstellung seiner Universalhistorie: »Vorstellung, und gewiß viel Theatralisches und Mimisches geht das ganze Büchlein durch. Die ersten Kapitel: »Begriff der allgemeinen Weltgeschichte! Zusammenhang der Begebenheiten! Synchronistische Anordnung,« und im ganzen Verfolg alle Stellen, die es nur einigermaßen werden konnten, sind bloße Deklamation geworden, und in so lautem, gestikulierendem Ton, daß man sich wundern sollte, wie das »der Grundriß zu einem akademischen Kollegio, und Grundriß zur strengsten Wissenschaft, der Historie« sein solle.

»Wir bitten sie, daß sie ihn nirgends zu stark anfassen mögen; er ist ein schönes Krausgewinde aus so mancherlei neuern Schriften aufgewunden, und daher auch so perlend, aber auch so unsicher und schwach, als dergleichen Aufgewinde aus einer andern fremden Textur, wo es eigentlich seinen Sitz hatte, zu sein pflegt.—Ist die französische Deklamation nach diesem Schnitte eine nützliche Neuigkeit? Gewinnen oder verlieren unsere Lehrstühle, wenn sie statt Vorlesungen, Reden, und statt Lehrbücher zierliche Feuerwerke von Luftschwärmern bekommen?« u.s.w. Herder scheint zu reden, wenn es S. 343. 19 ff. heißt: »allein, überall herrscht nichts als ein schwüler Deklamationshimmel, der das Leere der Thomasischen Schöpfung bedenkt. Statt einzelner psychologischer Schritte, und langsamer Schläge des psychologischen Ahndungsstabes, das krauseste Labyrinth eines französischen Ballets.« Wie der Meister, so auch der Schüler. In der unbezweifelt Goethischen Beurteilung von Sulzers schönen Künsten lesen wir: »Wir erstaunen, wie Herr S., wenn er auch nicht drüber nachgedacht hätte, in der Ausführung die große Unbequemlichkeit nicht fühlen mußte, daß, so lange man in generalioribus sich aufhält, man nichts sagt, und höchstens durch Deklamation den Mangel des Stoffes vor Unerfahrenen verbergen kann«. Vielleicht, spricht auch S. 552 Goethe: »Das ganze Werk schwimmt in Deklamation.« Mit deutlicher Beziehung auf die Predigtart erklärt dann wieder Herder in den Provinzialblättern von 1774: »Akteurs sollen Prediger und können nie sein.«

Herderscher Geist ist es also, der sich hier im Kampf gegen alles leere Wortgepränge und jede künstliche Vortragsweise mit dem gleichgestimmten des jungen Goethe verbindet. Selbst die Bezeichnung der urteillos bewundernden Menge ist in Herders Ton. Kinder und Affen nennt sie Faust, so wie sie im Jahrmarktsfest der Zigeunerhauptmann, unter dessen Maske bekanntlich Herder verborgen ist, Kinder und Fratzen, Affen und Katzen, schilt.

In dem zweiten Teile der Scene schlägt Wagner ein neues Thema an. Auch hier zeigt sich sein Gegensatz zu Faust aufs schärfste. Er beginnt von seinem Streben zu reden, das aber nur wissenschaftlich ist. Auch er fängt gleich Faust im ersten Monolog mit einem Seufzer an. Hat Faust alle Wissensgebiete durchforscht und ist unbefriedigt, des Lebens überdrüssig zurückgekommen, so scheint Wagner das Leben zu kurz im Verhältnis zur Wissenschaft. Nach ihren Quellen sehnt er sich, wie Faust nach dem Quell des Lebens; bang fragt sich jener, wie er zu ihnen gelange. Wir sehen also, wie der Dichter die beiden Strebenden scharf und deutlich kontrastiert hat.

Gegen solche kümmerliche Anschauung erhebt sich Faust wieder: das Pergament sollte die heilige Quelle sein, daraus dauernde Befriedigung zu schöpfen wäre? Auch Erquickung ist nicht draußen zu suchen, nicht etwa in Büchern zu finden; wiederum verweist er ihn auf sein eigenes Gefühl; nur aus eigener Seele vermag sie zu quillen. In diesem Sinne schreibt der Dichter an Merck:

Nicht in Rom, in Magna Gräcia,
Dir im Herzen ist die Wonne da!

