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2019-10-13

Oskar Loerke : Der Goethe des west-östlichen Divans




  Oskar Loerke 

Der Goethe des west 
  östlichen Divans 



  Als das Schicksal es wollte, mußte Mahomet, der Prophet, fliehen, und von dem Jahre seiner
Hegire aus Mekka nach Medina begannen die Völker, die ihm anhingen, ihre Zeit zu zählen. Der
Erinnerung an diese Flucht entnimmt Goethe, als er sich, von einem schicksalsgleichen Drange
bestimmt, 1814 und dann nochmals 1815 in die Heimat des Rhein- und Mainlandes aufmacht,
ein Gleichnis. Fast ein Jahrzehnt lang hatte Waffenlärm, aufdringlich in der Nähe, lästig noch aus
der Ferne, ihn gequält. Die Bedrückung durch den Krieg drückte ihn tiefer als die Niederlagen,
die Befreiung vom Kriege machte ihn freier als die Siege. Nun ihn niemand hinderte und
verfolgte, wie mochte er da noch fliehen? Begab er sich nicht auf eine heitere Hegire mit langen
Aufenthalten in Gemäldesammlungen, in Weingefilden, bei befreundeten und geliebten
Menschen? Mit den Füßen brachte er einen kleinen Raum hinter sich, im Geiste einen gewaltig
weiten. Die geistige Reise hatte ihn an so ferne Ziele zu entführen, daß ihrer Eile und
Entschiedenheit der Name Flucht wohl anstand. Seine Umwelt war runzlig und rissig geworden
vor  Gram,  Sorgen,  kurzsichtigen  fanatischen  Notgedanken  und  allzu  genügsamen
Befriedigungen. Er hatte eine seinen Instinkten widrige, aber vom Dämon der Staatengeschichte
verhängte Politik abzuschütteln, er hatte sich der Nähe des düsteren, fratzenhaften Wahnsinns
zu entziehen, den er im Geistesleben seiner Zeit an Macht zunehmen sah. Und auch dem
eigenen Altern mußte er entrinnen, das er wahrnahm, weil die Gewalten der Verjüngung in ihm
bereits klar am Werke waren.

  So trug ihn sein Genius freundlich zu den Anfängen, von denen her die Menschen und Dinge
ihre Zeit zählen, wo das Verfälschte noch richtig, das Verworrene noch einfach, das Müde noch
frisch ist. Die seit siebzehn Jahren nicht mehr betretene Vaterstadt wurde zum Orte, in dem für
ihn selbst die Urzeit der Welt anbrach. Liebe, wie sie ihn auf der Gerbermühle bei Frankfurt an
Marianne von Willemer band, ist immer ein Anfang. Das Licht, das sich im heiteren oder
heroischen Regenbogenbilde über dem Haupte des Wanderers spiegelt, erneuert sich alle Tage.
Die Steine, die der Dichter in den heimischen Gegenden beklopft, erzählen von der Jugend der
Erde. In allen Bäumen, die ihn überdachen, verbirgt und offenbart sich die Urpflanze. Jeder Fluß
enthält das Wesen aller Flüsse: Der Main darf einmal Euphrat heißen. Im Nahen verwirklicht sich
Fernes,  im  Gegenwärtigen  lebt  Vergangenes.  Die  in  Morgennebeln  liegenden  bunten
Mohnfelder bei Erfurt täuschen Zelte eines Wesires vor. Die Wartburglandschaft, wohin Goethe
einst Herzog Karl August zur Jagd begleitete, duftet wie vor alters. »Nun die Wälder ewig
sprossen, So ermutigt euch mit diesen, Was ihr sonst für euch genossen, Läßt in andern sich
genießen. Niemand wird's uns dann beschreien, Daß wir's uns alleine gönnen; Nun in
allen Lebensreihen Müsset ihr genießen können.« Oder, wunderbar rein und groß, darf die
Geliebte die Besorgnis vor dem Altern von sich abtun: »Liebt Gott in mir, vor ihm steht alles
ewig.« Was gültig ist, gilt der Idee nach überall und jederzeit.

