In Goethe selbst lagen alle Bedingungen zum epischen Dichter: desto schwieriger war es mitten in der Prosa einer alternden Welt einen Stoff zu finden, der der epischen Darstellung fähig war. Treten wir den damaligen Zeiten und Volksverhältnissen näher, um zu sehen, welcher Art dieser Stoff nur sein konnte.
Man hat es in neuerer Zeit Goethe oft zum Vorwurf gemacht, daß er so egoistisch sich abgeschlossen und nichts für sein Volk gethan. Er mit seiner mächtigen Rede hätte die schlummernde Nation zur Freiheit wecken, zu Thaten begeistern und zur politischen Größe führen sollen. Aber statt dem unterdrückten Recht seine hilfreiche Stimme zu leihen, suchte er Selbstgenuß in der schönen Kunst; ohne Herz für die Leiden des Vaterlandes, das in den Fesseln feudaler Barbarei oder moderner Polizeigewalt lag und in unzählige Herrschaften zerstückt das Schlachtfeld Europas bildete, vergnügte er sich als Höfling in Weimar und weder die Thaten Friedrichs des Großen noch die Unmacht des heiligen römischen Reichs deutscher Nation erregten ihn zu Begeisterung oder Unwillen. Besonders gegen das große Weltereignis, das am Ende des Jahrhunderts von Frankreich aus seine Donner über den Weltteil rollen ließ, hätte er nicht mit solcher Abneigung sich verschließen sollen: denn wo ließ sich ein mächtigerer Stoff für Epos oder Tragödie finden und wodurch konnte ein wahrhafter Dichter würdiger zu großen Gesängen gestimmt werden und tiefer alle Herzen der Zeitgenossen und der nachkommenden Geschlechter zu bewegen hoffen?
Es war besonders Ludwig Börne, ein gewiß ebenbürtiger Gegner, der diese Vorwürfe häufte. Lessing sagt in einem Briefe, er laufe Gefahr ärgerlich zu werden und mit Goethen trotz dem Genie, worauf dieser so poche, anzubinden. Ein halbes Jahrhundert später erfüllte ein Geistesverwandter Lessings die Drohung gegen den unterdes mächtig gewordenen Dichter. In immer erneuerten hingeworfenen Bemerkungen kommt er auf Goethe zurück, den er von Anbeginn gehaßt zu haben gesteht, und schleudert aus der Glut seines edeln Herzens, in der sich sein Märtyrerleben verzehrte, leuchtende Brandkugeln in Goethes Kunstanlagen. Goethe, ruft er aus, hätte ein Herkules sein können, sein Vaterland von großem Unrate zu befreien; aber er holte sich bloß die goldenen Aepfel der Hesperiden, die er für sich behielt, und dann setzte er sich zu den Füßen der Omphale und blieb da sitzen. Wie ganz anders lebten und wirkten die großen Dichter und Redner Italiens, Frankreichs und Englands! Und nun führt er das Beispiel Dantes, Alfieris, Montesquieus, Voltaires, Rousseaus, Miltons u. s. w. an. Die furchtlose unbestechliche Richterin, sagt er ein andermal, wird Goethe fragen: Dir ward ein hoher Geist, hast du je die Niedrigkeit beschämt? Der Himmel gab dir eine Feuerzunge, hast du je das Recht verteidigt? Du hattest ein gutes Schwert, aber du warst immer nur dein eigener Wächter! Wenn Gottes Donner rollen und niederschmettern das Gequieke der Menschlein da unten, dann horcht ein edles Herz und jauchzt und betet an und, wer angstvoll ist, hört und ist still und betet; der Dämische aber verstopft sich die Ohren und hört nicht und betet nicht und betet nicht an. Schiller während der heißen Tage der französischen Revolution schrieb in der Ankündigung der Horen: Vorzüglich aber und unbedingt wird sich die Zeitschrift alles verbieten, was sich auf Staatsreligion und politische Verfassung bezieht. So sprach und dachte auch Goethe, er, der angstvoller als eine Maus beim leisesten Geräusche sich in die Erde hineinwühlt und Luft, Licht, Freiheit, ja des Lebens Breite, wonach sich selbst die totgeschaffenen Steine sehnen, alles, alles hingibt, um nur in seinem Loche ungestört am gestohlenen Speckfaden knuppern zu können. Als ich heute gegen Weimar zu fuhr, schreibt er in einem Briefe, und es vor mir lag mit seinen roten Dächern im Wintersonnenschein kalt und freundlich, und ich dachte, daß Goethe darin schon länger als fünfzig Jahre wohne, daß er es nie verlassen, da überfiel mich wieder der Groll gegen diesen zahmen, geduldigen, zahnlosen Genius. Wie ein Adler erschien er mir, der sich unter der Dachtraufe eines Schneiders angenistet. Und ein solcher Mensch sollte doch ein fleischfressendes Tier sein und nicht wie ein Spatz Gerste essen, auch nicht aus der schönsten Hand. Und zu Goethes Tag- und Jahresheften von 1790 ruft er: Was? Goethe, ein reichbegabter Mensch, ein Dichter, damals in den schönsten Jahren des Lebens, wo der Jüngling neben dem Manne steht, wo der Baum der Erkenntnis zugleich mit Blüten und mit Früchten prangt, er war im Kriegsrate, er war im Lager der Titanen, da, wo vor vierzig Jahren der zwar freche, doch erhabene Kampf der Könige und Völker begann, und zu nichts begeisterte ihn dies Schauspiel, zu keiner Liebe, zu keinem Hasse, zu keinem Gebete, zu keiner Verwünschung, zu gar nichts trieb es ihn an als zu einigen Stachelgedichten, so wertlos nach seiner eigenen Schätzung, daß er sie nicht einmal aufbewahrte, sie dem Leser mitzuteilen? Und als die prächtigsten Regimenter, die schönsten Offiziere an ihm vorüberzogen, da gleich der jungen blassen Frau eines alten Mannes bot sich seinem Beobachtungsgeiste kein anderer, kein besserer Stoff dar als die vergleichende Anatomie? Und als er in Venedig am Ufer des Meeres lustwandelte, Venedig, ein gebautes Märchen aus Tausend und einer Nacht, wo alles tönt und funkelt, Natur und Kunst, Mensch und Staat, Vergangenheit und Gegenwart, Freiheit und Herrschaft, wo selbst Tyrannei und Mord nur wie Ketten in einer schauerlichen Ballade klirren, die Seufzerbrücke, die zehn Männer, es sind Szenen aus dem fabelhaften Tartarus, Venedig, wohin ich sehnsuchtsvolle Blicke wende, doch nicht wage ihm nahe zu kommen, denn die Schlange österreichischer Polizei liegt davor gelagert und schreckt mich mit giftigen Augen zurück, dort, die Sonne war untergegangen, das Abendrot überflutete Meer und Land und die Purpurwellen des Lichts schlugen über den felsigen Mann und verklärten den ewig Grauen und vielleicht kam Werthers Geist über ihn und dann fühlte er, daß er noch ein Herz habe, daß es eine Menschheit gebe um ihn, einen Gott über ihm, und dann erschrak er wohl über den Schlag seines Herzens, entsetzte sich über den Geist seiner gestorbenen Jugend, die Haare standen ihm zu Berge und da in seiner Todesangst,«nach gewohnter Weise, um alle Betrachtungen loszuwerden«, verkroch er sich in einen geborstenen Schafschädel und hielt sich da versteckt, bis wieder Nacht und Kühle über sein Herz gekommen! Und den Mann soll ich verehren? den soll ich lieben? u. s. w.
Um diese Vorwürfe zu würdigen, ist es nötig, das Jahrhundert, in dem Goethe lebte, und die Nation, die ihn hervorgebracht hatte, kurz zu zeichnen.
