Die Erdgeistscene und der Schluß des ersten Monologs.
(V. 107-168 = 460-521.)
Auch beim Anblick des Zeichens des Erdgeistes äußert sich zuerst die Wirkung, die von ihm auf Faust ausgeht; aber sie ist anderer Art als die war, die vom Makrokosmus auf ihn überging. Nachdem der Rausch des Entzückens vorüber ist, fühlt er selbst, daß zwischen dem Weltgeist und ihm keine unmittelbare Beziehung bestehe. Wie sollte er mit ihm so in Verbindung kommen, daß eine dauernde, nachhaltige Wirkung möglich wäre? Was blieb schließlich übrig als eine Förderung seiner Erkenntnis, seines Schauens? Ganz anders beim Erdgeist; er ist ihm näher; bei seinem Anblick fühlt er sofort seine thätigen Kräfte erregt, gesteigert. Sein Geist ist über ihn ergossen und von ihm erfüllt, redet er sofort in seiner Sprache. Zu was treibt er ihn mit nicht geheimnisvollen Trieb? Wage dich hinein ins Leben; erlebe diese Erdenwelt mit ihrem Weh und Glück, Leid und Freud, schlage dich tapfer mit allen Stürmen herum, und wenn dein Schiff im Sturm zerschellt, so mögen den Unerschrockenen die Trümmer zerschlagen! Zum Leben also wird er aufgefordert, er, der übereilt, ohne je gelebt zu haben, aus dem Quell des Lebens selbst zu schöpfen sich vermaß. Mächtig quillt jetzt die Kraft zum Leben in ihm auf, d.h. auf dieser Erde das dem Menschen Beschiedene zu tragen, tapfer zu kämpfen und ebenso unterzugehen. »Es möcht kein Hund so länger leben« rief er aus beim Rückblick auf sein eben abgeschlossenes Leben. Wie anders jetzt? Wie anders auch als Werther? Faust hat in dem Erdgeist den Geist des Erdenlebens erkannt; d.h. in ihm selbst schlummert dieser Teil vom Wesen desselben; er ist mit ihm darin verwandt und dadurch zieht er ihn an. Sofort kündigt sich daher sein Erscheinen an. In gewaltiger Erregung nimmt er die Anzeichen wahr; er fühlts, daß der erflehte Geist um ihn schwebe; er fordert ihn auf, sich zu enthüllen. Neue, nie gekannte Gefühle ringen sich von seinem Herzen los, und dieses Herz in seiner ganzen gesteigerten Anziehungskraft gibt sich liebend dem Geiste hin. Vergebens; Er muß ihn beschwören; er faßt das Buch und spricht sein Zeichen geheimnisvoll aus; in einer Flamme erscheint der Geist in widerlicher Gestalt.
Eine doppelte Beschwörung also! Einmal durch die Anziehungskraft, die Fausts Geist ausübt, insofern er dem Erdgeist ähnlich ist. Er erkennt eine Seite seines Wesens, die auch er in sich trägt; damit zieht er ihn an. Allein diese geistige Art der Beschwörung genügt nicht; er muß zu den magischen Formeln greifen und ihn so zu sich zwingen. Warum nun diese doppelte Beschwörung? Offenbar nimmt auch hier wieder der moderne Dichter Stellung zu den Überlieferungen der alten Sage. Für ihn gibt es nur eine Art der Beschwörung, eine mit der Zeit mehr und mehr sich steigernde Geistesverwandtschaft, die endlich den lang erflehten Geist uns zu eigen macht, daß er uns alles offenbare, so wie Erwins Geist dem wieder und wieder Betrachtenden erschien, ihm seine Geheimnisse zu enthüllen. Allein das ist keine Beschwörung, wie sie die Sage von Faust fordert, der sich der Magie ergeben hat. Darum muß er, zugleich wohl wissend, welchen Vorteil die alten Formen der Sage grade dem Dichter bieten, seinen Helden sich ihrer bedienen lassen; aber auch hier fehlt nicht die tiefere Begründung dafür, daß der Geist sich nicht enthüllt. Denn wie wir noch sehen werden, hat Faust sein Wesen nur zum Teil erkannt; er ist noch nicht völlig mit ihm eins geworden; sein ganzes Wesen wird von ihm nicht begriffen: er kündigt sich an, aber er enthüllt sich nicht. So muß denn doch die Zauberformel dran. Der Geist erscheint nun in körperlicher Gestalt.
Scherer hat diesen Zusammenhang nicht erkannt; er bemerkt zu V. 123 = 475: »aber der Geist ist noch gar nicht erfleht. Faust hat ihn noch mit keinem Wort um sein Erscheinen gebeten.« Er versteht also nicht, wie in den Versen 111-114 = 464-467 auch eine Beschwörung enthalten sei;
er übersieht, daß der Geist später selbst erklärt, was ihn im Grunde hergerufen habe, der Seele mächtig Flehen, der Seele Ruf. Die Beschwörung von innen heraus, aus dem mächtig verlangenden und sich doch hingebenden Herzen ist dem Dichter bedeutungsvoller als die durch Zauberformeln. Scherer kommt durch dies Mißverständnis zu dem ganz verkehrten Schlusse, die Erdgeistscene, die er erst mit V. 115 = 468 beginnen läßt, sei nicht von Anfang an bestimmt gewesen, sich unmittelbar an das übrige anzuschließen. Auch seine Einteilung ist wieder falsch; denn ohne Frage beginnt ein neuer, vierter Teil der ersten Hauptmasse mit V. 107 = 460.—Welch ungeheuerlichen Folgen diese Irrtümer haben, lese man a.a.O. S. 323 nach, wo er vor der Erdgeistscene ganze Akte hinzudichtet!
Der Erdgeist ist Faust in widerlicher Gestalt erschienen; er wendet sich entsetzt von der schrecklichen Erscheinung ab. Der Geist muß ihn daran erinnern, wie er lange an seiner Sphäre (der Kreis, den seine Wirksamkeit erfüllt) gesogen habe; allein er erträgt den Anblick nicht; er erliegt unter der Gewalt der Erscheinung. Er selbst hat ihn erfleht, gerufen aus der Tiefe seines Wesens heraus; und nun, da er ihm gefolgt, wird der Übermensch, der sich in titanischem Drang den Geistern gleich zu heben vermaß, von erbärmlichem Grauen gefaßt, zittert er bis in alle Tiefen seines Lebens hinein, aus denen er sich empor zu ihm drang, dem Wurm gleich, der von dem Tritt des Wanderers sich wegkrümmt. Da rafft sich Faust auf. Nach dem Höchsten hat er gestrebt, vor dessen Bild er eben noch entzückt gestanden, und er soll der Flammenbildung weichen! Er findet sich wieder, er ist Faust, ist seinesgleichen.