  Die gereifte Fähigkeit zu dieser wahren und großartigen Perspektive hat einen Hauptanteil an
der Entstehung des »westöstlichen Divans« als eines künstlerischen Grundwerkes der
Menschheit. Wer ihn als ein Spiel der Vermummung nimmt, das Gesicht Hatems wie eine
vorgebundene Larve auf dem Antlitz Goethes und die Locken Suleikas wie eine Perücke auf den
Haaren Mariannes von Willemer sieht, der müßte auch die »Iphigenie« oder den »Faust« als
Maskenspiele nehmen. Der Begriff des Lyrischen ist gegen frühere Zeitläufte ungeheuer
erweitert. Viele einzelne Stücke leben vom zyklischen Komplex her. Der epische Kern, der sich
in aller lebensstarken Lyrik findet, woher und von wann sie auch stamme, hat gegenüber der
früheren  künstlerischen  Gepflogenheit  eine  Ortsverlagerung  erfahren.  Er  ist  in  den
Divangedichten nicht so nah an der Oberfläche wie in balladenhaften und sonstigen mehr
erzählenden Gebilden, nicht so eingesenkt und verborgen wie in Liedern, Hymnen und
gesungenen Gefühlsbekenntnissen überhaupt. Doch entfaltet er sich unvermutet stark ins
Dramatische, knapp ins Betrachtende, Parabolische, rasch ins Ironische, Angreiferische, und
selbst wenn er zum seligen, klagenden, schwärmenden Liede wird, so aus einer anderen
Erlebnisgegend her als der, von wo man vordem den Ansatz der Sängerstimme zu hören
gewohnt war. Hätte früher ein Gedichtbuch einen Schutzgeist besessen, zu dem es sich
bekannte, den es anrief, wie dieses seinen großen Schutzgeist in Hafis besitzt, so würde das
Verhältnis des Verfassers zu ihm anders gewesen sein, als es hier ist: Hafis ist in Goethe
eingewandert, Goethe in Hafis; sie strömen, einer im anderen, unbefangen gleichberechtigte
Klänge aus, gleichberechtigte Bilder, ganze Gestalten und Landschaften. Um Hafis baut sich ein
Orient nach Goethescher Weise auf, und der Perser scheint Goethes Abendland zu kennen und
zu billigen. Wie Goethe in mehrfacher Gestalt durch das Buch zu ziehen scheint, als deutscher
Dichter und als morgenländischer Kaufmann durch viele Lande unterwegs, als Christ und
Muselman, als Schüler der Griechen und Parsen, so ist Hafis als Sänger, Besungener und
Betrachteter vorhanden. »Herrlich ist der Orient Übers Mittelmeer gedrungen, Und wer Hafis
liebt und kennt, Weiß, was Calderon gesungen.« Wie im »Faust« aus dem Streite des negativen
und positiven Prinzips das All aufschwebt, so entsteht im Divan aus den beiden urtümlich
angeschauten Hälften Abendland und Morgenland die Welt. Das scheinbare Verhüllen mit Bild
und Figur ist in Wirklichkeit ein Demaskieren. Nur ist es nicht verstattet, die aus gewaltiger Natur
aufgestiegene Einheit zu zersplittern, um sie sich zu eigen zu gewinnen. Der Divan ist nur als
»weltöstlicher« Divan existent, oder er bleibt unsichtbar. Er lebt sein stolzes Wort vor:

     »Wer nicht von dreitausend Jahren
     Sich weiß Rechenschaft zu geben.
     Bleib' im Dunklen unerfahren.
     Mag von Tag zu Tage leben.«

  Er ist eine Rechenschaft im Hellen. Sein Stolz ist, sich vieltausendjährig zu geben; er läßt die
Überlieferungen des Weisesten, Wirklichen, Echten bestehen, ohne sie anzutasten und für den
Gebrauch täglicher, alltäglicher Zwecke zu verdüstern und zurechtzuspitzen. Er ist ein Buch der
heiteren Ehrfurcht. Er ändert nicht, was gut ist. Er ist das himmelweite Gewölbe des Geistes, in
dem der Haushalt der Erde noch immer weitergeführt wird und trotz Irrtum, Kampf und
Verfälschung gleichsam dennoch ruht. Er weist den vulkanischen Geist, der sich des
Menschenwesens zu bemächtigen droht, zurück und preist die neptunische Entfaltung, wie sie
alles  umfassend,  fruchtbar,  folgerecht,  notwendig,  willkürlos  und  trotzdem ernst  und
übermenschlich besonnen das Leben gründet und dauerhaft erhält.

  Wie aber war die hohe Überzeugung deutlich zu machen, zumal da sie, in Übereinstimmung
der Mittel mit der Absicht, nicht zum mythischen Epos, zum religiösen Drama, sondern diesmal
zu kurzem Lied und Spruche drängte? Eben mit der Durchdringung der späten Zeit mit früheren,
entlegener irdischer Breiten mit gegenwärtigen. Dann bestätigten sich alle Elemente der Natur
und der Seele durch ihre Identität hier und dort und ließen sich noch in den zufälligen
Spielformen ihrer Erscheinung hüben und drüben entdecken. Dann vertiefte sich der
selbstgenügsame Schein zum lichtabhängigen Abglanz. Nach eigenem Bekenntnis beseitigte
Goethe die Welt, um die Welt an sich zu ziehen.