Das achtzehnte Jahrhundert verfolgte bei den drei Hauptvölkern Europas eine ganz verschiedene Richtung: es war in England industriell, in Frankreich emanzipativ, in Deutschland ästhetisch. Das achtzehnte Jahrhundert erhob England zu der kolossalen Industrie, die jetzt das Staunen der Welt bildet; damals begann von geringen Anfängen die Baumwollenproduktion, die der Töpferwaren, die Stahl- und Eisenbearbeitung und stieg mit rapidem Wachstum zu ihrer jetzigen Höhe auf. In den industriellen Bezirken wurden kleine Flecken, ärmliche Fischerdörfer in wenigen Jahren mächtige Fabrikstädte; ganze Grafschaften verwandelten sich in unermeßliche rauchumhüllte Werkstätten. Industrielle Genies traten auf, die durch Erfindungen aller Art, durch unermüdliche Beharrlichkeit den wichtigsten Zweigen in der Stille einen raschen Schwung gaben. Ein verbessertes Verfahren drängte das andre, eine Maschine die andre. In gleichem Verhältnis mit der Entwicklung der Industrie stieg die der See- und Kolonialmacht Englands. England eroberte Ostindien, das große anglo-indische Reich ward gegründet und den Franzosen, Spaniern, zuletzt auch den Holländern alle ihre Kolonien entrissen. Der nordamerikanische Freiheitskrieg zwar schien dies Wachstum unterbrechen zu wollen, eine der wichtigsten Kolonien hatte sich losgerissen und Frankreich gewann wieder Vorteile. Aber die langwierigen Kämpfe mit der französischen Revolution und mit Napoleon machten England zur Herrscherin in allen Meeren; wenn man Kuba ausnimmt, welches Spanien verblieb, und Java, welches die Holländer retteten, so gingen alle bedeutenden und reichen Niederlassungen in allen Teilen der Welt und alle wichtigen Seestationen in Englands Hände über; es faßte Fuß im mittelländischen Meer, riß den levantischen Handel an sich und öffnete sich Mittel- und Südamerika, indem es den Abfall der spanischen Dependenzen begünstigte. So machte das achtzehnte Jahrhundert England in größerem Maßstabe zu dem, was im siebzehnten Jahrhundert Holland gewesen war.
Eine ganz andre Mission hatte das Jahrhundert in Frankreich zu erfüllen. Hier war politische und religiöse Emanzipation der Punkt, dem alle nationalen Kräfte zuströmten. Nach der formellen Klassik unter Ludwig dem Vierzehnten wurde unter dem Regenten und unter Ludwig dem Fünfzehnten Kritik und Skepsis in allen Gebieten herrschend. Was schon Cartesius an die Spitze gestellt hatte »de omnibus dubitandum est«, was darauf Pierre Bayle mit durchdringendem Scharfsinn, obgleich noch schüchtern begonnen hatte, das wurde jetzt von Voltaire, Rousseau und den Encyklopädisten umfassend ins Werk gesetzt. Es war das Jahrhundert der Aufklärung, das überall mit der Leuchte der Humanität und Philosophie die Gespenster des Aberglaubens zu bannen und die Fesseln barbarischer Traditionen zu brechen suchte. Unter der Fahne der Ideen Vernunft, Natur, Menschheit, Freiheit, mit den Waffen des Spottes, der Beredtsamkeit und der Kritik ward ein siegreicher Kampf mit den Dogmen und der Hierarchie der Kirche und den politischen Einrichtungen geführt. Der Deismus, der in England keine nationalen Wurzeln gehabt hatte und bald abgestorben war, ward in Frankreich zur populären Sache des Jahrhunderts erhoben. Montesquieu, der schon in seinen lettres persanes die Kirche empfindlich getroffen hatte, lenkte durch seinen esprit des lois die Blicke der Nation aus den Staat; Rousseau untersuchte in seinem contrat social das Fundament der politischen Gesellschaft; Voltaire, der Alleinherrscher seiner Zeit, lag sein langes Leben hindurch mit den Ungeheuern der Finsternis im Kampf, die er spielend erlegte; die Encyklopädisten unterwarfen alles Gegebene den dekomponierenden Operationen ihres Verstandes; Beaumarchais untergrub durch seine Komödie »die Hochzeit des Figaro« den Adel: so nahm in allem das Subjekt die Autonomie in Anspruch und nichts galt mehr, als was sich vor Vernunft und Menschengefühl rechtfertigen konnte. Während in England zugleich mit dem Industrialismus und wachsendem Volkswohlstand der finstere Methodismus
sich verbreitete, die Hochkirche erstarrte, die Oligarchie und Kastensonderung sich befestigte, der Staat ein irrationales Gewächs blieb und in Gebräuchen, Meinungen und Sitten das Mittelalter und die Scholastik ihre Herrschaft behaupteten, brach Frankreich die Bastille und die Adelsschlösser nieder, hob in der Nacht des 4. August alle feudalen Vorrechte auf, impfte durch Jefferson Amerika seine Demokratie ein, rief die Schwarzen von St. Domingo zur Freiheit auf und durchzog mit Ideen und Kriegsheeren den Weltteil.
Ganz anders gestaltete sich die Aufgabe, an deren Lösung Deutschland in diesem Jahrhundert arbeitete. Sie war weder kommerziell wie in England, noch progressistisch wie in Frankreich, sondern ästhetisch und metaphysisch; die innere Freiheit und Schönheit des Gemütes war das Ziel, das den Besten der in äußeren geistlosen Formen erstorbenen Nation vorschwebte.