Was hier der Erdgeist ihm zuruft, ist wichtig für Fausts Charakteristik. Es ergänzt das Bild, das er im Eingang von sich selbst gegeben hat, und fügt den im allgemeinen der Sage entsprechenden Zügen neue modernerer Art hinzu. Jetzt sehen wir deutlicher sein mächtiges Streben vor uns; jetzt verstehen wir besser, warum ihm alles Wissen nicht genug that. Ein titanischer, übermenschlicher Drang beseelt ihn, sich den Geistern gleich zu heben. Der Dichter gibt also dem Faust der Sage sein eigenes unendliches Verlangen—für ihn müssen wir sagen,—sich zu dem Göttlichen zu erheben, wie es auch einst Werther vor den Tagen seiner Leiden gefühlt hat. Allein bei ihm wird es abgelenkt auf eine Leidenschaft, und durch sie und in der Enge bürgerlicher Beschränkung aufgerieben. Bei Faust stellt sich dagegen das Problem von vornherein anders. Sein Unendlichkeitsstreben sollte innerhalb der Grenzen der Menschheit das Höchste leisten und nicht in der Glut einer unbefriedigten Leidenschaft untergehen. Werther war die unglückliche Blüte dieser Epoche im Leben des Dichters, Faust sollte die glücklichere werden.
Die Fülle seines eigenen reichen Lebens hat also Goethe in die Form der alten Sage gegossen; seine ganze Vergangenheit hat er Faust im voraus mitgegeben. Darum kann sich auch jener dem Erdgeist näher fühlen, kann dieser von ihm sagen, er habe an seiner Sphäre lang gesogen. Der Faust, der nach der Sage sich in unfruchtbarem Wissen gequält, hat zugleich auch die titanische Seele seines Dichters. Damit erledigt sich auch Scherers Bedenken über V. 131 = 484, Faust habe noch nicht lange an der Sphäre des Erdgeists gesogen.
Da Faust sich für seinesgleichen erklärt hat, enthüllt ihm nun der Geist die ganze Tiefe seines Wesens: In den Fluten des Lebens, im Sturm der Thaten ist er das bewegende und erregende Element. In Geburt und Grab, dem ewigen Wechsel von Vergehen und Entstehen, gleich einem ewig auf- und abwogenden Meere, offenbart er sich belebend und zerstörend. In dieser Weise schafft er immer wieder von neuem am sausenden Webstuhl der Zeit und wirkt das lebendige Kleid der Gottheit, d.h. die Hülle, in der sie immer wieder in Erscheinung tritt. Was ist danach der Erdgeist? Er ist offenbar der Geist des Lebens der Erde, als welchen ihn auch Faust sogleich erkannt hat; aber nicht bloß in jenem beschränkten Sinne; auch nicht bloß des Naturlebens, sondern des Lebens in jedem und im weitesten Sinne; er ist also auch der Geist des thätigen, handelnden Lebens; er ist überhaupt der Geist des Lebens, wie es sich auf der Erde von Stufe zu Stufe aufsteigend überall im Niedrigsten und im Höchsten offenbart. Wer ihn ganz begreifen will, muß ihn in der ganzen unendlichen Fülle dieses Lebens begreifen. In dem späteren Schema bezeichnet ihn Goethe mit seinen wesentlichsten Merkmalen als Welt- und Thatengenius. Als solcher offenbart er sich nicht nur als schaffendes Princip, sondern auch als zerstörendes. Er läßt die Welle des Daseins sich heben und wieder senken. Er schafft so als einwohnende schöpferische Ursache immer wieder von neuem die lebendige Welt der Erscheinung, das sichtbare Kleid der Gottheit.—Wie bildete sich nun der Dichter diese Anschauung? Zunächst konnte er sich wieder an die alchemistische Überlieferung anschließen. Sie gab allen Planeten, also auch der Erde ihren Geist. Man braucht dazu keine nähere Kenntnis des Giordano Bruno anzunehmen. Es war dies der allgemeine Glaube jener Zeit. Endlich war auch in der eigenen Zeit ein neuer Geisterseher erstanden: Swedenborg. Goethe nennt ihn am Schlusse der schönen Recension über Lavaters Aussichten in die Ewigkeit: »den gewürdigten Seher unsrer Zeiten, rings um den die Freude des Himmels war, zu dem Geister durch alle Sinnen und Glieder sprachen, in dessen Busen die Engel wohnten.« Er glaubte an eine große immaterielle Welt, zu der die Intelligenzen, die mit Körpern verbunden sind, oder nicht, die empfindenden Subjecte in allen Tierarten, und endlich alle Principien des Lebens gehören. Der dichterischen Phantasie des jungen Goethe, die alles beseelte und überall hinter der Erscheinung das Wehen des schöpferischen Geistes spürte, mußte eine solche alles mit Geist und Leben erfüllende Anschauung besonders zusagen. Fühlte er nicht in sich selbst den Genius? Sprach nicht aus allem ein Geist? Aus Erwins Meisterwerk hatte einst der Geist des Erbauers zu ihm geredet. Sein Wanderer erschaute auch aus den Trümmern des Tempels den Genius des Meisters:
Glühend webst du
Über deinem Grabe,
Genius!
Den Genius des Vaterlandes fleht er um den künftigen jungen Dichter, den er nach seinem Bilde gezeichnet. Wie leicht konnte sich daher sein Geisterglaube mit dem früherer Zeiten verbinden und sich so die Vorstellung eines Erdgeistes von neuem daraus entwickeln! Er wird ihm nun zu einem Geist des Lebens in allen seinen Erscheinungen auf der Erde, vom niedrigsten bis zum höchsten, vom sich unbewußten bis zum bewußten, vom leidenden bis zum im höchsten Sinne thätigen Leben; zugleich ruht in ihm das Princip des Lebens, das abwechselnd schafft und zerstört, um so immer wieder neues Leben zu haben.