  Die Nötigung, auf die besondere Weise des Divans das Universum einzuatmen und
auszuatmen, scheint ihm, wenn man flüchtig sein Leben während der Entstehungsjahre der
neuen Gedichtsammlung betrachtet, ganz wider seine Anlage als ein vulkanischer Überfall
gekommen zu sein. Er lernt im Frühjahr 1813 die Hafisübersetzung von Josef von Hammer-
Purgstall kennen, und bald bricht ein Sturm von Versen in ihm los, zwei, drei und mehr Gedichte
an einem Tage, unterwegs auf der Reise, im Gasthaus, zwischen Gesprächen und anderen
Beschäftigungen. Die Daten sind erhalten, die Orte, an denen er sich gerade befand,
nachweisbar, Anregungen wieder herzustellen, Modelle, wie zum Beispiel der junge Sohn des
Professors Paulus für den Schenken im Saki-Nameh, wiederzuerkennen. Seine Tagebücher,
Briefe und die Abhandlungen und Noten zum Divan und sonstige Aufzeichnungen nennen
weitere Lektüre östlicher Dinge. Aus den Arbeiten heutiger Gelehrter lassen sie sich bequem
zusammenstellen. Er lernte den Koran und anderes in den »Fundgruben des Orients« kennen,
etwa den Mystiker Ferideddin Attar, übersetzt von Silvestre de Sacy, las die Schriften von Diez,
so dessen Übertragung des »Buches des Kabus«. Er kannte durch Hartmann Dschamis'
»Medschnun und Leila«, durch Hammer den Schirin. Er las, was Abbé Toderini über die Literatur
der Türken berichtete und Klaproth über eine Reise in den Kaukasus und nach Georgien in den
Jahren 1807 und 1808. Er trieb chinesische Studien und durchdrang sich mit der sufischen Mystik
in Philosophie und Literatur. Er machte sich mit den Schriften des Olearius vertraut, so dem
»Gulistan« von Saadi (1660), dem »Persianischen Rosenthal« von 1654, den »Collegierten
Reisebeschreibungen« von 1696. Die »Voyage en Perse«, die Chardie 1735 veröffentlicht hatte,
gab Augenzeugnis hinzu. Doch schon die breite Fülle der Büchertitel erweist, daß ihm der Orient
nicht in vulkanischer, sondern neptunischer Enthüllung bekannt wurde. Und wenn wir uns
weiter auf sein Lernen und Streben aufmerksam machen lassen, erkennen wir: das Morgenland
erwuchs seit seiner Kindheit mit ihm. Er hatte in ihm die Augen fast zur gleichen Zeit
aufgeschlagen wie in der anderen, nördlichen Heimat. Die Bibel war ihm von früh auf vertraut.
Er hatte sich an einem »Joseph« versucht, »zwo biblische Fragen« behandelt, den Aufsatz »Israel
in der Wüste« geschrieben, das »Hohelied« übersetzt, den »Mahomet«, die »Parabeln«
gedichtet. Herder wies ihn vielfach unmittelbar gegen Morgen, Friedrich Schlegel belehrte ihn
über Sprache und Weisheit der Inder, er interessierte sich für die »Sakuntala«, er las Ölsners
»Mohamed«, Napoleons Feldzug rückte Ägypten näher, Marco Polo das alte China, es ist kein
Ende. Um den engeren Kreis der Quellen legen sich immer weitere. Die zwischen Aufgang und
Untergang vermittelnden Geister treten hervor, Plato, Heraklit, Plotinus. Das Verständnis für die
Talismane mochten seine antiken Gemmen und Kameen verstärken, welche er seit seiner
italienischen Reise sammelte und erforschte. Sodann mußte ihm Abgeleitetes dienen, seine
Kenntnis der frühchristlichen Kirchen- und Ketzergeschichten, alte Kirchenlieder, wie jenes im
Divan anklingende »man trägt eins nach den andern hin«, Sprichwörtersammlungen wie die von
Agricola, Gruterus, Lassenius, Schellhorn.

  Zu erschöpfen ist der Zustrom des Divanmateriales kaum. An dem napoleonischen Wirrwarr
interessierte ihn vielleicht die auffällige Parallele zu den Kriegszügen des Timur am meisten, ja
vielleicht interessierten ihn am meisten die Baschkiren, die, mit den russischen Truppen nach
Deutschland verschlagen, in Weimar einen mohammedanischen Gottesdienst begingen. Aber
auch etwa sein Entzücken an der schönen jungen Kaiserin Maria Ludovika von Österreich ist eine
Divanquelle, wie viele mit seinen gleichzeitigen Briefberichten übereinstimmende Verse
beweisen.