Auf das rege nationale Leben im Reformationszeitalter war geistige Erstarrung gefolgt. Die Universitäten, von denen im sechzehnten Jahrhundert zum Teil die frische Bewegung ausgegangen war, waren jetzt die Stätten, wo das Geistesdunkel am sorgfältigsten gepflegt wurde. Toter Formalismus und barbarische Scholastik umschnürten dort die lebendige Wissenschaft, die zum gemeinen Handwerk herabgesunken war und den strebenden Geist, wo er nur seine Flügel zu regen suchte, mit geistlosem Mechanismus niederdrückte und in die Formel der Orthodoxie zurückdrängte. Die Schultraditionen wurden auf den Universitäten mit pedantischer Despotie aufrechterhalten; von den Kathedern ertönte mit steifer Ernsthaftigkeit die dürre und geistlose, mitunter durch Zoten gewürzte Paragraphen- und Zitatenweisheit. Der enge Geist der Korporation schloß die Universitäten gegen das Volk und das Leben ab. Dieser Geist zeigte sich in der lächerlichen Steifheit und Würde der gravitätischen Universitätslehrer, unter denen der Brotneid herrschte (in der That kämpften sie oft mit dem Hunger), sowie in der empörenden Roheit und dem Pennalismus des Burschenlebens, das sich ohne idealen Schwung in brutalen Lizenzen dem bürgerlichen Leben ebenso abgeschlossen gegenüberstellte. Ueberall war statt der Volkssprache das echte Organ der Scholastik, das Latein, in Gebrauch. Leibniz sagt: in Germania inter alias causas ideo fixior est scholastica philosophia, quod sero et ne nunc quidem satis germanice philosophari coeptum est. Das Latein bildete die dicke Mauer zwischen dem Volk und den Gelehrten: jenes erfuhr nichts von den gelehrten Spitzfindigkeiten und konnte ihnen also weder Spott noch gesunden Menschenverstand entgegensetzen; diese raubten sich dadurch selbst den freien Blick ins Leben und bauten, wie Schlosser sich ausdrückt, im Dunkeln ihre Kartenhäuser, die nur Träumer bewohnen konnten. Selbst die literarischen Journale, doch für das lebendige Bedürfnis des Tages und für Kenntnisnahme aller berechnet, erschienen in lateinischer Sprache, welche Sitte sich bis tief ins achtzehnte Jahrhundert erhielt: während in Frankreich und England die einheimischen Sprachen schon eine klassische wissenschaftliche Prosa aufzuweisen hatten, während z. B. in Paris das journal des sçavans in französischer Sprache erschien, gab es in Leipzig eine lateinische Literaturzeitung unter dem Namen acta eruditorum, in Hamburg eine andre nova literaria Germaniae u. s. w. Das journal des sçavans wurde in Deutschland durch den Professor Nitzsch ins Lateinische übersetzt und noch in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts sah sich der Philosoph Wolff genötigt, mit seiner deutsch geschriebenen Logik ein Gleiches zu thun, um sie seinen gelehrten Amtsbrüdern zugänglich zu machen. Als es Thomasius im Jahre 1688 in Halle wagte, seine Vorlesungen in deutscher Sprache anzukündigen, war der Skandal ungeheuer und von allen Seiten traf Verhetzung und Verachtung den kühnen Verletzer der Zunftgesetze: man erklärte seinen Schritt mit schadenfrohem Dünkel aus seiner Unwissenheit im Latein. Diejenige Wissenschaft aber, die durch den traurigsten Einfluß das Leben und alle übrigen Wissenschaften lähmte, war die Theologie. Die frische religiöse Polemik der Reformationszeit hatte die starren Formen einer blinden und fanatischen Orthodoxie als Niederschlag zurückgelassen. Eigensinnige Theologen stritten über Nebenpunkte des fertigen dogmatischen Systems mit einer Heftigkeit und Hartnäckigkeit, neben welcher jede andre wahrhaft fruchtbare Geistesarbeit erstickt ward. In uniformer Rechtgläubigkeit wurde von allen Kathedern gelehrt und von allen Kanzeln gepredigt. Jeder etwas freier denkende Kopf ward durch Verfolgung zum Verstummen gezwungen und, wenn er Widerstand leistete, das weltliche Schwert zu Hilfe gerufen. Der gegenseitige Haß der Lutheraner und Reformierten war fast ärger als ihr gemeinsamer gegen die katholische Kirche, und an den protestantischen Höfen hatten die Oberhofprediger dieselbe einflußreiche und intrigante Rolle, wie die Beichtväter an den katholischen. Dieser trocknen Schultheologie gegenüber konnte die katholische Kirche wenigstens aus dem reichen Schatz ihrer alten Mystik, Kunst und Liturgie schöpfen und an Fanatismus gaben die lutherischen Zeloten und Kanzelpolemiker den Jesuiten und römischen Pfaffen der schlimmsten Zeiten nichts nach. Fast derselbe blinde Positivismus wie in der Theologie herrschte auch in der Jurisprudenz. Was dort die Formel des Symbols, war hier die Formel des römischen Rechts. Das lebendige, mit dem Volksbewußtsein verschlungene Recht war ebenso zur Buchstabenweisheit einer abgeschlossenen Zunft geworden. Man wird von Schauder ergriffen, wenn man einen Blick in die damalige Kriminalistik wirft. Nicht bloß zogen sich die Prozesse durch alle Windungen des Formalismus mit endloser Langsamkeit in die Länge, sondern ohne Ahnung von dem innern Seelenleben des Verbrechers, von den Motiven und Gemütsleiden, die zu dem Verbrechen geführt, von den sozialen und politischen Schäden, deren Symptom es war, wurden mit Anwendung der Folter Geständnisse erpreßt und schaudervoll grausame Hinrichtungen verfügt. Die Juristenfakultäten, denen die Akten zur Begutachtung übersandt wurden, wetteiferten in unmenschlichen Entscheidungen. Die monströseste Geburt aber, die die positive Jurisprudenz und die positive Theologie in gemeinsamer Umarmung erzeugten, waren die entsetzlichen Hexenprozesse, die im siebzehnten Jahrhundert in ganz Deutschland häufig waren und sich bis ins achtzehnte Jahrhundert erhalten: theologische Finsternis und juristische Barbarei wirkten in ihnen zusammen. Die Philosophie war noch immer die kümmerliche, gedrückte ancilla theologiae; bald mit dem Fluch belegt, bald zu formellen Geschäften benutzt, nahm sie im Verbande der Wissenschaften ungefähr die Stelle ein, wie die Juden im politischen Verbande. Leibniz wandte sich in seiner großartigen, vielseitigen Wirksamkeit mehr an die Höfe und das Ausland und bediente sich bei seinen Schriften des Lateinischen und Französischen; rücksichtsvoll, schonend, ängstlich wie er war, flößte er dem breit herrschenden Dogmatismus keine Besorgnis ein. Erst um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts begann die Leibnizsche Philosophie unter der systematisch verständigen Gestalt, die ihr Christian Wolff gegeben hatte, die übrigen Wissenschaften zu rationalisieren. Unter den Händen der Philologie jener Zeiten verwandelten sich die Schätze des Altertums in totes Gestein und bildeten ein Gewicht mehr, den Geist herabzudrücken. Weit entfernt, durch das ideale Menschentum, das aus den Schriften und Kunstwerken der Griechen redet, erfrischend und begeisternd die erstarrten Pulse der Nation zu lösen, hatten die Philologen kaum eine Ahnung von dem wahren Leben jener Völker, die der Gegenstand ihrer gelehrten Bemühungen waren. Erst in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts wurde durch Heyne in Göttingen die trockne grammatisch-kommentatorische Zitatengelehrsamkeit, deren Hauptquartier besonders Sachsen war, von der ästhetischen Richtung gemildert; erst Friedrich August Wolf emanzipierte die Philologie als eigne Wissenschaft aus der niedern Stellung eines theologisch-pädagogischen Mittels; bis auf Buttmann wurden die grammatischen Regeln nicht aus den Klassikern, sondern meistens aus dem Neuen Testament abstrahiert. Die Wurzel dieses überall sichtbaren unfreien Geistes lag in dem traurigen Zustand der Pädagogik und der Schule. Hier waltete, wie in der äußern Disziplin der Bakel, so im Unterricht der Zwang kirchlicher Autorität und die Tyrannei der Methode. Statt die Jugend in naturgemäßer Selbstentwicklung zu fördern und zur Menschlichkeit zu bilden, waren die gelehrten Schulen nur darauf aus, durch unfruchtbare Pedanterie alle genialen Regungen in ihr zu töten; lateinisch sprechen, lateinische Verse machen, war der Triumph der Schulbildung. Die Naturwissenschaft, noch in der Kindheit begriffen, ward bei jedem Schritt von der Kirche und deren Dogmen behindert. Ueberhaupt war das Gefühl für die Natur und die Hingebung an sie durch den supranaturalen Wunderglauben erstickt; der Standpunkt, sie zu betrachten, war der mechanische und der teleologische. Die Theologie, die überall den Mittelpunkt bildete, hatte ja den ganzen Inbegriff der natürlichen und menschlichen Dinge als weltlich und also nichtig von der Teilnahme ausgeschlossen, die Erforschung derselben fast als Sünde gestempelt: wie konnte die Naturforschung, ja die Wissenschaft überhaupt gedeihen, solange der theologische Standpunkt die Gemüter beherrschte? Gehen wir von der Wissenschaft zum Leben und zur Sitte über, so finden wir hier alles in gleicher Unnatur befangen und von toten konventionellen Formen eingeschnürt. Den geselligen Umgang hemmten willkürliche Anstandsgesetze, weitläufige Umschweife und Titulaturen, Heuchelei und schamlose Servilität. Das Ihr in der Anrede ward zum künstlichen Er, das Er zum völlig abgeschmackten Sie. Nirgends trat der Mensch selbst hervor, nirgends sprach der Mensch zum Menschen. Die freie soziale Bildung, die in Frankreich längst aufgeblüht war und sich ihre eignen Regeln geschaffen hatte, kam nach Deutschland nicht in ihrem humanen Prinzip, sondern in ihren Regeln hinüber, die nun einen lächerlich-unwahren Zwang ausübten. Eine prüde Moral hielt die beiden Geschlechter ferne voneinander; die Stände waren durch strenge Schranken geschieden und jede Extravaganz der Leidenschaft oder der Begeisterung über die Linien der Satzung und des Herkommens fand an der Menge eine lieblose und verdammungssüchtige Richterin. Da auf solche Art das Leben in jeder Richtung in Formalismus erstarrt war und das Herz der Nation unter einer dicken Eisrinde stillstand, so konnte auch die Poesie ohne Wurzeln in der nationalen Wirklichkeit nur ein dürftiges, künstliches Dasein fristen. Da sie aus dem Quell des lebendigen Menschengefühls nicht zu schöpfen fand, fiel sie bald in geistlose Leere, bald in unerträglichen metaphorischen Bilderprunk; sie war in Form und Ausdruck wie im Inhalt unwahr und konventionell. Obgleich Opitz kaiserlicher Rat gewesen war, stand das Geschäft des Dichters immer noch in schlimmem Ruf und Bürger empfahl sich bei den Göttinger Professoren schlecht durch sein Versemachen.