Allein Wagner kennt gar nicht diesen Drang nach Befriedigung und Erquickung. Ihm genügt es schon, worin sich der Dünkel des Gelehrten herrlich offenbart, sich, wie er es stolz nennt und es seit Montesquieu Mode geworden war, in den Geist der Zeiten zu versetzen, das Wissen vergangener Zeiten kennen zu lernen und dann im Hochgefühle des gewonnenen Fortschritts auf sie von der Höhe der eigenen erleuchteten Zeit herabzublicken. Beides fordert Fausts Spott heraus. Indem er an seine dünkelhafte Überhebung anknüpft, weist er ihn auf das Unzugängliche seines Strebens hin. Die Zeiten der Vergangenheit sind uns ein verschlossenes Buch. Was da die Forscher den Geist der Zeiten heißen, ist im Grunde nur der Herren eigener Geist; jenachdem er ist, spiegelt sich die Geschichte ab. Was kommt aber dabei zum Vorschein? Man hat nur Sinn für den Kehricht und das Gerümpel einer Zeit, um darin zu wühlen und Nachlese zu halten; wenns hoch kommt, ergibt sich die Darstellung eines äußerlich glänzenden Ereignisses mit der Zugabe von trefflichen pragmatischen Maximen, wie sie ins Puppenspiel gehören.

Mit dieser spöttischen Polemik betreten wir wieder den Kampfplatz der neuen Richtung. Hier gilt die Fehde dem unhistorischen Verfahren der Wissenschaften, dem armseligen Kleingeist, der in der Vergangenheit nur einen großen Trümmerhaufen sieht, in dessen Wust er Scherben und Auskehricht sammelt; sie gilt dem Pragmatismus in der Geschichtschreibung, der Sucht, sofort aus allem allgemeingültige Maximen, die nun so ohne weiteres für uns brauchbar sein sollen, aufzuklauben;—und bei all der Kläglichkeit noch die lächerliche Überhebung des aufgeklärten Zeitalters! Herder, der Schüler Hamanns, ist auch hier der Führer im Streit. Mit den schärfsten Waffen hat er vor allem gegen unhistorische Auffassung der Vergangenheit auf allen Gebieten in Wissenschaft und Kunst angekämpft. Er hat das Beispiel gegeben, wie man sich in der That völlig in die Zeiten der Vergangenheit versetzen, den modernen Menschen abstreifen, liebevoll die Schwingungen des menschlichen Geistes auf jedem Boden, im Morgen- und Abendland, in jeder Zeit, im Altertum und Mittelalter, erkennen und sie aus sich begreifen müsse. Damit waren die verschütteten Quellen der Vergangenheit wieder eröffnet, neu und lebendig strömten sie wieder hervor, frische Kraft konnte wieder aus ihnen geschöpft werden, um das ganze geistige Leben zu erneuern. In den Fragmenten über die neuere deutsche Litteratur wird dieser Standpunkt zum ersten Mal auf diesem Gebiete in seinem vollen Umfang und seiner mächtigen Bedeutung für sie geltend gemacht. In den Frankfurter Gelehrten Anzeigen ist der Kampf mit einzelnen Vertretern der unhistorischen Auffassung auch auf anderen Gebieten im vollen Gange. Gegen das Mosaische Recht von Michaelis, wobei sich uns zugleich ein dem Wagnertypus in manchem ähnliches Gelehrtenbild zeigt, begründet er z.B. seinen Tadel so: »denn nichts ist eigentlich aus dem orientalischen Geist der Zeit, des Volkes, der Sitte erklärt, sondern nur überall Blumen eines halb orientalischen, gut europäischen common-sense herübergestreut, der weder den tiefen Forscher noch den wahren Zweifler und den Morgenländer, der Ader seines Stammes fühlet, am wenigsten befriedigen werden. Gewisse Dinge von diesen ließen sich auch selbst mit der zuversichtlichen Miene des Herrn M. gewiß nicht ganz geben; wer aber mit der Geschichte nur buhlet, nur die Gabe hat aufzustutzen und einzukleiden, wo man die Wahrheit eben nackt sehen will—Phyllida meam non habeto! Hier ist alles nur immer im Geiste unsres Jahrhunderts behandelt, dem guten Moses politische Maximen geliehen, die selbst bei uns doch nur oft loci communes sind, und jenem Volk, jener Zeit, jenem Gesetzgeber wahrhaftig fremde waren.