  Doch genug der Namen und Daten. »Wer sich von dreitausend Jahren nicht weiß Rechenschaft
zu geben –!« Die Belege der Rechenschaft sind von den Kommentatoren, Goethe voran,
gesammelt worden, die Rechenschaft selbst in ihrem Gelingen, ihrem Zauber und ihrer Klarheit
bleibt geheimnisvoll. Doch unsere Augen sind geblendet, wenn sie die Zurüstungen zum Divan
plötzlich beisammen erblicken. Zugerüstet wurde von früh auf das Gesamtwerk Goethes, und in
gewissen Entscheidungsjahren sonderten sich die Sphären nur voneinander, wurden aber nicht
da erst geschaffen. Sie entschwebten der gemeinsamen Natur wie einst die Planeten der Sonne,
und das gleiche Licht blieb ruhend auf ihnen und erzog die verschiedenartigen Geschöpfe ihres
Wachstums. Goethe hatte, ohne daß es ihm bewußt werden konnte, schon in grüner Jugend
auch den Divan begonnen, ebenso wie er ihn nicht vollendet hatte, als er ihn vorläufig drucken
ließ, und selbst nicht, als er starb. Nur war in den letzten Jahren 1814/15 die überpersönliche
Natur in ihm, die diese Gedichte wollte, mit seiner Persönlichkeit übereingekommen und
kongruent geworden. Da gehörte ihm genau, was bisher anderen gehört hatte. Sie hatten ihre
Arbeit nun auch als die seine geleistet. Das Wandern der religiösen, philosophischen, poetischen
Gedanken hin und her von Okzident zu Orient und von Orient zu Okzident, durch Jahrhunderte,
die Geschiebe, die Schichtungen, – es hatte sich nun in seinem Geiste vollzogen. In den
tragfähigen Grundgefühlen, in den konstruktiven Hauptgedanken war draußen und drinnen kein
Unterschied mehr. Die Natur seiner Persönlichkeit und die Natur des zoroastrischen,
griechischen, mohammedanischen, christlichen Kulturkreises deckten sich. Hafis und Goethe
waren Brüder, Jesus und Mohammed waren es, auch Hafis und Hutten, im Kampfe, dieser gegen
braune, jener gegen die blauen Kutten seiner Sekte, und als dritter wiederum Goethe im Kampfe
gegen die »Mönchlein ohne Kapp' und Kutt'«. Auf seiner neuen Hedschra brauchte er sich
physisch nicht weit von der Stelle zu rühren, wie auf der ersten nach Italien. Damals flog er nach
einer Richtung, diesmal in alle Dimensionen. In seiner eigenen Verjüngung tauchte die Welt
verjüngt auf. Sie ist zu voll und schwer und vielgestaltig, um am leidenschaftlich beflügelten
Worte Genüge zu haben. Genießt sie sich selbst in ihrer Erfrischung, eine stille ungestörte
Schöpfung, so fühlt der Dichter gleichwohl »Frühlingshauch und Sonnenbrand«. Seine bittere
Ungeduld gegen das Verkehrte und Abstruse schweigt nur. Sie vernachlässigt es, indem sie sich
ins Positive der Gestalt wendet. Mit Lächeln und Güte geht er hier an dem vorüber, was er auch
mit unheimlicher Richterstimme treffen konnte. Als Greis weist er vor Eckermann zornig die
Zumutung zurück, daß er glauben solle, eins sei drei und drei sei eins. Im Divan schilt er das Kreuz
am Halse der Geliebten zwar eine »moderne Narrheit« und sagt: »mir willst du zum Gotte
machen solch ein Jammerbild am Holze«, gibt aber auch ruhig seine Wahrheit: »Jesus fühlte rein
und dachte Nur den Einen Gott im stillen; Wer ihn selbst zum Gotte machte, Kränkte seinen
heil'gen Willen.« Als Greis 1829 erklärt er hart dem Kanzler v. Müller: »Ich bin nicht so alt
geworden, um mich um die Weltgeschichte zu bekümmern, die das Absurdeste ist, was es gibt;
ob dieser oder jener stirbt, dieses oder jenes Volk untergeht, ist mir einerlei; ich wäre ein Tor,
mich darum zu bekümmern.« Sein Amt ist, sich um das Leben zu bekümmern. Seine Politik kehrt
sich vom Abnormen und Extremen. Er bedarf nicht des Weltenspiegels Alexanders, der nur ein
paar stille Völker zeigt, die Alexander mit anderen rütteln möchte; sein Weltenspiegel zeigt, was
er sich eigen sang. Die explosiven Patrioten sind ihm meist zuwider, und sogar gegen den
Freiherrn vom Stein zeigt er sich während der Divanzeit reizbar. Erst die innere Befreiung kann
wahre Freiheit bringen. Ist ein Volk dumpf, so werden seine lichteren Führer ihm nicht nützen.
»Wenn man auch nach Mekka triebe Christus' Esel, würd' er nicht Dadurch besser abgericht.
Sondern stets ein Esel bliebe.«