Aus jenem Formenzwange nun, aus der Selbstentfremdung in dürren objektiven Satzungen die Nation zu Wahrheit und Natur zurückzuführen, dem Gemüte, der innerlichen Welt des Subjekts ihr Recht wiederzuerobern, die falschen Konvenienzen zu brechen, die dumpfen Kerker der Pedanterie und Scholastik dem Licht zu öffnen, dies war die Arbeit und die Aufgabe des achtzehnten Jahrhunderts, und auf diesem Punkt ist es, wo Goethe durch seine Dichtungen den unvergänglichen Lorbeer gewann. Alle politischen Fragen lagen bei dieser naturalistisch-ästhetischen Emanzipation außer dem Gesichtskreise. Der Kampf richtet sich gegen die Schranken, die die freie Subjektivität einengen: das Individuum soll mit den tiefen Rätseln und Mysterien seines Inneren, mit der ganzen Unendlichkeit seiner Empfindung das arme Schema der fertigen äußeren Gattungen durchbrechen, es soll zugleich in schöner Selbstbildung die Welt anerkennen und mit der positiven Vernunft ihrer Einrichtungen sich erfüllen; die abstrakten Sätze des hochmütigen, in Kirche und Wissenschaft verhärteten Verstandes sollen sich in dem Lebensstrom der totalen allumfassenden Natur auflösen; die Sitte soll wieder die Wahrheit ursprünglichen Menschengefühls aussprechen und durch schöne Kultur die elende, heuchlerische Moral ersetzen. Wie seit den Zeiten der Reformation über zwei Jahrhunderte lang die Theologie das Szepter geführt und das theologische Interesse den Mittelpunkt gebildet hatte, so setzte diese neue Zeit über den Trümmern der theologischen Welt die Schönheit als Herrscherin ein. Winckelmann führte zuerst die Nation in die Heiligtümer der alten Kunst ein, wo die Versöhnung der Natur und des Geistes sichtbar vollzogen war; in den marmornen Darstellungen griechischer Götter, die die Theologen als Teufelswerke und Götzenbilder der Heiden gebrandmarkt hatten, gingen ihm Ideale der Schönheit und echten Menschlichkeit auf, die er in seiner Kunstgeschichte mit naiver Begeisterung beschrieb. Lessings Bestimmung war es, die Schule, diesen Alp, der auf Deutschland drückte, wegzuwälzen. Mit gewandter Unruhe in alle Gebiete der Wissenschaft und Kunst bald kritisch, bald produktiv Streifzüge machend, störte er überall die hochmütige Sicherheit des gelehrten Besitzstandes und legte Feuer an die morschen hölzernen Burgen, in denen dieser verschanzt saß. Indem er die Stellen bezeichnete, wo die wahre Quelle der Poesie, des echten religiösen Gefühls sprudelte, warf er die Gedichte und orthodoxen Lehren seiner Zeit als leere Hülsen fort. Wie Winckelmann, der Kunstbegeisterte, aus dem alten Luthertum austrat, so wußte auch Lessing nicht bloß in seinen Schriften die umfassendste Gelehrsamkeit in die Form der leichteren dialogischen Prosa zu bringen, sondern warf auch in seinem Leben allen pedantischen Zwang ab. Nathan der Weise, sein letztes Werk, befreite ganz im Sinne des Jahrhunderts die Idee der Menschenliebe und Menschenachtung aus den positiven Religionen, die auf den Haß und die alleinige Formel gebaut waren. Gleicherweise ist auch in Herders langer Schriftstellerlaufbahn die primitive Menschennatur der überall durchklingende Grundton. Auch er suchte das starre Eis der leblos gewordenen Formen durch den warmen Hauch des Gemütes zu schmelzen; in die dürre altlutherische Orthodoxie führte er die belebenden Mächte der Dichtung und Sage, der Liebe und Phantasie, die Mystik, Vision und orientalische Bilderwelt, in die Theorie der Dichtkunst die Natur, die Genialität, das Volkslied, die Unmittelbarkeit der künstlerischen Produktion, die nationelle und historische Charakterbestimmtheit ein. So knüpfte sich an ihn der Anbruch jener Epoche, die stürmend und drängend den inneren Genius aus den Fesseln jeglicher Unnatur zu befreien trachtete. Goethe war das poetische Genie, das diese Befreiung in positiven Dichterthaten vollzog; er wollte nach seinen eignen Worten den Menschen das Gefühl eines edeln und wahren Daseins zum Bewußtsein bringen. Schon in seinen Jugendliedern, die auf die kalte, moralisierende, gemachte Lyrik unmittelbar folgen, trifft die wahrste, naivste, seelenvollste Melodie unser Ohr; im Werther werden alle Leiden und Seligkeiten eines einseitigen Gemütslebens, das mit sich und der Welt in grausamem Bruch ist, vor uns erschlossen; im Tasso ist gleichfalls die innere Welt der Dichterbrust in ihrem thränenvollen Kampf mit der herben Realität, mit der sie eigenwillig und übergreifend sich noch nicht in Einklang gesetzt hat, vor unser Auge gezaubert; der Faust ist das tiefsinnige Drama von dem Ich, das auf sich selbst gestützt an sich verzweifelt, schmerzvoll ringt, in Genuß und Erkenntnis vergeblich sich zu genügen strebt und endlich in freier Wirksamkeit und Thätigkeit den Frieden gewinnt; in der Iphigenie stehen wir auf dem Boden des schon gewonnenen Sieges und die Schönheit einer edeln Seele ist Herrin über die blinde Verworrenheit der Leidenschaft und über Fluch und Frevel grauenvoller Vergangenheit; in den römischen Elegieen ist in dem süßen Genuß befriedigter Liebe, in der unbefangenen Grazie reinen menschlichen Empfindens alle negative, naturfeindliche Moral auch selbst als Feindin aus dem Bewußtsein geschwunden und nur die hineinblickenden Zeugen einer großen untergegangenen Welt mischen Tropfen der Wehmut in den Kelch heiterer Freude, diese mehr lindernd als trübend. So bilden in Goethes Dichtungen überall innere Seelenstimmungen das Thema und in tausend variierenden Modulationen singt er von den Leiden und der Heilung der Brust. Die innere Unendlichkeit des Subjekts hat sich aufgethan und es läutert sich zu Schönheit und Adel. Daher das weibliche Ideal Goethe am herrlichsten gelungen ist, denn des Weibes Bestimmung ist, sich mit der Welt ins Gleichgewicht zu setzen, nicht mit ihr heroisch zu kämpfen. Mit der Politik, wo im Lärm der Leidenschaft und That die innere Musik der Seele verhallt und die stille Entwicklung natürlichen Werdens durch die Empörung des Eigenwillens unterbrochen wird, mit dieser konnte Goethe und das ganze ihn umgebende Geschlecht nichts zu schaffen haben wollen. Wo Goethe ein politisches Thema zu behandeln unternimmt, z. B. im Götz, im Egmont, da verwandelt es sich