Im gleichen Sinne kämpft auch der junge Goethe, schon ganz im Sinne unserer Stelle schreibt er über eine Schrift von Sonnenfels: »Von Geheimnissen (denn welche große historische Data sind für uns nicht Geheimnisse?), an welche nur der tieffühlendste Geist mit Ahndungen zu reichen vermag, in den Tag hinein zu raisonnieren!—Durchaus werden die Gesetze en gros behandelt; alle Nationen und Zeiten durch einander geworfen; unsrer Zeit solche Gesetze gewünscht und gehofft, die nur einem erst zusammengetretenen Volk gegeben werden konnten«. Man vergleiche auch vorher die bekannte Äußerung über Römerpatriotismus! Vielleicht redet auch er am Schlusse einer in der Hauptsache Schlosserschen Rezension; er (oder Herder?) in der Beurteilung von Bahrdts Eden, dem vorgeworfen wird, in Moses Bestandteile deutscher Universitätsbegriffe des 18. Jahrhunderts aufgedeckt zu haben.

Diesen Kampf haben beide auch später noch fortgesetzt. Herder hat immer und immer wieder diesen Grundgedanken verfochten, besonders in der Ältesten Urkunde, in Auch eine Philosophie der Geschichte u.s.w. Der junge Goethe in der Baukunst gegen den Abbé Laugier, ebenso in seinen Satiren, die noch von der im Jahre 1772 erweckten Fehdelust eingegeben sind. Wieland wird wegen seiner unhistorischen Auffassung griechischen Heldentums, Bahrdt wegen der der Evangelisten derb verspottet.

Mit dieser verfehlten Anschauung verband sich nun meist der kümmerliche Sinn für allen Wust und Kram der Vergangenheit, von dem nicht genug auf einen Haufen zusammengetragen werden konnte. Die Ausdrücke, die Goethe dafür gebraucht, gehören wieder ganz der Coteriesprache der neuen Richtung an; »ein Haufen von Scherbengerät«—so bezeichnet Herder ein Werk, das statt auf den Boden und in den Geist des Orients zu versetzen, allen möglichen Kram vom Wege aufliest; von demselben: ein Haufen Totenbeine ohne Geist und Leben! Trödelkram nennt Herder alle wissenschaftliche Beschäftigung seiner Zeit kurzweg in seiner Beurteilung von Deninas Staatsveränderungen. Archäologischer Trödelkram! urteilt der junge Goethe in seiner Rezension von Seybolds Schreiben über Homer.

Nicht minder eifern beide gegen den Pragmatismus und die Lust, sogleich Maximen aufzustellen, die nicht besser sind als die Gemeinplätze im Puppenspiel. Herder lobt Denina, »da er nicht so sehr malet und raffiniert, und Maximen von Staatsveränderungen sucht als die Franzosen, die jetzt fast aller Welt den Geschichtton angegeben haben: sondern auch dem Wurf der Begebenheiten, dem Schicksal, was die Welt leitet, viel, und vielleicht nur manchmal zu viel einräumet.«—Weiterhin ruft er aus: Wer da weiß, was es für eine Schaumblase sei, was man Maxime nennt? wie schwer und selten ein Mensch ihr immer und deutlich und als Hauptführerin folget; wie unmöglich, daß ihr Menschen Jahrhunderte folgen?—Von Maximen aber, die in der That für den Menschen etwas bedeuten, spricht offenbar der junge Goethe das schöne Wort: »Doch diese Maximen verwebt die Natur selbst in große Seelen; bei ihnen hören sie auf Maximen zu sein und werden bloß Gefühl.

Bei all dieser Kümmerlichkeit und Kleinlichkeit auch noch der dünkelhafte Stolz auf das erleuchtete Zeitalter! So nannte es sich selbst, so spottete die gegnerische Richtung; z.B. Herder in der zuletzt angeführten Rezension; Goethe über einen ungeschickten Angriff auf die erleuchteten Zeiten; »aberweises Jahrhundert von Litteratoren« nennt er es in der Satire auf Wieland. Am schärfsten ist wieder Herder in den Schriften jener Zeit, so in der Ältesten Urkunde: Celten und Scythen, Äthiopier und Indier, Araber und Perser, Chaldäer und Griechen—hier läßt sich ein Berg Pflaumfedergelehrsamkeit zusammenblasen: »wie unwissend alle über den philosophischen Ursprung der Dinge! Zerduscht und Hermes, Orpheus und Pythagoras, Plato und summus Aristoteles, Zeno und Thales—wie elend sie erbauet«—aber Wir! Wir!