  Überall vertreibt er die Verdüsterung und Verqualmung, überall, wo eine Flamme ist, wartet
er ab, bis sie sich vom Rauche reinigt. Die Flamme ist ihm immer ein Abbild göttlichen Lichtes,
als Feuer, Begeisterung, Rausch, Liebe, – die Flamme, nicht der Sturm, der brandstiftende,
auslöschende. Er lebte in einer »schaureichen« Epoche. Wo soviel zu gleicher Zeit lebendig war,
konnte ihm das Daherbrausen nichts frommen, sondern nur das Erglänzen. Wie leidenschaftlich
sich das westöstliche Weltgebäude in ihm erleuchtete, das ermessen wir vielleicht an der
Mitteilung Mariannes, daß ihm beim Lesen seiner Gedichte nicht selten die Tränen in die Augen
traten.

  Was in den Gedichten steht, drückt sich für alle mögliche Wiederkehr gleichmäßig gültig aus.
Im engen Bezirk scheint es zuweilen nur flüchtige Aufbewahrung eines Einfalls oder einer
Anregung zu sein, im weiteren zeigt es sich allseitig durch tiefsinnige Beziehungen verknüpft.
Goethe übertreibt nicht und überrascht selten. Er braucht sich nicht zu erregen, wenn er in einer
neuen Erfindung eben ans Ziel langer innerer und äußerer Wege gekommen ist. Die Erfindung
ist nicht erfunden, sie bedeutet sich nur selbst, eins und alles, nicht bloß ein Zweifaches oder
Mehrfaches. Das Einzelne darf ruhiger sein als in Goethes Jugend, denn es hat jetzt mehr Welt
um sich als vormals. Aber wie groß ist das Alter des Dichters nun, da das Vielhundertjährige und
das ewig Jugendliche in ihm beisammen haust? Aus dem Geiste, der die Fülle hat, besitzt er alle
Lebensalter zugleich. Im Schenkenbuche, dramatisch geteilt, scheint er sowohl älter wie jünger,
als er ist. In den Betrachtungsbüchern hat er, nach den dort niedergelegten Proben zu schließen,
mehr Maximen hinter sich gebracht, als eine reale Lebenserfahrung zuläßt, und so darf er in die
Verklärung des Paradiesesbuches eintreten. In den Liebesbüchern ist sein Alter geringer, als die
Wirklichkeit es will. Und nur im Buche des Sängers, dem Reisebuche, besteht volle
Übereinstimmung zwischen dem fahrenden Kaufmann aus Morgenland und dem fahrenden
Dichter Goethe. Die Stunden und Augenblicke der Dichtung zielen nicht in das private Leben
zurück, aus denen sie ihren Stoff nahmen, sondern sie verweben sich dem kunstgewordenen
Leben des Werkes.