unter seiner Hand in ein Gemälde innerer Seelenzustände. So bekämpft und verhöhnt auch Lessing die Aristokratie hochgelehrter Perückenhäupter, nirgends die politische Aristokratie, den Sultanismus, die Favoritenherrschaft seiner Zeit. Auch er war ein Literat, kein Publizist. Die Männer des achtzehnten Jahrhunderts in Frankreich kamen in die Bastille, sie mußten ihre Bücher in Holland drucken lassen und diese wurden von Staatswegen öffentlich verbrannt: die gleichzeitigen deutschen Reformatoren blieben in Frieden mit der Zensur, denn ihre Bücher waren auf Befreiung des inneren Menschen und des Privatlebens, nicht auf bürgerliche Emanzipation gerichtet; was sie zerstören wollten, war die Satzung in Kunst, Moral und Sitte; was sie erobern wollten, war die Welt im theologischen Sinne des Wortes. Selbst Schiller, den man als den historischen Dramatiker zu bezeichnen pflegt, hielt sich unter den Kantschen Werken am meisten an die Kritik der Urteilskraft, wo der Kampf der Freiheit in der Schönheit sich versöhnt, und entfaltet in seinen Dramen mehr Neigung zu psychologischen Schilderungen und zum Pathos des Individuums, als Talent für Zeichnung der ehernen Züge der Zeitphysiognomie im großen. Mit Recht sagt Gustav Pfizer über den Wallenstein: Wallenstein macht doch nicht den Eindruck, daß von dem Schicksal des darin auftretenden Helden die Wendung des welthistorischen Krieges und das Schicksal Deutschlands großenteils abhänge; Wallenstein selbst interessiert uns nur als Individuum, als psychologischer, nicht als historischer Held; Deutschland, das blutende, zerrissene und einer noch grausenvolleren Zukunft entgegenschauende Deutschland jener Zeit ist weder in den Piccolomini, noch in Wallensteins Tod vertreten. Auch in der Maria Stuart ist es nicht der Konflikt zwischen dem Staatsinteresse Englands und den Forderungen der Menschlichkeit, nicht der Konflikt zwischen Katholizismus und Protestantismus, auch nicht der zwischen dem sächsischen und dem schottisch-französischen Volksstamm, es ist nicht dieser politische Konflikt, der die Seele des Stücks ausmacht, sondern weibliche Eifersucht führt die tragische Katastrophe herbei und wir befinden uns ganz in dem privaten Gebiet individueller Charakterentwicklung. Ganz in dem Sinne jener Literaturepoche ist es, wenn Schiller in der Ankündigung der Horen sagt, es sei Bedürfnis, durch ein allgemeines höheres Interesse an dem, was rein menschlich ist, die Gemüter wieder in Freiheit zu setzen und die politisch geteilte Welt unter der Fahne der Wahrheit und Schönheit wieder zu vereinigen. Daß auch in den Briefen über ästhetische Erziehung Schiller nicht die ästhetische Kultur zu einem geschichtlichen Durchgangspunkt machen wollte, durch welchen die Völker in den verschiedenen Perioden der Weltgeschichte gehen müssen, um für die politische Freiheit reif zu werden, daß also der ganze Gegensatz für Schiller nicht, wie Gervinus will, ein empirischer Einteilungsgrund des historischen Materials ist, sondern die ästhetische Erziehung nur eine sittlich-schöne Wiedergeburt bezweckt, welche, wird sie jemals vollendet, die politische Wiedergeburt ersetzte und sie enthielte, dies hat Guhrauer vortrefflich gegen Gervinus und dessen einseitige Betonung des historisch-politischen Elementes auseinandergesetzt.
Nichts natürlicher also, als daß Goethe, der Dichter des achtzehnten Jahrhunderts (denn das war er, obgleich sein Leben auch das erste Drittel des neunzehnten umfaßte), von dem politischen Geiste unberührt blieb, der jenseit des Rheins so furchtbare Ereignisse ins Leben rief. Das deutsche Publikum war allen politischen Gegenständen gegenüber apathisch, es bewegte sich in ganz anderen Sphären; so auch die Dichter. Ich selbst und mein engerer Kreis, erzählt Goethe von seiner Jugend, befaßten uns nicht mit Zeitungen und Neuigkeiten; uns war darum zu thun, den Menschen kennen zu lernen; die Menschen überhaupt ließen wir gern gewähren. Die Revolution fand zwar anfangs in Klopstock einen enthusiastischen Anhänger, aber wie alles bei diesem Dichter war auch diese Bewunderung eine abstrakte; die Freiheit, die ihm vorschwebte, war eine Seifenblase, die sehr bald zerplatzte; als die Revolution sich auf konkretem Boden nach den Bedingungen der Wirklichkeit gestaltete, als sie wie jedes Ideal in die historischen Verhältnisse eingehend durch diese sich durchkämpfen mußte, da hatte er nicht Sinn für wirkliche Politik genug, um sie in diesem Kampf zu begleiten; er ward der Idee bei der ersten unvollkommenen Gestalt, die sie annahm, untreu und schmähte sie nun mit derselben Grandiloquenz, mit der er sie früher gepriesen hatte.
Im allgemeinen, muß man bekennen, liegt in der deutschen Natur wenig politischer Sinn. Wir sind ein Volk der Familie, des Privatlebens, des Gemütes, und dieser Zug geht durch die ganze Geschichte Deutschlands. Der Feudalstaat des Mittelalters, dieses germanische Produkt, ruht auf der Treue, der Liebe, dem Gemüte, der Hingabe des einzelnen an den einzelnen. Der Vasall folgt dem Lehnsherren, der selbst wieder Vasall eines Höheren ist: er ergibt sich dem Dienst einer Persönlichkeit, nicht einem allgemeinen Gedanken. Privatbeziehungen, privatrechtliche Verhältnisse bilden zusammengerechnet den mittelalterlichen Staat. Alles zerfällt in eine bunte Mannigfaltigkeit besonderer Existenzen. Jeder Stand hat seine Rechte und Vorrechte, eine Freiheit steht neben der andern. Eine allgemeine ordnende Vernunft, ein auf dem gleichen humanen Anspruch aller einzelnen ruhendes Gesetz gibt es nicht. Der Baron, der oben auf dem Felsen haust, wird anders gerichtet als der Leibeigene, der unten an die Scholle gebannt ist, beide anders als der Bürger der Reichsstadt; in der Stadt hat jede Zunft ihre Gerechtigkeit, ihr Herkommen, ihren Schutzpatron; dieses Kloster hat Immunitäten, die jenem fehlen; der einzelne steuert nicht dem Staate, sondern demjenigen, dem er pflichtig ist; er gehört in Gesichtskreis und Sitte nicht dem Vaterlande, denn ein solches gibt es nicht, sondern dem Gau, in dem er geboren ist, und auch nicht dem Gau, sondern der Stadt, deren Bürger er ist, und auch nicht dieser, sondern der Zunft, zu der er gehört.