Besonders ist es die kleine Schrift: »Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit,« die das Thema, wie wirs denn so herrlich weit gebracht, in mannigfachster Weise anschlägt. Eine Stelle sei hervorgehoben, weil sie auch sonst an Faust anklingt: Warum endlich trägt man den Roman einseitiger Hohnlüge denn in alle Jahrhunderte, verspottet und verunziert, damit die Sitten aller Völker und Zeitläufte, daß ein gesunder, bescheidener, uneingenommener Mensch ja fast in allen sogenannt pragmatischen Geschichten aller Welt nichts endlich mehr als den ekelhaften Wust des Preisideals seiner Zeit zu lesen bekommt? Der ganze Erdboden wird Misthaufe, auf dem wir Körner suchen und krähen! Philosophie des Jahrhunderts.

Goethischer Geist hat sich also in diesem zweiten Teile der Wagnerscene mit dem verwandten Herderischen zu einer scharfen Kritik des kleinlichen, dabei sich überhebenden Geistes der Wissenschaft am Ende des 18. Jahrhunderts verbunden. Angeregt in dieser Weise Stellung zu nehmen im Widerspruch mit einer Epoche, in der common-sense und verwässerte französische Aufklärung sich ungebührlich breit machten, ward der junge Goethe zuerst durch die Bekanntschaft mit Herder in Straßburg, vor allem aber durch seine thätige Teilnahme an dem frischen, fröhlichen Feldzuge der Frankf. Gel. Anzeigen vom Jahre 1772. Auf diesem Boden erwuchsen die satirischen Ausfälle der Jahre 1773 und 1774, alle, wie er selbst zugesteht, aus der durch Herders scharfen Humor veranlaßten Unart entsprungen; in ihre Reihe gehören auch die satirischen Scenen im Faust.

Wagner versucht nun, wie am Schluß des ersten Teils der Scene, noch einen Einwand zu machen. Wagt er es auch nicht etwas auf Fausts Skepticismus über menschliche Erkenntnisfähigkeit auf dem Gebiet der Geschichte zu erwidern, so lenkt er doch seinen Blick auf ein anderes, auf die Kenntnis der Welt und des inneren Menschen; »Kenntnis des menschlichen Herzens, wie man es damals nannte.« Auch danach verlangte ja das Jahrhundert. Statt des Wissens suchte man nach Erfahrung. Aus Dichtung und Wahrheit ist bekannt, wie der junge Goethe ebenfalls danach Verlangen trug und wie er von Behrisch beschieden ward. Das eigentliche Studium des Menschen sei der Mensch selbst, hieß es; Pope schreibt seinen Versuch vom Menschen; andre folgten, wie Hartley, Hemsterhuis. Es schob sich damit ein Keil hinein in die trockene Schulweisheit der Zeit. Der trockene Schwärmer Wagner macht also auch diese Mode mit. Die am Anfang des neunten Buches von Dichtung und Wahrheit angeführte Stelle der Allgem. deutschen Bibliothek zeigt uns diese Gegensätze. »Die Philosophie«, fügt Goethe dort hinzu, »mit ihren abstrusen Forderungen war beseitigt, die alten Sprachen, deren Erlangung mit so viel Mühseligkeit verknüpft ist, sah man in den Hintergrund gerückt, die Compendien, über deren Zulänglichkeit uns Hamlet schon ein bedenkliches Wort ins Ohr geraunt hatte, wurden immer verdächtiger, man wies uns auf die Betrachtung eines bewegten Lebens hin, das wir so gerne führten, und auf die Kenntnis der Leidenschaften, die wir in unserem Busen teils empfanden, teils ahneten, und die, wenn man sie sonst gescholten hatte, uns nunmehr als etwas Wichtiges und Würdiges vorkommen mußten, weil sie der Hauptgegenstand unserer Studien sein sollten, und die Kenntnis derselben als das vorzüglichste Bildungsmittel unserer Geisteskräfte angerühmt ward. Überdies war eine solche Denkweise meiner eigenen Überzeugung, ja meinem poetischen Thun und Treiben ganz angemessen«. So scheint es auch Goethe zu sein, der ein Werk, das sich mit diesen Fragen beschäftigte, in den Frankf. Gel. Anzeigen beurteilte.