  Dieses hebt den Gewinn aus den langsamen Zeiten in eine gemeinsame Zeit. Sie zählt nicht
nach Sekunden, sondern nach Pulsen. Dasein ist der geographischen Herkunft übergeordnet,
Wirklichkeit der chronologischen. Darum verwirrt das Vielerlei nicht. Das Westöstliche ist ein
unzerteilbarer Begriff geworden. Außer vielen Namen des Morgenlandes sind Aurora, Helios,
Hesperus, Iris erwähnt, das Schweißtuch der heiligen Veronika, aber hinter den Namen stehen
Dinge, Menschen, Helden und Götter von heute und immer. Mit dem kalten Geschmacke
geprüft, mag die Nennung der Wesen mit so vielsprachigen Namen bisweilen stillos wirken. Aber
der Name ist Schall und Rauch: »gegraben steht das Wort, du denkst es kaum«. Es ist schwer,
die bildnerische und gefühlsmäßige Einheit eines Gedichtes wie »Laßt mich weinen! umschränkt
von Nacht in unendlicher Wüste« zu verlassen, um festzustellen, daß seine Vorstellungen aus
verschiedenen Richtungen zusammenstoßen; Wüste, Kamele, Treiber, Armenier, Staub die eine
Gruppe, Achill, Briseis, Xerxes, Alexander die andere. Alles war einmal und ist wieder mit dem
gleichen Verantwortungsgefühl von dem Dichter umfaßt worden, – das eint es. Die Betrachtung
jedes Dinges hat alle Grade von der Nüchternheit bis zum Überschwang durchlaufen, so wurde
es durch unddurch zum Eigentum dieser Betrachtung. Goethe unterscheidet nicht Gegenstände
und Ideen zum lästigen Hausgebrauch, zur festlichen Repräsentation und zum poetischen
Traum. Sind sie nicht in dem einen Bezirke gerecht, so auch nicht in dem anderen. Seine
Einbildungskraft verläßt niemals die Grenzen der Erfahrung, sie schleppt in der Tat immer die
Weltkugel mit sich. Wenn er dichtend des alten Meeres Muscheln im Stein suchte, so tat er es
in denselben Wochen als Geolog wirklich. Wenn er von der grünen und augerquicklichen Farbe
des Smaragds redet, so liegt sein Wissen darum zugrunde, daß der Smaragd nach alter
Überlieferung Heilkraft für die Augen besitzt (was er auch anderweitig erwähnt). Der Liebesbote
Hudhud, der Wiedehopf, beruht auf dem Vorgange des Hafis. So ist es überall. Man müßte sein
Verfahren übervorsichtig und prosaisch nennen, wenn das Wunder des Geistes ausbliebe. Es
geschieht; und der Bogen zwischen der praktischen Realität und der platonischen Idee hat nun
die weiteste Spannung, die denkbar ist, und ruht auf den beiden sichersten Pfeilern. So zitiert er
seinen Hafis und andere Vorbilder oft nahezu wörtlich nach den schlechten ihm handgerechten
Übersetzungen, und wenn zwei Dolmetscher sich um die Richtigkeit streiten, so zitiert er einmal
gar beide. »Wer kann gebieten den Vögeln still zu sein auf der Flur?« Das war einmal Hafis, dann
wurde es Hammer, und nun ist es auch Goethe, ohne daß den andern ihr Eigentum geraubt
wurde. Mehr noch: Marianne von Willemers schöne Beiträge im Divan sind ganz ihr geistiger
Besitz, aber sie sind auch eine Emanation Goethes. Seine geistige Aura hatte sie, die vorher nur
Gelegenheitsreime gemacht hatte, in sich gerissen, sie war gleichsam magisch geschlagen und
mußte zur Antwortdichterin in seinem westöstlichen Tone werden.In die magische Welt des
Divanbuches wird der Leser durch keinerlei künstlichen Aufwand gezogen. Das Klima der
sprachlichen Form durchläuft alle Jahreszeiten, und aus der Vollständigkeit ergibt sich eine
wunderbare und so geräumige Einfalt, daß die ungeheuren Weltschichten darin einwachsen und
ruhen. Goethe wollte sich nirgends einspinnen. Er bliebe immer bereit, einen artistischen
Scheinkosmos, der nur Stil wäre, zu zerbrechen, wenn er überhaupt in eine solche Gefahr käme.
Es liegt ihm auch nichts daran, andere einzuspinnen mit einem der Netze, in denen sich das
Gemüt des Zuhörers so gern und leicht fortziehen läßt, sei es dem der Ironie, der Sentimentalität
oder des genialischen Haudegentums. Die Magie atmet aus dem Ganzen her, und nur, wer des
Ganzen gewärtig bleibt, wird vom vollen Atem des Einzelnen bestrichen. Es mehren sich die
Gedichte, die den Hochmütigen durch eine ihm nicht genehme Schlichtheit und Simplizität
vexieren, und es mehren sich die Gedichte, die durch einmaliges Lesen und Hören nicht zu fassen
sind, ohne daß es die Schuld des Autors wäre; sind sie dann jedoch erfaßt, so leben sie als der
einfachste Ausdruck ihrer selbst weiter, »Selige Sehnsucht«, »Wiederfinden« und ähnliche.
Prosaische, kalte Wörter vervollständigen auch in seiner Sprache den Bestand an Wirklichkeit.
Sie sind nicht von ihrem Orte zu pflücken und nach ihrem Lexikonwerte zu wägen. Aus den
Wörtern als Wörtern soll gar nicht Gefühl rinnen, sondern Empfindung von Zeiten und Räumen,
Farbabständen, Festigkeitsunterschieden. Dabei geschieht es wohl, daß die Sprache sich aller
Rücksicht auf das Normale entäußert. Sie ist manchmal gepreßt, manchmal gelassen, alt und
jung, wie der Autor und seine Welt, nicht nachlässig, aber schöpferisch zulässig. Sie ist
unschuldig, weder asketisch-fanatisch noch übermütig. Goethe übersetzt nicht aus dem
Persischen und nicht ins Schriftdeutsche, sondern er spricht, wie aus vielen Reimen erkennbar
wird, sich selbst: den süddeutschen Frankfurter. Dergleichen Reime sind in dem über den
Dialekten schwebenden Normaldeutsch unrein, süddeutsch gehört jedoch rein. Am Klargefühl
der Persönlichkeit nimmt alles teil.