Dieser Wechsel zwischen Zerstören und Schaffen hatte Goethes Teilnahme bei seiner Betrachtung der Natur von Jugend auf erregt. Uralte, die Menschen zu allen Zeiten bewegende Fragen knüpfen sich daran an. Hat der Mensch nur vor allem einen Blick für das zerstörende, übersieht er das schaffende Princip, so leuchtet es ein, wie verhängnisvoll ein solcher einseitiger Standpunkt für die Auffassung und den Gang seines Lebens werden muß. Die Weltanschauung, die die Vergänglichkeit und Eitelkeit alles Irdischen auf das stärkste betont, all der düstere, weltfeindliche Pessimismus wurzelt hier. Auch der junge Goethe ist von dieser Seite des Irdischen lebhaft berührt worden und hat zu ihr Stellung genommen; am schönsten in dem Gedicht »Der Wandrer«, das noch vor dem Wetzlarer Aufenthalt im Frühling 1772 entstanden ist. Zunächst sieht der Wanderer auf seinem Gange nur die traurigen Reste der Zerstörung:
Säulenstümpfe, erloschene Inschriften, Trümmer eines Tempels. So wenig schützt also die Natur das Werk ihres Meisters; unempfindlich zertrümmert sie ihr Heiligtum. Da wird der Blick des Klagenden vom Tode abgewendet und an das Leben gemahnt. Die Bewohnerin dieser Trümmer gibt ihm ihren blühenden Knaben in den Arm,—ein herrliches Übergangsmotiv!—der, über den Resten der Vergangenheit geboren, einem neuen Leben entgegenwächst. Jetzt ist sein Auge geöffnet; ringsum sieht er die blühende und grünende Natur; die Schwalbe, die am Architrav ihr Nest gebaut, die Hütte, die der Mensch zwischen Trümmern erbaut, er genießt über Gräbern. Natur, du ewig keimende, ruft er aus, schaffst jeden zum Genuß des Lebens! Damit war also alle einseitige Naturbetrachtung verworfen. Nicht dazu sind wir geschaffen, allein die Vergänglichkeit zu sehen und darüber zu klagen; denn überall erwächst wieder aus dem Tod neues Leben, das zu genießen wir da sind. Denselben Standpunkt vertritt Goethe in der Recension über Sulzers schöne Künste vom 18. Dezember 1772. »Sind die wütenden Stürme, Wasserfluten, Feuerregen, unterirdische Glut und Tod in allen Elementen nicht ebenso wahre Zeugen ihres (der Natur) ewigen Lebens als die herrlich aufgehende Sonne über volle Weinberge und duftende Orangenhaine? Was würde Herr Sulzer zu der liebreichen Mutter Natur sagen, wenn sie ihm eine Metropolis, die er mit allen schönen Künsten als Handlangerinnen erbaut und bevölkert hätte, in ihren Bauch hinunterschlänge?«
Man weiß, welch mächtigen Eindruck das Erdbeben von Lissabon (1. Nov. 1755) auf alle Zeitgenossen und auch auf den frühreifen Knaben Goethe gemacht hat. Man benutzte es damals als gräßliches Argument gegen den Optimismus und seinen Grundsatz, alles sei gut. Vergebens suchte sich sein junges Gemüt gegen diese Eindrücke herzustellen. Nach und nach vergißt er aber die Zornesäußerungen über die Schönheit der Welt und die mannigfache Güte, die uns darin zu teil wird. So gelang es ihm allmählich einen Standpunkt einzunehmen, von dem aus er zwischen Pessimismus und Leibnitz-Popischem Optimismus einen glücklichen Ausweg fand:
»Was wir von Natur sehen, ist Kraft, die Kraft verschlingt; nichts gegenwärtig, alles vorübergehend; tausend Keime zertreten, jeden Augenblick tausend geboren; groß und bedeutend, mannigfaltig ins Unendliche, schön und häßlich, gut und bös, alles mit gleichem Rechte nebeneinander existierend«.
In humoristischer Weise findet sich diese Naturanschauung als Kampf ums Dasein behandelt im Monolog des Einsiedlers im Satyros. Sehr bezeichnend aber hat der kranke Werther allein ein Auge für die zerstörende Seite der Natur; er, der früher überall mit vollem warmen Gefühl die schaffende Natur gesehen, sieht jetzt nur noch die zerstörende Kraft in der Natur. Der Schauplatz des unendlichen Lebens wandelt sich vor ihm in den Abgrund des ewig offenen Grabs.—»Ha! Nicht die große seltene Not der Welt, diese Fluten, die eure Dörfer wegspülen, diese Erdbeben, die eure Städte verschlingen, rühren mich; mir untergräbt das Herz die verzehrende Kraft, die in dem All der Natur verborgen liegt, die nichts gebildet hat, das nicht seinen Nachbarn, nicht sich selbst zerstörte. Und so taumle ich beängstet! Himmel und die Erde und all die webenden Kräfte um mich her! Ich sehe nichts als ein ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer!«
Aus frühesten Anregungen ist demnach diese Betrachtung der Natur auf ein in ihr waltendes zerstörendes und schaffendes Princip herausgewachsen und die glücklich gewonnene Anschauung ist dann auch zur näheren Bestimmung des Wesens des Erdgeistes benutzt worden; übrigens begegnete sich Goethe auch hier wieder mit alchemistischen Vorstellungen. Nach Agrippa herrscht auf der Erde das Gesetz des Entstehens und Vergehens, (lex generationis etcorruptionis), so daß also von dieser Seite aus des Dichters Auffassung vom Erdgeiste nicht beziehungslos war. Noch später aber beim Rückblick auf die Frankfurter Zeit hebt er als besonders kennzeichnend hervor, den ersten Drang, das ungeheuere Geheimnis, das sich in stetigem Erschaffen und Zerstören an den Tag legt, zu erkennen.
Der Erdgeist ist nun nicht bloß ein Geist der irdischen Lebenskraft, die hervorbringt und zerstört, die Woge des Daseins steigen und sinken läßt, er wallt nicht nur in den Fluten des Lebens auf und ab, sondern ist auch der Geist der That im Leben, des thätigen, mit Bewußtsein wirkenden Lebens. Die Natur hat den Menschen nicht allein zum Genuß des Lebens, zu Leid und Freud, Glück und Weh geschaffen, sondern auch zur Thätigkeit und Wirksamkeit. »Er hätte mir nur sagen sollen, daß es im Leben bloß auf das Thun ankomme, das Genießen und Leiden findet sich von selbst«, bemerkt Goethe später in der Geschichte seines Lebens. Während »alle die andern Armen Geschlechter der kinderreichen lebendigen Erde Wandeln und weiden In dunkelm Genuß Und trüben Schmerzen des augenblicklichen Beschränkten Lebens, Gebeugt vom Joche der Notdurft«, galt es für ihn zum Thun zu kommen. Diese Erkenntnis ward dem jungen Goethe immer klarer und lebendiger. Denn für ihn wie für seinen Helden Faust war es eine Lebensfrage, sich im Leben durchzuringen zu den Sphären höchster Thätigkeit. Hamanns herrliche, aber schwer zu befolgende Maxime konnte ihm dabei den Weg weisen: »Alles, was der Mensch zu leisten unternimmt, es werde nun durch That oder Wort oder sonst hervorgebracht, muß aus sämtlichen vereinigten Kräften entspringen; alles Vereinzelte ist verwerflich.« Denn er hatte es zwar nicht nötig, sich vom Banne der Schulwissenschaft und der Spekulation zu befreien und eine lebendige, fruchtbare Thätigkeit an ihre Stelle zu setzen; für ihn galt es einer allzugroßen Nachgiebigkeit gegen die Eindrücke der Außenwelt, einer allzu gesteigerten Empfindungsfähigkeit ein Gegengewicht zu schaffen. Er fand es in der dichterischen Produktion, suchte es auch in der Thätigkeit des bildenden Künstlers. Zu einer Zeit, wo die Empfindsamkeit überwog, erkannte er denn auch das Gegenmittel. Die Berührung mit der heroischen Stärke des Altertums machte es ihm bewußt, was ihm fehle. Über Pindars Worten ἐπικρατεῖν δύνασθαι ging es ihm auf; und was Thätiges an ihm war, lebte auf.