Der Feudalstaat ist eigentlich gar kein Staat, weil ihm die Form der Allgemeinheit fehlt und in ihm alles privatrechtlich und lokal ist. Der Sinn für das Lokale und im engsten Sinne Heimische ist in der deutschen Natur vorherrschend. Deutschland hat keine großen Städte erzeugt, wo der Weltverkehr sich drängt, wo das Leben sich zu großen Verhältnissen aufhäuft und in raschem Umschwung fortbraust: höchstens kommen solche Städte und auch die größeren Staaten da vor, wo im Osten das deutsche Blut schon durch Vermischung alteriert ist. In den kleinen Städten unter engen lokalen Verhältnissen hat sich die eigentümliche deutsche bürgerliche Sittlichkeit ausgebildet. Arbeitsam und fleißig mehrt der deutsche Bürger in ruhigem Tagewerk seine Habe, lebt dem kleinen Amte und Gewerbe, erfüllt geduldig seine Pflichten und Gewohnheit und Geduld, diese echt deutschen Genien, führen ihn täglich auf demselben Pfade hin und zurück. Einem hereinbrechenden Landesunglück, dem Kriege, der Feuersbrunst setzt er den passiven Widerstand seines Fleißes, seiner heimischen Anhänglichkeit entgegen: die böse Zeit geht vorüber und mit den alten Gesinnungen richtet sich das alte Leben wieder ein. Individuelle Existenzen und beschränkte Sphären gliedern die Stadt in ihrem Innern, das Staatsganze liegt außer der Reflexion des echten deutschen Bürgers; Verordnungen, höhere Befehle nimmt er mit angeborner Scheu vor der Obrigkeit entgegen; in ferner Glorie schwebt der Fürst vor seiner Phantasie und tief rührt es ihn, wenn dieser durch persönliches Erscheinen, durch Herablassung oder auch nur durch erzählte Anekdoten humanen Benehmens seinem treuen Gemüte näher gerückt wird. Vor einem Kaiser oder König gestanden, ein Wort aus ihrem Munde vernommen zu haben ist eine Ehre, die durch Tradition von Großmutter auf Enkel vererbt wird; wer bei der Durchreise des Prinzen durch die halbgeöffnete Thür hat lauschen können, weiß nachher seinen horchenden Freunden von der wunderbaren Einfachheit oder dem wunderbaren Ueberfluß der fürstlichen Tafel, Garderobe u. s. w. zu erzählen. Dem deutschen Bürger in seiner stillen Privatexistenz verwandelt sich alles Politische in ein Persönliches, eine Anekdote. In dem Wochenblatt nimmt er besonders diejenigen Stellen mit Interesse auf, die von merkwürdigen Naturspielen, sonderbaren Prozessen und Testamenten und dergleichen handeln. Höchstens abends mit dem Nachbar beim Kruge Bier liebt er es, zu kannegießern und aus gemütlichem Hafen sich erzählen zu lassen, wie weit hinten in der Türkei die Völker aufeinander schlagen. Er phantasiert lieber über die Politik des Auslands, als er in den einheimischen Angelegenheiten einen Schritt thut und, wenn bei andern Nationen morgens im Kaffeehause aus den Zeitungsblättern die Stimmung sich bildet, aus der die Thaten des Tages hervorgehen, so politisiert der deutsche Bürger abends nach vollbrachtem Tagewerk zur Erholung auf Museen, Ressourcen, Kasinos und legt sich dann zu Bett, um alle Träume und Großthaten zu verschlafen. Er baut sich in seiner Häuslichkeit, in seinem Familienleben seine eigene kleine Welt, die mit Wall und Graben umzogen ist und von der aus er das übrige große Welt- und Völkerleben als ein Fremdes und Feindliches sich gegenüberliegen sieht; er ist in seinem Hause nach Goethes Ausdruck wie im Schiff auf dem Meere. Der Romane lebt in der Gesellschaft, im politischen Gewühl, auf der Straße und flieht seine vier Wände als drückend und beengend und den Aufenthalt in ihnen als that- und gedankenlos; der Deutsche atmet auf, wenn er seine Schwelle wieder betritt, die sein Heiligtum von der harten Außenwelt scheidet. Dort trägt alles das Gepräge gemütlicher Innigkeit, behaglicher Ruhe, des Langsamen, Gewohnten und Ererbten von dem Schlafrock und der Pfeife bis zu den blankgescheuerten Thürgriffen, dem Familiensalzfaß, dem einförmigen Tiktak der Wanduhr, die noch vom Großvater stammt, der alten Bibel, auf deren erstem Blatt der Geburtstag von Vater, Mutter, sämtlichen Kindern und beiden Großeltern steht, der Wochenordnung, wonach der Montag diese, der Sonnabend jene bestimmte Speise bringt u. s. w. In der deutschen Ehe, der deutschen bürgerlichen Häuslichkeit und lokalen Genügsamkeit waltet Treue und Gemüt, in der Thätigkeit der mehr politischen Völker Verstand und Wille. Mit dem Familienprinzip hängt die aristokratische Ueber- und Unterordnung, die gleichfalls dem deutschen Stamme eigen ist, eng zusammen. Das Adelsgefühl ruht auf dem Gefühl der unverletzten Heiligkeit der Familie, die sich bis auf Voreltern und Enkel erstreckt und alle Glieder derselben, ja das Stammschloß, die Bilder, Sammlungen und Diener zu einem gemütlichen Ganzen vereinigt. Tritt der Deutsche aus der Familie heraus, so empfängt ihn nicht die Welt oder der Staat, sondern der Stand; die Erweiterung des Familiengeistes ist der Standesgeist. Daher in Deutschland Rangstufen, Kastenabsonderungen, Absonderung der höheren und der niederen Klassen, die in romanischen Ländern, wo alle durch eine gewisse Gleichheit des Benehmens, der Empfindung und der Sprache verbunden sind, nicht vorkommt. Abneigung und Scheu trennt in Deutschland den Zivilisten vom Militär, den Edelmann vom Bürger, diesen vom Bauer, den Kaufmann vom Gelehrten; auch hier also das vorherrschende Prinzip die Privatexistenz.