  Unsere Empfindung der formalen Geschlossenheit ist so groß, daß wir sie nur mit Anstrengung
uns gesprengt vorstellen können. Wir tun es einen Augenblick lang, um ihre mannigfaltigen
Elemente gewahr zu werden. Was drängt sich dann alles nebeneinander! Wir finden
Fremdwörter wie: Insulte, Grammatik, rhetorisch, deklinieren, konversieren; wir finden ein dem
Englischen des Shakespeare nachgebildetes Wort »bewhelmen«, das etwa »überwölbend
bedecken« ausdrückt, oder ein anderes anglisierend nachmalendes Wort »Kriegestunder«. Wir
sehen Goethe in ältere Zeiten, in entlegene Landschaften der Sprache zurückschweifen. Er sagt
»kütten« für »kitten«, er spricht von der »Sehe« des Auges, er braucht die mittelhochdeutsche
Form »betriegen« für »betrügen«, die freilich bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts vielfach
verwandt  wurde.  Sodann  bringt  er  Neubildungen  wie  »Schlechtnis«  und  »liebeviel«.
Fachausdrucke aus Sondergebieten des Lebens siedelt er in seiner Dichtung an, wenn sie ihm
Farbe, Kürze, Schärfe zu bieten haben. Statt »o du mein Lichtbringer!« sagt er »o du mein
Phosphor!«, der Kartenspielerausdruck »passen« kommt ihm einmal für »verzichten« gelegen.
Der durch und durch schauende Gestalter, vor dem der Keim des Wortes offen zutage liegt, so
daß es vor ihm noch einmal alle Stadien durchläuft bis zur Gegenwart, einer Gegenwart in
sinnlicher Jugend und Frische, zeigt sich in Bildungen wie »umgelost«, »Händeln« für Händel
haben und ausfechten, »bedünkeln« zu Dünkel, »musterhaft« in der Bedeutung von
»beispielhaft«. Erstreift die abstrahierende Selbstvergeßlichkeit der Sprache ab, wenn er statt
Geruch und Geschmack »Ruch« und »Schmack« setzt. Umgekehrt läßt er das Lautbild sich nicht
nur von innen beschauen, sondern auch nach außen treiben und quellen: die Geliebte wird
angeredet »Allschöngewachsene, Allschmeichelhafte, Allspielende, Allmannigfaltige«. Doch die
ungewaltsame Naturgewalt der Rede offenbart sich erst dann, wenn man sie nicht einsiedlerisch
– und dann vielleicht zuweilen wunderlich, selbstbewahrend, artistenstolz – der Pflege des
Einzelnen zugekehrt denkt, sondern wenn man sie als Rede nimmt. Dann öffnet sie alle
Dimensionen des Geistes im farbigen Abglanz der Sinne. Fern davon, bloß Gedanken, Gefühle,
Bewegungen mitzuteilen, gibt sie dem Auge, dem Ohre, im raschen prägnanten Zugriff dem
Getast und auch den schwerer vom Bewußtsein zu kontrollierenden, willkürlicher reagierenden
Sinnen ihr Fest. Darf man die Ausdrucksweise vieler anderer Dichter, nach einer Grundformel
suchend, als die Weise von Geistes- oder Augen- oder Ohrenmenschen bezeichnen, so ist das
bei Goethe und sonderlich bei dem Goethe des westöstlichen Divans nicht möglich. Seine Rede
spiegelt die Form seiner Persönlichkeit und zugleich die Form einer dreitausendjährigen Welt.
Während er spricht, sprechen alte Kulturen mit ihm, wie sie ihn gebildet, sich in ihm gemischt
und   geklärt   haben.   Natürlich   ist   hier   das   Gegenteil   eines   Vermittelns   von
Kultur inhalten gemeint: sonst würde ja nach ihrem Maße das durchaus Selbständige und
Einmalige der Persönlichkeit verdrängt und aufgehoben sein. Auch sprachlich genommen, ist ein
Griechenland, ein Morgenland, ein Welschland und Deutschland, das es nicht gab und gibt,
durch Goethe dennoch da. Zu Sulpiz Boisserée äußerte er am 3. August 1815: »Alles ist
Metamorphose im Leben, bei den Pflanzen und bei den Tieren, bis zum Menschen, und bei
diesem auch.« Ein anderes Mal bekennt er, aus den Formeln, die seit Jahrtausenden das Tiefste
in den Menschengeschlechtern sind und Zauberkraft über Kulturen und Einzelne ausgeübt
haben, könne man eine Art Alphabet des Weltgeistes zusammensetzen. Mit diesem Alphabet
schreibt er. Seine Buchstaben sind das, was die Metamorphose bewirkt. Aber damit nun das