Unter ἐπικρατεῖν versteht er aber Meisterschaft, Virtuosität, d.h. also höchste Thätigkeit. Die ganze Jugendpoesie der Frankfurter Jahre seit 1771 durchzieht dieser Gegensatz. Weißlingen ist der erste Vertreter der krankhaften Empfindlichkeit; ihm gegenüber steht Adelheid; sie ist nicht von Anfang an die Teufelin, die ihn verdirbt, sondern sie vermeint zunächst noch den titanischen Funken in ihm erwecken zu können, ihn zu dem »activen« Manne zu machen, den sie in ihm erwartete. Und in der That scheint die lebendige Kraft, die von ihr ausgeht, »die Atmosphäre von Leben, Mut, thätigem Glück,« die um sie ist, auf ihn zu wirken, wie das Zeichen des Erdgeistes auf Faust: »Und nun gleich entfesselten Winden über das ruhende Meer! Du sollst an den Felsen, Schiff! und von da in Abgrund! und wenn ich mir die Backen drüber zersprengen sollte«. Allein die Wirkung hält bei ihm nicht an; Adelheid aber, da sie seine Unfähigkeit durchschaut, verläßt und verdirbt ihn. Dasselbe Verhältnis liegt zwischen Clavigo und Carlos vor, nur daß der letztere nicht mehr der Feind, sondern der Freund des Schwachen ist. Auf der höchsten Hohe erscheint diese Krankheit im Werther. Bei ihm wird durch seine wunderbare Empfind- und Denkensart, der er sich ganz überließ, und die endlose Leidenschaft, alles, was thätige Kraft an ihm war, ausgelöscht; und er, der sich nicht, wie Weißlingen und Clavigo, in schwerer Schuld verstrickt hatte, fällt durch eigene Hand.
Ganz im Sinne Fausts hatte der Dichter, da er im Mai 1772 gen Wetzlar zog, zwar nicht dem Erdgeist, wohl aber der Gottheit zugesungen, von ihr erfüllt:
Allgegenwärt'ge Liebe!
Durchglühst mich,
Beutst dem Wetter die Stirn,
Gefahren die Brust,
Hast mir gegossen
Ins früh welkende Herz
Doppeltes Leben
Freude zu leben.
Und Mut.
Von diesem gewonnenen Lebensmute aus war dann zu dem dritten, höchsten Leben vorzudringen, dem der That, auf daß das Herz nicht welke, sondern noch köstliche Früchte trage!
Wir sehen danach, wie tief diese Auffassung des Erdgeistes als eines Geistes des Lebens und der That im Leben des Dichters begründet liegt.
Bemerkenswert für die Art, wie bei der verschiedensten Gelegenheit gewonnene Erkenntnis, liebgewordene Motive sich bei dem jungen Goethe hervordrängen, ist die physiognomische Charakteristik des Brutus als des Mannes der That, die am Ende der Frankfurter Zeit (1775) geschrieben ist:
Zuerst wird wieder die Wirkung des Bildes geschildert: »Welche Kraft ergreift dich mit diesem Anblicke! u.s.w.—Eherner Sinn ist hinter der steilen Stirne befestigt, er packt sich zusammen und arbeitet vorwärts in ihren Höckern, jeder wie die Buckeln auf Fingals Schild von heischendem Schlacht- und Thatengeiste schwanger. Nur Erinnerung von Verhältnissen großer Thaten ruht in den Augenknochen, wo sie durch die Naturgestalt der Wölbungen zu anhaltendem, mächtig wirksamen Anteil zusammengestrengt wird.—Mann verschlossener That! langsam reifender, aus tausend Eindrücken zusammen auf einen Punkt gedrängter That! In dieser Stirne ist nichts Gedächtnis, nichts Urteil, es ist ewig gegenwärtiges, ewig wirkendes, nie ruhendes Leben, Drang und Weben!«—Sogar etwas verderbendes findet er in ihm.
Das Verhältnis des Erdgeistes endlich zu seiner Schöpfung, dem lebendigen Kleid der Gottheit, der sichtbaren Erdenwelt ist offenbar im Geiste Spinozas gedacht. Seine Philosophie hatte Goethe spätestens seit dem Frühling 1773 kennen gelernt. Auf der Rheinreise im Sommer 1774 war sie ein wichtiger Gesprächsstoff zwischen ihm und Fr. Jacobi. Es fügte sich dabei wieder vortrefflich, daß ja auch seine Anschauungen in manchem mit den alchemistischen seiner Zeit zusammentrafen. Hatten sie allem einen Geist gegeben, so ließ auch Spinoza alles, wenn auch in verschiedenem Grade beseelt sein. Gott ist ihm die immanente, bewirkende Ursache der Schöpfung. Die Welt ist eben nur die sichtbar gewordene Wirkung der göttlichen Schöpferkraft; die einzelnen Dinge sind die Modi, die Erscheinungsformen der unendlichen göttlichen Substanz (natura naturans = wirkende, n. naturata = bewirkte Natur).
Bei Goethe erscheint nun der Erdgeist im Auftrage Gottes handelnd; er setzt gleichsam in höherem Befehle das irdische Schaffen fort. Denn der Dichter ist eben genötigt, da er sich einmal im Rahmen des alchemistischen Geisterglaubens bewegt und zwischen dem Geist des Alls, der Gottheit, und dem der Erde geschieden hatte, die rein spinozistische Auffassung entsprechend abzuändern.
Der Erdgeist hat Faust sein Wesen enthüllt. Jetzt redet er ihn an; er will ihm zeigen, daß er sein Wesen erkenne, ihm sagen, wie nah er sich ihm fühle; er nennt ihn dabei einen geschäftigen Geist, der die weite Welt umschweife. Da ist der Bann der Beschwörung gebrochen, er hört die niederschmetternde Kunde:
Du gleichst dem Geist, den du begreifst,
Nicht mir!
Dann verschwindet der Geist. Faust stürzt zusammen: er, das Ebenbild Gottes, der dem Geist des Alls zu gleichen sich vermaß, gleicht nicht einmal dem Geist der Erde! Die Scene bricht ab. Wagner erscheint.