Alle diese Züge sind seit Goethes Zeit durch die fortgehende Geschichte gemildert worden; in den größeren Städten hat sich das Leben dem der übrigen europäischen Länder ähnlich gestaltet und die Eisenbahnen werden dazu beitragen, die nationellen Schranken und die partikulären Lebenskreise zu erweitern. Goethe selbst aber und sein Jahrhundert hatten keinen Beruf, wederpolitisch zu wirken noch eine politische Wirksamkeit, die nicht vorhanden war, poetisch darzustellen. Die französische Revolution war etwas Fremdes, von dem deutschen Gefühl nicht Geteiltes; sie fand in der Masse kein Echo und konnte also auch nicht Stoff eines Epos sein. Aber noch war jenes stille und sittliche deutsche Familien- und Bürgerleben vorhanden, dort war ein echt nationaler Kern gegeben; noch bestand jene zwar beschränkte, aber in sich volle und tiefe Empfindung, die allmählich von den Wogen der anbrechenden politischen Aera verschlungen und in dem Mechanismus und der Berechnung der Fabrikindustrie erstickt werden sollte. Hermann und Dorothea ist das Epos von der deutschen Bürgertugend, das Epos von der Familie und dem Privatbesitz, dieser Substanz des deutschen Geistes. Es ist darum ein episches Idyll, wie es Jean Paul benannte, ein bürgerliches Epos nach Humboldts Bezeichnung, kein heroisches und historisches. Idyllisch ist es, weil das einfach Menschliche, die überall wiederkehrende, auf dem Menschengefühl selbst ruhende Sitte, die stillen Verhältnisse, mit denen die ewig gleiche Natur selbst den Menschen umgibt, heiter und warm uns aus dem Gedichte entgegenwehen. In einer Zeit der Reflexion und der Zerfallenheit machen diese Darstellungen und Zustände nach Hegels Bemerkung dasjenige in uns lebendig, was zum unvergänglichen Reiz in den ursprünglich menschlichen Verhältnissen der Odyssee und der patriarchalischen Gemälde des Alten Testaments gehört, das Freien am Brunnen, das Leben mit den Herden, Zorn und Segen des Vaters, das Keimen der Familie aus der Familie u. s. w. Erhöht wird der Reiz dieser Schilderung noch durch den Umstand, daß wir das idyllische Privatleben gleichsam noch am Rande des Abgrunds in den letzten Momenten vor seinem Untergange fassen: schon kündigt sich das politische Zeitalter dumpfgrollend im Hintergrunde an; schon steht der festgestalteten Lebensordnung unsrer Familie die wilde Auflösung des Zuges der Vertriebenen gegenüber und, wie ferne Gebirge vom Horizont in ein friedliches Thal hinübersehen, so hallen die gewaltigen Ideen und wilden Männer und furchtbaren Ereignisse der Revolution aus gedämpfter Ferne bis in unsre idyllische Welt, die durch den Kontrast nur noch inniger an unser Herz tritt. Hierin könnte man Hermann und Dorothea mit Virgils Eklogen vergleichen, wo gleichfalls ländliche Gemälde auf den schrecklichen Hintergrund der römischen Revolutionsgeschichte aufgetragen werden, nur daß bei Virgil die innere Wahrheit der Darstellung fehlt, die an Hermann und Dorothea entzückt. Das Bewußtsein eines glücklichen Privatlebens dem Schwanken politischer Umwälzungen gegenüber wird in dem Gedichte selbst an mehreren Stellen deutlich ausgesprochen. So sagt die Mutter zu Hermann:
Denn es ist deine Bestimmung, so wacker und brav du auch sonst bist,
Wohl zu verwahren das Haus und stille das Feld zu besorgen.
Und der Pfarrer verteidigt in einer herrlichen Schilderung das verharrende, immer wiederkehrende Leben des ruhigen Bürgers:
Aber jener ist auch mir wert, der ruhige Bürger, u. s. w.
Und den gleichen Gedanken als den Sinn und das Resultat des ganzen Gedichtes spricht Hermann am Schlusse aus:
Desto fester sei bei der allgemeinen Erschüttrung,
Dorothea, der Bund! u. s. w.
Hermann und Dorothea ist so wenig ein politisches Gedicht, daß es vielmehr in seiner innersten Substanz antipolitisch ist, daß es uns als ein unverdorbenes Vermächtnis aus jener stillen Zeit überliefert ist, die den Stürmen der politischen Epoche vorausging. Es ist aus der inneren Tiefe der deutschen Nationalität hervorgehoben, die überall nur die zweite Rolle spielen wird, wo die Aufgabe aus der Stille der Natur in den Kampf des Willens, aus der Familie in den Staat sich versetzt.
Karl Grün wendet Goethes Abkehr von der Politik positiv und will darthun, die Erringung abstrakter politischer Rechte sei Goethe zu wenig gewesen und er habe weiterblickend jenes ganze Streben als zu eng und leer verschmäht. Allein Goethe ruht nicht auf der überwundenen politischen Bewegung, nicht auf deren Konsequenzen, sondern auf der Zeit vor der Revolution, wo jene Bewegung noch gar nicht hervorgebrochen war. Der Kommunismus setzt die Tendenzen des Liberalismus als durchgeführt voraus; das System politischer Gleichheit, die gleiche Geltung abstrakter Persönlichkeit ist ihm nur nicht genug: er will jedem einzelnen auch gleiches Wohlsein, gleiche Möglichkeit humaner Bildung, wahrhaften Anteil an den materiellen und geistigen Gütern des Lebens verbürgen und den Individualismus in einem sozialen Organismus zugleich binden und befreien. Nun strebt zwar auch die deutsche Dichtung nach dem Besitz humaner Schönheit, aber ohne dem Leben die vorgefundene, durch Naturkräfte ihm gegebene Gestalt nehmen zu wollen. Im Gegenteil, die Idee der Natur ist es, die jenes ganze Geschlecht, an dessen Spitze Goethe steht, bei seinem Abfall wie bei seinem Schaffen leitet. Der Frieden der Natur, ihre stille Entwicklung, ihr Gewährenlassen wird das Vorbild auch im Menschenleben: Was die Pflanze willenlos ist, sei du es wollend, das ist's. Die Liebe wird wieder in ihr Recht eingesetzt, ebenso die dunkle mächtige Naturkraft des Genies, die Familie, die Tradition, die Sage, die Poesie. Der Mensch fühlt sich mitbegriffen in dem großen schaffenden All, ordnet sich ihm unter und wird in offener Hingabe, im Drang der Umstände und Bedingungen zum Gleichgewicht schöner Bildung getragen. Aller starren Satzungen, durch welche die Menschenwillkür der Natur entgegentritt, allem leblosen Dünkel des Verstandes, den abstrakt formalistischen Diktaten der Kirche entzieht sich das Subjekt durch Wiederherstellung lauteren Menschengefühls in sich. Alle Unruhe der kämpfenden Geschichte, jeder Anspruch, empörerisch Leben und Gesellschaft umzugestalten, wird von Goethe als dem Werden und Wachsen der Natur entgegengesetzt verabscheut. Die ausbrechenden politischen Stürme sind daher störend, sie drängen nach Goethes eigenem Ausdruck ruhige Bildung zurück. Der Sozialismus betrachtet nun zwar sein Objekt, den Menschen, auch nicht als abstraktes Rechtsindividuum, sondern als lebendiges Ganzes, dem in allen Bedürfnissen und in seiner vollen Bestimmung Rechnung getragen werden soll; er will ihn kein Opfer werden lassen weder der negativen Moralität noch den Scheinbildern religiöser Transscendenz; hier in dem Rhodos dieser reichen Gegenwart soll er genießen und sich bilden und der Fülle der Welt sich bemächtigen. Aber der Sozialismus will mit dem autonomischen Prinzip der Revolution eingreifen und gestalten und das Recht des Individuums auf allseitige Existenz in Vollzug setzen. Der Sozialismus verwirklicht ein philosophisches Ideal, er ist revolutionär und so dem naturphilosophischen Humanismus Goethes gerade entgegengesetzt. Goethe steht außer der Geschichte, der Kommunismus fußt auf ihr, indem er ihre bisherigen Resultate bekämpft. Goethe läßt bei seiner Humanisierung des Individuums den Staat außer Augen, der Kommunismus will gerade die leere Form des Staates erfüllen. Goethe ist unpolitisch, der Kommunismus ist ultrapolitisch. Und welche Verwandtschaft hätte die affirmierende Anerkennung des Privateigentums in Hermann und Dorothea, welches Gedicht Karl Grün auch weislich übergeht, mit den Tendenzen des Kommunismus? Gewiß finden wir gerade hier den echten Goethe reiner als in manchen Grillen der Wanderjahre, die der Greis geschrieben.