Gedicht nicht »für lauter rationellem und spirituellem Gas« wie ein Luftballon in die Lüfte gehe,
ist es seiner Sprache erlaubt und erwünscht, zufällige Realitäten der östlichen oder westlichen
Überlieferung oder des eigenen privaten Erlebnisses zu benutzen, und sie muß deshalb trotzdem
nicht aufhören, Idiom des Weltgeistes zu bleiben, – auch im Technischen der Verse, im
Syntaktischen der Sätze. Ganz individuelle Schroffheiten des alternden Goethe prägen seine
Statur und sind zugleich vielleicht auch eine typische Denkbewegung toter fremder Völker. Es
ist nicht bloß eine lässige Manier, wenn er des öfteren das Ich und das Du ausläßt – »bin
erbötig«, »wenn bewunderst«. Ebensowenig ist es Absicht oder gar Tiefsinn. »Die Seel' zur Seele
fliehend«, – das ist ein fertiger Satz; »dem ihr sonst Schlafendem vorüberzogt«, – »jetzo glänz'
ich meiner Stelle« – es findet sich ein, es wurde nur als Geist gerufen, aber auch nicht, als es im
Wort erschien, erschrocken abgewiesen. Dergleichen Schroffes rüttelt uns, macht uns
aufmerksam und läßt uns fragen: von wannen kam es? Doch auch das Liebliche und Stille zwingt
gewiß oft genug geheimnisvoll und unnachweisbar viele typische Formen menschlichen
Anschauens zum Klang, während es nur höchst persönliches Glück, höchst persönliche Not
scheint. Manches ist leicht zu fassen in seinem doppelten, dreifachen oder vielfachen Hall.
»Wenn der Hörer ein Schiefohr ist« – das ist orientalische Prägung, zeitgenössische Polemik,
Goethes freundliche Wärme vor jeder Erscheinung! etwas Salziges, Bitteres und Süßes ist in der
Zeile gleichsam zur Einheit geworden. Reiche Reimklänge wie »überall an – Schall an, Lauf stört
– aufhört, Erzklang – Herz bang« oder »Kaum daß ich dich wieder habe. Dich mit Kuß und Liedern
habe« sind mindestens eine Vierheit: morgenländischer Geist, morgenländischer Klang,
deutscher Geist, deutscher Klang. Bei den dichterischen Nachfolgern Goethes wurde das dann
als Nachahmung gewöhnlich einfach: Kenntnis und Verwertung der Kenntnis; Rückert, Platen,
im Witzigen Heine. In Goethe tun sich die Kulturen auf, ohne daß man ihn Hand anlegen sieht,
sie bleiben Gesicht, Gehör, Eigenenergie. Bei den anderen ist das Handanlegen das erste, ein
kritisches Auge fällt auf sie, ein fremdes Ohr verhört sie. Sie können dabei richtiger und spezieller
gepackt werden, denn sie sind geistige Provinzen nur in einem Menschen, nicht mehr in einem
Kosmos. Uns überläuft oft ein Schauer, wenn wir Verse Goethes nach ihren verschiedenen
Heimatländern antwortlos befragen. »Ein Ast, der schaukelnd wallet« – «Die Perlen (der Tränen)
wollen sich gestalten. Denn jede nahm sein Bildnis auf« – »Fingerab in Wasserklüfte« – »Wenn
nun Bassora noch das Letzte, Gewürz und Weihrauch beigetan« –. Es soll kein Versuch
unternommen werden, hellenische Klarheit, patriarchalische Stärke und mystische Ruhe der
Juden,  Araber,  Perser,  romantischen  Drang  der  Westvölker  in  dergleichen  Akkorden
aufzuspüren, denn die dem allen wahlverwandte Natur Goethes wirkt ja gerade aus ihrer
eigenen Mitte heraus. Nur darauf sei wieder und wieder hingewiesen, daß seine Phantasie viel
breiter und tiefer in die Wirklichkeit reicht und sich aus Wirklichkeiten regt, als aus seinen
Worten  zu  entnehmen  nötig  und  ratsam  ist.  Wer,  selber  wirklichkeitsarm  und  der
Lebenstyrannei eines nur geistreichen Willens unterstellt, dies vergißt, stutzt vor Dunkelheiten
und Kompliziertheiten im Werke Goethes, die in Wahrheit meist nicht dichter und verfänglicher
an den verrufenen Stellen sind als an den lichten und gangbaren. »Dort, im Reinen und im
Rechten, Will ich menschlichen Geschlechten In des Ursprungs Tiefe dringen, Wo sie noch von
Gott empfingen Himmelslehr' in Erdesprachen Und sich nicht den Kopf zerbrachen.«



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