Hier erhebt sich die Frage: Wodurch wird der Bann der Beschwörung gebrochen? Warum verschwindet der Erdgeist grade jetzt? Woraus schließt er, daß Fausts Geist dem seinen nicht gleiche? Jedenfalls muß er dies Fausts letzten Worten entnommen haben. Was enthalten sie? Er nennt den Erdgeist einen geschäftigen Geist. Er hat sich ihm als der Geist höchster Thätigkeit offenbart, und nun setzt Faust diese der Geschäftigkeit gleich. Geschäftigkeit ist aber eine Thätigkeit ohne Zweck, ohne Folge, ohne Frucht, ohne Ziel. So nennt sich der junge Goethe selbst einmal geschäftig ohne fleißig. Faust kennzeichnet sein eigenes Wesen, indem er dem Erdgeist diese Eigenschaft gibt. Aber auch der Dichter hatte sie in seinem Wesen als einen Mangel in seiner Entwicklung entdeckt, den er zu einer Tugend umbilden mußte. Denn er fühlte Adel und kannte Zweck. »Auch hat mir endlich«, schreibt er in den bereits angezogenen Wetzlarer Brief an Herder, »der gute Geist den Grund meines spechtischen Wesens entdeckt. Über den Worten Pindars ἐπικρατεῖν δύνασθαι ist mirs aufgegangen.« Das spechtische Wesen Goethes, wie es Herders Spott genannt hatte, war dessen ewiger Tadel gewesen. Nun sieht er selbst ein, daß es eine Schwäche sei, die er überwinden müsse. »Wenn ich nun überall herumspaziert bin, überall nur dreingeguckt habe, nirgends zugegriffen. Dreingreifen. packen ist das Wesen jeder Meisterschaft«. Die Geschäftigkeit muß zu der zielbewußten Thätigkeit des Meisters werden. Mit diesem Mangel seines Wesens, über den der Dichter sich längst klar geworden war, über den er aber seinen Helden erst aus seinem dunklen Zustande zur Klarheit aufführen mußte, hängt es auch zusammen, wenn Faust den Geist als einen, der die weite Welt umschweife, auffaßt und wiederum dadurch sich selbst verrät. Denn was ist dies Schweifende anders als was der Dichter eben mit dem Herumspazieren und Dreingucken an sich getadelt hatte, was ihm aus Pindars Worten: Εἰδῶς φυᾶ, ψεφνὸς ἀνὴρ μυριᾶν ἀρετᾶν ἀτελεῖ νόῳ γεύεται, οὔποτ' ἀτρεκέι κατέβα ποδί, μαθόντες usw. wie Schwerter durch die Seele gegangen war? In demselben Sinne tadelt er an Lavater, ein schweifender Geist habe ihm die kollektive Kraft entzogen und so der besten Freude, des Wohnens in sich selbst beraubt; ebenso wieder an sich selbst, da zu Zeit seiner Liebe zu Lili all die Gegensätze seiner Natur aufgewühlt wurden, mit den klagenden Worten: Entweder auf einem Punkt, fassend, festklammernd, oder schweifen gegen alle vier Winde! Über Lenz bemerkt er später, er habe bei ihm darauf gedrungen, daß er aus dem formlosen Schweifen sich zusammenziehen und die Bildungsgabe, die ihm angeboren war, mit kunstgemäßer Fassung benutzen möchte. Er setzt also dem schweifenden Geist die kollektive Kraft, eine Art innerer Konzentration, das Wohnen in sich selbst, wie er es gerne nannte, entgegen. Dies Wohnen in sich selbst erzeugt, indem er sie auf einen Punkt sammelt, die schöpferische Kraft; es gehört darum zum Wesen der Gottheit, also auch zu dem des Erdgeistes. »O, ich würde an deinem Busen der ewigen Götter einer sein, die in brütender Liebeswärme in sich selbst wohnten und in einem Punkte die Keime von tausend Welten gebaren und die Glut der Seligkeit von tausend Welten auf einen Punkt fühlten«,—ruft Franz im Götz aus. Es ist daher für den im höchsten Sinne thätigen und schöpferischen Menschen zu erstreben; so begegnet er uns auch in der Charakteristik des Brutus als des Mannes der That: »Sieh das ewige Bleiben und Ruhen auf sich selbst«. Faust hat also in dem Wesen des Erdgeistes nicht erkannt, daß er auch der Geist der höchsten Thätigkeit ist, daß er nicht die Welt umschweife, sondern in ihr wohne als das schöpferische Princip, das durch Zusammenziehung aller zerstreuten Kräfte sie immer wieder hervorbringe. Damit hat er ausgesprochen, was ihm selbst noch fehle, trotzdem aber sich überhebend, ohne daß eine innere Kraft ihn dazu berechtige, sich dem Geiste nahe, ja gleich gefühlt. Auch dies trägt dazu bei, daß er verschmäht wird. Dagegen wird der Bescheidenheit des Jüngers vor dem Bilde der Venus in Künstlers Vergötterung die Antwort:
Du wirst Meister sein.
Das starke Gefühl, wie größer dieser ist,
Zeigt, daß dein Geist seinesgleichen ist.
Ebenso wie Faust wird aber in den Parabeln die Eiche von der Ceder zurückgewiesen: »Die Eiche sprach: Ich gleiche dir, Ceder! Thor! sagte die Ceder: als wollt' ich sagen, ich gleiche dir«.
Fassen wir noch einmal das Wesentliche der Erdgeistscene zusammen! Faust erblickt das Zeichen des Erdgeistes; er fühlt sich ihm näher als dem Geist des Alls. Was er in ihm erkennt, was also auch in ihm selbst verborgen liegt, ist das dem Geist einwohnende rastlose Leben. Von diesem Hauch getroffen, fühlt er in sich den Mut entstehen, sich in das Leben hinaus zu wagen und alles, was es zuteilt, Freud und Leid, Kampf und Untergang, tapfer auf sich zu nehmen. Durch dieses Gefühl ist er in einer Beziehung dem Geiste gleich. Dadurch zieht er ihn an; er kündigt sich an, aber da die Erkenntnis und die Wesensverwandtschaft nicht vollständig ist, erscheint er nicht. Da beschwört ihn Faust mit magischer Formel. Nun erscheint er, aber in widerlicher Gestalt. Faust wendet sich ab. Sein ganzes übermenschliches Streben war darauf gerichtet, sich den Geistern gleich zu heben; er hat sich ihnen zu nähern gesucht und war durch dies Verlangen in ihre Sphäre eingedrungen; hatte sich dadurch die Kraft der Anziehung erworben; so hat er endlich den Erdgeist erfleht, beschworen. Er ist ihm erschienen, und nun liegt er im Staub, windet sich gleich den Würmern. »Das erbärmliche Liegen im Staube—und des Winden der Würmer«—damit vergleicht der Dichter dieses Gefühl in einem Augenblicke, da ihm gewährt ward, was seinem Helden versagt blieb: »schwebend im herrlich unendlich heiligen Ocean unsers Vaters des ungreiflichen, aber des berührlichen.—Nennbare, aber unendliche Gefühle durchwühlen mich—«. Faust gewinnt die Kraft der Erhebung wieder. Der Geist enthüllt ihm sein Wesen, aber er erkennt darin nicht, weil er an ihr nicht Teil hat, die höchste Thätigkeit und das, was sie erzeugt. Er hat wohl erkannt, daß er der Geist rastlosen Lebens sei, allein nicht, daß dieses Leben, wie es das Wesen des Geistes offenbart, zu dauernder, zielbewußter Thätigkeit zu steigern sei. Sein Streben ist titanisch, aber seine Kraft nicht die des Prometheus! Sein Geist hat sich noch nicht, wie Goethe es später nannte, zur Entelechie entwickelt. Er gleicht nur seinem Geiste, nicht dem Erdgeiste. Denn um ihn zu erkennen, müßte er er selbst sein. Der Erdgeist verschwindet, sobald Faust ihre Verschiedenheit ausgesprochen hat.