Auch Dahlmann bespricht in seiner Geschichte der französischen Revolution das Verhältnis des kritischen Geistes in Frankreich zu der deutschen Literaturperiode des achtzehnten Jahrhunderts. Nachdem er Montesquieu, Rousseau und Voltaire genannt, fährt er fort: Faßt man diese drei hervorragenden Köpfe zusammen und fügt noch als vierten Mann den genialen Diderot hinzu, der noch mehr ätzende Elemente im Geiste trug, so erkennt man recht deutlich, daß der vierzehnte Ludwig bei weitem höhere Güter als bloß industrielle antastete, damals als er seine fleißigen Reformierten ausstieß; denn er schnitt mit ihnen das Asyl für eine unabwendbare Entwicklung der menschlichen Geisteskräfte ab, welche sich in dieser bedächtig prüfenden Glaubensform unschädlich hätte ablagern können; der Protestantismus ist ja nun einmal begnügt, wo man ihn auch allenfalls bloß duldet, der Katholizismus dagegen will die Alleinherrschaft führen und Ludwigs Dragoner verhalfen ihm dazu; aber herrscht denn am Ende eine Kirche wirklich, von welcher sich die ersten Köpfe der Nation mit Trotz und Geringschätzung abwenden? Ganz anders stand auch diese Sache im deutschen Reiche; denn in demselben achtzehnten Jahrhundert trug der deutsche Reichsboden vier großbegabte Männer, welche ihr gediegenes Wesen aufrichtig hinstellen durften, wie es war, unbekümmert darum, wie es zu den Glaubenssatzungen stehe, welchen der westfälische Frieden Schutz verleiht: Winckelmann, Lessing, Goethe und Schiller; Pflanzen dieser edeln Gattung konnten nur auf einem Boden gedeihen und ihre unsterblichen Früchte zeitigen, auf welchem der Protestantismus ein Recht des Daseins hat und sich zugleich mit dem Katholizismus friedlich eingewöhnen und ausgleichen soll, da denn der unwiderstehliche Wert solcher höheren Naturen den seichten Verketzerungstrieb nach beiden Seiten zu Boden wirft; was diese deutschen Männer nicht ohne heißen Kampf zwar, aber ohne Verbitterung ihres lichten Innern überwanden, die Hindernisse, welche dumpfer Glaubenseifer einer edeln Geistesbildung entgegensetzt, an diesen Klippen scheiterten jene starken Geister Frankreichs und es schlug hier die verwandte Richtung in den Witz des Grimmes und eine giftige Leichtfertigkeit um, weil sie keinen erlaubten Boden fand. — Hier haben wir die beliebte deutsche Weise, religiöse Kategorieen überall zum Mittelpunkt von allem zu machen und sie auf Gebiete zu übertragen, wo in ihnen die Bewegung gar nicht liegt. Dahlmann teilt also die vulgäre Meinung protestantischer Theologen, Frankreich sei deshalb in die Revolution gefallen, weil der Protestantismus dort nicht hatte durchgesetzt werden können, womit die ebenso verbreitete katholische Ansicht, die Revolution sei nur die natürliche Konsequenz des in der Reformation enthaltenen Aufruhrprinzipes, in direktem Widerspruch steht. Nun ist es aber reine Täuschung, das Luthertum oder den Calvinismus des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts für eine liberale Lehre zu halten, die einen unschädlichen Abzugskanal für den Vorwitz und das Neuerungsgelüst der Menschen gebildet hätte. Der Protestantismus setzte Autorität gegen Autorität, den geschriebenen Buchstaben gegen die Tradition; die lutherische Dogmatik ist in keinem Punkte freisinniger, in mehr als einem naturwidriger als die katholische; nicht die Autonomie der Vernunft, deren Verstocktheit und Blindheit die Reformatoren nicht genug einschärfen können, sondern der Glaube und die Schrift ist die Losung des Kampfes. Den Scheiterhaufen der Inquisition steht die Verbrennung Servets gegenüber, die von Melanchthon öffentlich gebilligt wurde. Mußte Galilei im Kerker widerrufen, so mußte der Philosoph Wolff auf Anklagen der Pietisten Halle und Preußen binnen vierundzwanzig Stunden verlassen bei Strafe des Stranges. Ludwig der Vierzehnte trieb die Reformierten durch Dragoner zum Lande hinaus, aber das erzprotestantische England verfolgte die Katholiken auf nicht minder empörende Weise und emanzipierte sie erst vierzig Jahre nach der französischen Revolution und auch da nur teilweise. Erst als durch das mannigfaltigste Zusammenwirken der verschiedensten Ursachen, besonders durch den Einfluß der Naturwissenschaften die Glaubensfinsternis gebrochen ward, begann der Protestantismus die Geistesfreiheit, die außer ihm gewonnen worden, für sein Prinzip zu erklären und auch das in ganz allgemeiner theoretischer Weise, da er gleichzeitig in praxi der Aufklärung jeden Schritt streitig machte. Winckelmann freilich fand in der hellenischen Kunst die selige Anschauung einer mit dem Geiste versöhnten schönen Sinnlichkeit; aber ist dies protestantisch, da doch der spezifische Charakter des Protestantismus gerade in der Sittenstrenge liegt, die er gegen die Sinnenfreundlichkeit des Katholizismus geltend machte? Mit keiner Epoche hat das Aufblühen der Poesie in Deutschland eine tiefere Aehnlichkeit als mit dem Humanismus Italiens im fünfzehnten Jahrhundert, der ganz so auf allmählicher Ueberwindung der Asketik des Mittelalters ruht, wie der deutsche auf Ueberwindung der lutherischen Theologie. Gerade gegen jenen Schönheitskultus in Italien aber war die Reformation gerichtet. Freilich ist die genannte Blütezeit Italiens doch in mancher Beziehung reicher als die drei Jahrhunderte später erfolgende deutsche, reicher um das mannigfache historische Leben, das gleichzeitig in Italien nicht fehlt. Stellt sich dem wunderbaren Genius Rafaels der ihm so nahe verwandte Goethes gegenüber, so suchen wir in Deutschland vergeblich nach einem Macchiavelli. Daß die politische und die humane Bildung getrennt sein können, sehen wir nicht nur in Deutschland, sondern auch in England. Nirgends ist das reine Menschengefühl weniger entwickelt als in England, diesem angeblich hoch-zivilisierten Musterlande unsrer Doktrinärs, nirgends die Liberalität der Lebensansicht durch eine dickere Mauer theologischer Satzung und konventioneller Moral behindert: Heuchelei und Prüderie, Nutzen und Selbstsucht, Pharisäismus, Barbarei in der Kunst, öffentliche Herrschaft der Formel bilden eine trübe Atmosphäre der Unfreiheit, die auf dem englischen Leben und Denken lastet. Jene ideale Bildung des inneren Menschen, die Deutschland im achtzehnten Jahrhundert erreichte, ist bis auf den heutigen Tag in dem puritanischen England nicht erreicht und es kann zu ihr nicht anders gelangen, als durch politische Unglückstage. Auch in Frankreich war unter all den mannigfachen Bestrebungen nach dem Licht die Kunst und die Läuterung der Kunstempfindung nicht mitbegriffen. Dennoch bildet Frankreich für die ästhetische Verjüngung Deutschlands im achtzehnten Jahrhundert die Voraussetzung. Lessing bekämpfte Voltaires Poetik, aber den Mut zu allen seinen kritischen Thaten gab ihm nur die breite Basis der Aufklärung, die Voltaire über den ganzen Weltteil gelegt. Auch die geniale Auflehnung in Goethe und seinen Genossen ist ohne den unmittelbar vorausgegangenen Kampf der kritischen Geister Frankreichs, der in einer positivistisch erstarrten Welt Luft und Licht schaffte, nicht denkbar. Für einen Geschichtschreiber wie Dahlmann ist es nun gewiß ein unglücklicher Gedanke, nach Wegen zu spähen, wie das von ihm geschilderte Ereignis hätte vermieden werden können, und friedliche Archäologen, Literaten und Dichter wie Winckelmann, Lessing, Goethe und Schiller höher zu schätzen, als historische Männer wie Voltaire und Rousseau. Nach dem Maß der Geschicke des Weltteils und der Geschichte der europäischen Menschheit im großen gemessen, ist der einzige Voltaire unendlich wichtiger als alle vier genannten Deutschen zusammen, und es müßte eine wahre Festlust für einen Historiker sein, seinen Einfluß zu schildern.
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