Allein Wagner wird auch von der Pforte dieser Erkenntnis zurückgewiesen; ist sie auch nicht unmöglich, so ist doch die wahre Erkenntnis auf wenige beschränkt; für sie bringt sie aber nur, falls sie ausgesprochen wird und nicht im Innern bewahrt bleibt, schwere Gefahr. Denn trotz aller gerühmten Toleranz, für die der junge Goethe selbst in seinem Schreiben des Pastors eingetreten war, wo er gefordert hatte, sie dürfe nicht aus Gleichgültigkeit entspringen, sondern müsse auch aus dem Herzen kommen, war es auch im 18. Jahrhundert noch gefährlich dem Pöbel sein Gefühl und Schauen zu offenbaren. Der Verfasser der oben erwähnten Schrift z. B. befürchtet üble Folgen für sein Buch aus dem Verfolgungsgeist dieser Zeiten. Der Rezensent fügt hinzu: »Wir können ihm dafür nicht bürgen, ob es gleich sehr unrecht wäre, eine Untersuchung, die den Menschen nur auf einer Seite betrachtet, zu verdammen, die Betrachtung der anderen Seite kann alles wieder gut machen. Doch wenn man verdammen will, wer denkt daran!« In seinem Traktat über die Toleranz aber schreibt der junge Goethe: »Genung, die Wahrheit sei uns lieb, wo wir sie finden.—Und wem darum zu thun ist, die Wahrheit dieses Satzes noch bei seinem Leben zu erfahren, der wage, ein Nachfolger Christi öffentlich zu sein, der wage sichs merken zu lassen, daß ihm um seine Seligkeit zu thun ist! Er wird einen Unnamen am Halse haben, ehe er sichs versieht, und eine christliche Gemeine macht ein Kreuz vor ihm«.

Faust bricht die Unterredung, für die Wagner keine bessere Bezeichnung als gelehrt weiß, ab; Wagner entfernt sich. Der Gegensatz ihres Wesens tritt Faust noch einmal lebhaft vor die Seele. Er selbst greift nach dem Höchsten; da es ihm nicht wird, schwindet ihm alle Hoffnung—und Wagner verliert sie nie, der bei seinem Streben am Kleinlichsten haften bleibt und mit dem Niedrigsten sich begnügt. Der kranke Adler, dessen Schwingen gelähmt sind, und die selbstgenügsame Taube!

Mit wenigen, aber kräftigen Strichen hat der Dichter das Bild des kleinen Gelehrten hingeworfen, dem gegenüber das Fausts um so heller strahlt. Er scheint uns der Typus des kleinen Gelehrten überhaupt zu sein, obwohl er ganz mit den Farben des 18., keines Falls des 16. Jahrhunderts gemalt ist. Einzelne Züge boten sich Goethe allenthalben da, selbst bei den Angesehensten der Zeit. Er vereinigte sie zu einem Bilde. So entstand Wagner, der trockene Schwärmer, der sich ohne Begeisterung für alles, was in der Wissenschaft Mode geworden ist, begeistert, »ein Typus von der Fruchtteuerung und dem Kleingeist des Jahrhunderts«, einer von denen, »quibus peiore ex luto finxit praecordia Titan,« einer jener unselbständigen, dabei eingebildeten Köpfe, die überall stoppelnd und Nachlese haltend, ihr Unwesen trieben, vom Schlage jenes Gießer Professors Chr. H. Schmid, den einst Herder in einer Rezension zusammengehauen, den Goethe bei seinem Besuche in Gießen so ergötzlich verspottet und auch im Jahrmarktsfest mitgenommen hatte. Doch fehlen bei Goethe alle individuellen Beziehungen; er hat ein allgemeines Zeitbild geschaffen, während Maler Müller in dem Zerrbild des Magister Knellius mehr einzelne, allerdings niedrigste und gemeinste Züge verwendet und vielleicht in der That auch dabei an Schmid gedacht hat. Goethes Freunde aber, die den Faust schon in Frankfurt kennen gelernt hatten, haben wohl, besonders da Goethe über die Freuden des jungen Werthers sehr ungehalten war, bei Wagner auch an Nicolai gedacht.




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