Es bleiben nur noch eine Reihe wichtiger Fragen zu beantworten, die in sich zusammenhängen: Worin liegt es begründet, daß Faust sich zunächst an die Geister des Makrokosmos und der Erde wendet? Bietet uns das innere Leben des Dichters dafür einen Anhalt? In welchem Verhältnis steht der Geist des Alls zu dem der Erde? Der Faust der Sage übergibt sich dem Teufel, der des Dichters erhebt sich zu den Geistern, dem Göttlichen. Diese Erhebung, die Sehnsucht, sich dem Göttlichen unmittelbar zu nähern, ist einer der bemerkenswertesten Züge in der Entwickelung des jungen Goethe. Er bedeutet in dem Gesamtbilde seines Lebens eben nichts anderes als den Drang, die innewohnende Fähigkeit, die er in dunklen Ahnungen in sich fühlte, auf das Höchste zu steigern und auszubilden. Schon frühe finden wir ihn in dem jungen Goethe ausgeprägt. Bekannt ist die Erzählung am Ende des ersten Buches von Dichtung und Wahrheit, wie der Knabe sich der Gottheit unmittelbar zu nähern gesucht. Die üblen Folgen dieses Versuches konnten ihm damals schon andeuten, wie gefährlich es überhaupt sei, sich Gott auf dergleichen Wegen nähern zu wollen. In der seltsamen Weltanschauung, die er sich in seiner alchemistischen Epoche bildete, ist es Lucifer, der durch seinen Abfall von Gott den Geistern die süße Erhebung zu ihrem Ursprung verkümmert. Dieses Streben, sich zu Gott zu erheben, offenbart sich in dem Dichter in der verschiedensten Weise, als titanischer Drang, Gott gleich zu schaffen und Schaffenslust zu genießen, aus dem schäumenden Becher des Unendlichen zu trinken, dann wieder als sehnsüchtige Liebe zu dem allliebenden Vater. Es ist die Religion des Dichters.
»In unsers Busens Reine wogt ein Streben,
Sich einem Höhern, Reinem, Unbekannten
Aus Dankbarkeit freiwillig hin zu geben,
Enträtselnd sich den ewig Ungenannten;
Wir heißens: fromm sein«.
dichtet er später. In diesem Unendlichkeitsstreben macht sich aber das Gefühl der Beschränkung geltend. Dazwischen wogt es im Innern des Dichters auf und ab, bis er endlich wie Lucifer und Prometheus im Hochgefühl der inneren Schöpfungskraft von Gott undankbar abfällt und in sich selbst den höheren Ursprung zu finden glaubt, um aber bald wieder die trotzige Erhebung gegen die Gottheit aufzugeben und sich wieder seinem Ursprung zuzuwenden.
Dieser Grundzug seines Lebens tritt uns in der Dichtung des jungen Goethe mannigfach entgegen. In Wanderers Sturmlied, das in der Zeit nach dem Wetzlarer Aufenthalt gedichtet ist, zuerst und besonders bemerkenswert, weil wir hier hinein blicken können in den inneren Kampf des Dichterherzens zwischen dem Trieb der Erhebung und dem Gefühl seiner Schwäche. Klagend empfindet er den Mangel innerer Wärme; er muß sein Herz anfeuern, der Gottheit (Phoebus Apollo als Weltgenius) entgegen zu glühen, damit nicht ihr Blick unbeachtend an ihr vorübergleite. Es liegt darin also zugleich der Gedanke, daß die Erhebung für den Menschen nötig sei, wenn er Gottes Mitwirkung erhalten solle. In dem Fragment Mahomet von 1773 sucht der Held des Stückes den einen Gott, dem er ungeteilt sein ganzes Gefühl weihen könne, in dem alles enthalten sei. Sein liebendes Herz hebt sich dem Erschaffenden, und siehe, der Herr, sein Gott, naht sich, freundlich zu ihm. In Mahomets Gesang endlich preist der Dichter in erhabenem Schwung den Menschen, der sich durch nichts abhalten läßt, seinem Ursprung unaufhaltsam zuzueilen, der auf seinem Siegeslaufe auch noch andere, deren gleichem Verlangen ihre Kraft nicht entspricht, mit sich fortreißt und dem erwartenden Erzeuger freudebrausend an das Herz trägt. Im Ganymed (1773) ist es mehr die sehnsüchtige Liebe des Unendlichen, wie sie auch die schöne Seele in ihren Bekenntnissen zu ihrem Heilande fühlt, als kräftiges Hinstreben; aber auch sie findet ihr Erhören; auch der Sehnende wird emporgetragen zu dem Busen des allliebenden Vaters. Allein mit dem Verlangen nach Erhebung verbindet sich leicht der vermessene Glaube, Gott gleich zu werden, gleich ihm zu schaffen, gleich ihm die Wonne des Geschaffenen zu fühlen. Du wirst sein, flüstert die Stimme des Versuchers im Inneren, wie Gott. Der Kampf zwischen dem unendlichen Streben und dem Gefühl der Einschränkung steigert sich, bis eine Art feindseliger Ruhe im Kampfe eintritt. Der Mensch zieht sich in stolzer Kraft ganz auf sich zurück und verschmäht trotzig alle göttliche Hilfe. Allein diese Aufwallung legt sich bald; er beginnt sich zu resignieren, um den inneren Frieden wieder zu gewinnen. »Denn auch der einzelne«, so bemerkt er später in seiner Lebensgeschichte, »vermag seine Verwandtschaft mit der Gottheit nur dadurch zu bethätigen, daß er sich unterwirft und anbetet«. Die spinozistische Gesinnung jedoch, die der junge Goethe in sich aufgenommen hatte, war zu beidem angethan, einen rücksichtslosen Individualismus zu schaffen und dann wieder unter Anerkennung der Schranken der Endlichkeit sich in Liebe zur Gottheit zu erheben.
Kehren wir zu Faust zurück! Auch er hat das Streben, sich dem Göttlichen, »den Geistern« gleich zu heben. Dazu sucht er sie zu beschwören. Das erste, was er in dem Zauberbuche erblickt, ist das wichtigste aller Zeichen, das des Makrokosmus. Der Geist des Makrokosmus ist, wenn wir die Geisterterminologie, zu der den Dichter sein Stoff nötigte, bei Seite lassen, die Gottheit des Weltenalls. Hier scheint nun Faust Gelegenheit gegeben zu sein, sich ihr unmittelbar zu nähern. Macht er, der sich ja als Ebenbild Gottes fühlt, und da er das Göttliche in dem Zeichen erkannt hat, den Versuch, es zu thun? In welchem Verhältnis steht er zur Gottheit? Es ist weniger die sehnende Liebe, wie sie im Ganymed ihren Ausdruck findet, es ist, wenn auch nur verhüllt, angedeutet, der Drang nach schöpferischer Kraft, die er aus dem Urquell alles Seins zu schöpfen begehrt; aber gleich seinem Dichter fühlt Faust bereits, daß ihm hier durch unmittelbare Annäherung an das Göttliche keine Befriedigung winkt. Daher gibt er, zunächst sehnsüchtig klagend, dann unwillig werdend, den Versuch auf. Faust vor dem Bilde des Makrokosmus bietet uns also in kurzer Zusammenfassung den Gang einer Entwicklung, die in seinem Dichter selbst vorgegangen war. Der erste Monolog ist danach bereits auf einer Stufe gedichtet, da Goethe erkannt hatte, sich unmittelbar dem Göttlichen zu nähern, sei ein vergebliches Verlangen. Deshalb wendet sich sein Held unwillig gleich Prometheus von ihm ab; er gibt es auf, mit dem Weltgeist selbst zu ringen.
Dem Geist des Irdischen wendet er sich zu; aus seinem Wesen schöpft er sofort die Begeisterung, sich in das Leben zu wagen; mit anderen Worten, wenn auch Faust noch nicht die deutliche Erkenntnis hat, grade auf diesem Wege innerhalb der Grenzen der Menschheit zu seinem Ziele gelangen zu können, so hat er doch das dunkle Gefühl, der Mensch sei zunächst auf das Leben dieser Erde angewiesen. In dieser für Faust in ihren wichtigen Folgen noch dunklen, dem Dichter schon klareren Empfindung liegt das tiefe Problem,—es ist das Problem der ganzen Dichtung—daß sich der Mensch eben dadurch, daß er im vollsten und höchsten Sinne das Irdische erlebe, das Recht auf ein Fortleben auf einer höheren Stufe, auf ein höheres Leben erwerbe. Dann braucht nur die Gnade von oben die auf Erden im Leben begangene Schuld zu tilgen, und gereinigt steigt er hinauf zu den Sphären der Liebe und reiner Thätigkeit. Hier wurzelt also der edle Realismus des Dichters in Leben und Kunst, der immer reiner und schöner predigt: Gedenke zu leben, laß das Leben, wenn es durch deinen Busen hindurchgegangen ist, wieder rein und treu entstehen; es wird nie des höheren Sinnes entbehren, stets nach dem Höchsten weisen, zu ihm führen! Dieser tiefe Grundgedanke, der sich durch seine ganze Dichtung zieht, wird in ihr aufs mannigfaltigste zum Ausdruck gebracht; zum ersten Mal wohl am Schluß des schönen Aufsatzes von deutscher Baukunst (1772). Wenn der Künstler das irdische Leben in Arbeit und Genuß, in Begehren und Leiden genossen hat und irdischer Schönheit satt, göttlicher aber wert geworden ist, dann erhebe er sich zu ihr und mehr als Prometheus leit' er die Seligkeit der Götter auf die Erde! »Trachtet ihr, daß ihr Lebenskenntnis erlanget, euch und eure Brüder aufzubauen«, ruft er in den biblischen Fragen aus. Frei wie Wolken, fühlt, was Leben sei! Stehn auf seinen Füßen, Der Erde genießen—verkündet ganz in des Dichters Sinne Satyros, um jedoch mit einem lächerlichen Mittel nach dem Ziele hinzuweisen. »Rasch ins Leben hinein!« feuert er sich selbst an in der schönen Allegorie an Schwager Kronos (gedichtet am 10. October 1774). »Weit hoch, herrlich der Blick Rings ins Leben hinein! Vom Gebirg zum Gebirg Schwebet der ewige Geist. Ewiges Lebens ahndevoll«. Also auch hier erscheint der Geist des Lebens. In diesem Leben, auf dieser Erde, muß dem Menschen sein höchstes Ziel, die Ausbildung des Reinmenschlichen, wodurch er einer höheren Stufe würdig wird, zu erreichen möglich sein. Humanus scheidet erst, nachdem er ein Beispiel des Lebens gegeben und so dafür gesorgt hat, daß sein Geist sich in allen verkörpert hat und keines besonderen irdischen Gewandes mehr bedarf. Das Beispiel des Menschen lehre uns darum das Göttliche glauben! Nicht mit den Göttern solle sich der Mensch messen; denn hebt er sich aufwärts, dann haften nirgends die unsicheren Sohlen; auf der wohlgegründeten, dauernden Erde stehe er mit festen markigen Knochen, ohne sich indes auch hier zu überheben. Halber Trotz spricht dagegen noch aus dem Gedichte Menschengefühl und in noch herberen Worten drückt sich endlich Faust selbst aus:
Das Drüben kann mich wenig kümmern;
Aus dieser Erde quillen meine Freuden,
Und diese Sonne scheinet meinen Leiden;
und vor allem am Ende des zweiten Teils:
Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt;
Thor, wer dorthin die Augen blinzend richtet,
Sich über Wolken seinesgleichen dichtet!
Er stehe fest und sehe hier sich um;
Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm.
Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen!
Man sieht, wie mannigfach dasselbe Thema angeschlagen wird; aber überall hören wir hindurch: Halte dich zunächst an das irdische Leben; hier ist der Boden, auf dem der Mensch wurzelt; nicht aber verlange er mit Überspringung dieses Lebens nach einem, das ihm hier noch nicht gegeben ist. Diese Erkenntnis prägt sich auch im ältesten Faust aus, wenn sich Faust unwillig vom Zeichen des Weltgeistes ab und dem Geist der Erde zuwendet. Aber er wird von ihm verschmäht, da er sich ihm zu einer Zeit gleichsetzt, wo er sein Wesen noch nicht völlig d.h. innerhalb den Grenzen seiner menschlichen Natur erlebt hatte. Von hier aus haben wir zum ersten Mal einen Ausblick, in welcher Weise sich das Faustproblem weiter bilden mußte. Faust mußte hinaus in das Leben, um es in jedem, also auch im höchsten Sinne zu erleben. Dazu sollte und mußte dann der Teufel selbst schließlich sehr gegen seinen Willen beitragen. Er war es grade, der ihn mit sich fortriß auf den ihm noch fremden Boden des Lebens, im Wahne, ihn dort verderben und in seine Gewalt bringen zu können:
Ich macht ihm deutlich, daß das Leben
Zum Leben eigentlich gegeben.
So lang man lebt, sei man lebendig!
Allein wenn auch Faust sich zunächst in schwerer Schuld verstrickte, so gewann er doch wieder im Leben, wo er sie allein gewinnen konnte, die Kraft zu einem höheren Leben. Aus der kummervollen Sphäre des ersten Teils, ähnlich der, die der junge Dichter selbst durchlebt, erhob er sich zu höheren Regionen in würdigere Verhältnisse: Goethe wußte daher wohl, was er sagte, wenn er kurz vor seinem Tode an Humboldt schrieb (am 17. März 1832): Es sind über sechzig Jahre her, daß die Conception des Faust bei mir jugendlich von vornherein klar, die ganze Reihenfolge der Scenen hingegen weniger ausführlich vorlag.
Es bleibt nun noch eine Frage zu beantworten: Weshalb erscheint der Erdgeist in widerlicher Gestalt? Im Fragment ist zwar bereits diese scenarische Bezeichnung getilgt, aber nicht Fausts Entsetzen. »Schreckliches Gesicht« ruft er auch hier sich abwendend aus, nicht minder das: »Weh, ich ertrag dich nicht.« Knüpfen wir zunächst an das letztere an, so ist es klar, daß das Ungeheuere der Erscheinung auf Faust einen niederdrückenden Einfluß ausüben mußte. Goethe selbst erklärt, wie in seiner Jugend das Erhabene, das sein Gefühl formlos oder zu unfaßlichen Formen gebildet hervorbrachte, ihn mit einer Größe umgeben mußte, der er nicht gewachsen war. Überhaupt lag es in seiner Natur, daß er alle Eindrücke zu stark empfand, daher er sich bemühen mußte, sich von dem Drang und Druck des Allzuernsten und Mächtigen zu befreien, das in ihm fortwaltete. In diesem gesteigerten Empfindungsvermögen lag eben die Stärke und Schwäche seiner dichterischen wie menschlichen Natur. Werther erliegt aus diesem Grunde unter der Gewalt der Herrlichkeit der Natur, die ihm erschienen ist. Ähnliches konnte er auf der Sommerreise 1774 von Fritz Jacobi erfahren, was er gewiß damals als etwas, das ihn auf das heftigste erschüttert hatte, dem neuen Freunde nicht vorenthielt. Er schreibt darüber später: »Es war nämlich jenes Sonderbare, eine von allen religiösen Begriffen ganz unabhängige Vorstellung endloser Fortdauer, welche mich in dem angezeigten Alter, (im achten oder neunten Jahre) bei dem Nachgrübeln über die Ewigkeit a parte ante, unversehens mit einer Klarheit anwandelte, und mit einer Gewalt ergriff, daß ich mit einem lauten Schrei auffuhr und in eine Art von Ohnmacht versank.—«
»Der Gedanke der Vernichtigung, der mir immer gräßlich gewesen war, wurde mir nun noch gräßlicher; und ebensowenig konnte ich die Aussicht einer ewig dauernden Fortdauer ertragen.—Ohngefähr von meinem siebenzehnten bis in mein dreiundzwanzigstes hatte ich mich in diesem letzteren Zustande befunden, (er glaubte, die Erscheinung habe für ihn das Fürchterliche verloren) als auf einmal die alte Erscheinung wieder vor mich trat. Ich erkannte ihre eigene gräßliche Gestalt, war aber standhaft genug, sie festzuhalten für einen zweiten Blick, und wußte nun mit Gewißheit, sie war! Sie war, und hatte ein in dem Maße objectives Wesen, daß sie jede menschliche Seele, in welcher sie Dasein erhielt, gerade so wie die meinige afficieren müßte.—Seitdem hat diese Vorstellung, ohngeachtet der Sorgfalt, die ich beständig anwende, sie zu vermeiden, mich noch oft ergriffen. Ich habe Grund zu vermuten, daß ich sie zu jeder Zeit willkürlich in mir erregen könnte, und glaube, es stände in meiner Macht, wenn ich sie einige Male hinter einander wiederholte, mir in wenig Minuten dadurch das Leben zu nehmen«.
Es ist also einmal das Ungeheuere der Erscheinung, das Faust niederdrückt und ihm dabei das Gefühl der eigenen Kleinheit gibt. Damit aber verbindet sich, insofern dem Menschen enthüllt wird, was ihm verborgen bleiben soll, das Schreckliche, Gräßliche. Es ist ein uralter Glaube, daß die Erkenntnis des dem Menschen Verbotenen ihn mit Abscheu, Schrecken, Widerwillen erfüllt. Der erste Mensch, der gegen Gottes Gebot von dem Baum der Erkenntnis gekostet, scheut sich vor seiner eigenen Blöße. Der Jüngling von Sais bleibt von Entsetzen gepackt, da er den Schleier der Gottheit gelüftet. Darum warnt Goethe selbst in dem Gedichte »Genius die Büste der Natur enthüllend.«
Bleibe das Geheimnis teuer!
Laß' den Augen nicht gelüsten!
Sphynxnatur, ein Ungeheuer,
Schreckt sie dich mit hundert Brüsten.
Dazu der gute Rat, der auch Faust gilt:
Suche nicht verborgene Weihe!
Unterm Schleier laß das Starre!
Willst Du leben, guter Narre,
Sieh nur hinter dich ins Freie!
Dazu kommt endlich noch, daß für den Künstler Goethe des Ungeheuere auch ein ästhetisches Unbehagen erzeugt. »Soll das Ungeheure«—meint er später—nicht erschrecken; so muß es eine unnatürliche, scheinbar unmögliche Verbindung eingehen, es muß sich das Angenehme zugesellen. Aus diesen Gründen also erscheint der Erdgeist, da ihn Faust mit unnatürlichen, verbotenen Mitteln Gestalt anzunehmen gezwungen hat, um ungeduldig eine Erkenntnis vorweg zu nehmen, die ihm erst im Lebensgange erwachsen sollte, in schrecklicher, widerlicher Gestalt.
Sobald aber der Geist verschwunden ist und Faust nicht mehr unmittelbar unter dem Banne des Schrecklichen steht, endlich gar sich sein Famulus Wagner angekündigt, denkt er nur noch daran, daß er gewürdigt worden ist, den Geist zu schauen, daß bei der Erscheinung, wenn er sie auch nicht völlig fassen konnte, ihm doch eine Fülle von Erschautem zu Teil geworden ist. Daher fühlt er sich auch, da Wagner sich naht, noch tiefer niedergedrückt wie durch des Geists Erscheinen. Keineswegs ergreift ihn das Gefühl der Überlegenheit über ihn, sondern nur das, daß er durch ihn wieder zum Kleinlichsten und Beschränktesten der Menschennatur herabgezogen werde in einem Augenblicke da er sich in der Fülle dessen, was er gesehen hatte, zu verlieren sehnte.
Mit Recht konnte daher auch Faust die Erscheinung des Erdgeistes als sein höchstes Glück bezeichnen, vor allem aber wegen des danach erfolgenden Bundes mit dem Teufel. Der Widerwille des Dichters gegen diese ihm von der Sage gebotene Weiterführung des Dramas drückt sich aufs deutlichste in dieser bereits im Fragment mit V. 166 = 519 vorgenommenen Änderung aus. Die Wendung des Motivs dahin, daß sich Faust an Wagners Kleinheit aufrichtet, gehört der Ausgabe von 1808 an. Der Übergang aber von der alten zur neuen Fassung dieses Motivs ist noch deutlich. Das ursprüngliche Gefühl bricht durch in den Versen (606 f.):
Darf eine solche Menschenstimme hier.
Wo Geisterfülle mich umgab, ertönen?
Danach folgt der Übergang zu dem neuen, worauf sich dann das weitere aufbaut:
Doch ach für diesmal dank ich dir,
Dem Ärmlichsten von allen Erdensöhnen.
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