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2019-10-18

Victor Hehn : Über Goethes Hermann und Dorothea: Charaktere. (7)



Charaktere.

Nachdem wir in dem Bisherigen die substanzielle Welt, die sich hier vor uns öffnet, besprochen haben, gehe ich über zur Beleuchtung der individuellen Charakterbilder, die der Dichter auf diesem Boden, in dieser Atmosphäre uns vorführt und in denen der allgemeine darin herrschende Geist sich individualisiert, sich zusammenfaßt.

Der Hausvater, ein behaglicher, wohl etwas beleibter Wirt, der im Wohlstande lebt, besitzt nicht bloß sein Gasthaus zum goldenen Löwen, sondern er ist wie die Bürger kleiner Städte zugleich Landwirt und es gehört ihm außer dem großen Garten auch ein schöner Weinberg und ein weites Kornfeld. Im Hause ist unser Wirt etwas herrisch und brummig, gerade wie Hausväter zu sein pflegen. Mütterchen, seit langen Jahren mit ihm verbunden, weiß ihn aber zu behandeln und erträgt sein auffahrendes Wesen mit Gleichmut. Unübertrefflich ist die Physiognomie des alten Ehebundes gezeichnet: Gewohnheit verbindet beide, ihre Gefühle sind mit ihnen alt geworden, ja sie streiten miteinander und dennoch würden sie die Hälfte ihres Selbst verlieren, wenn eins dem andern entrissen würde. Obgleich sie sich gegen den Sohn auf verschiedene Weise benehmen, sind sie doch durch gemeinschaftlichen Besitz dieses einzigen Kindes eins und oft bestimmen sie ihm mit elterlichem Geschwätz bald dieses bald jenes Mädchen zur Braut. Der alte Herr ist auch Mitglied des Rates gewesen, hat mit tüchtigem Geschäftssinn manches zur Verbesserung der Verwaltung, zur Ausbesserung der Gebäude und Reinlichhaltung der Straßen gewirkt, sich aber auch mit seinen Kollegen im Rat tüchtig gezankt und, wenn er dann nach Hause kam, mußten die Hausgenossen die üble Laune und den mitgebrachten Aerger entgelten. Bei Tische trinkt er nach Sitte jener weintragenden Gegend einige Schoppen, erhitzt sich dabei, wird gesprächiger, aber auch leicht zum Zorne gereizt und spricht dann manch heftiges Wort, das ihn am Abend, wenn der kleine Rausch verflogen, wieder gereut. Nachher ist er dann auch wieder sehr leicht zu behandeln und für dasjenige, wogegen er heftig geeifert, zu gewinnen. Verhaßt ist ihm wie vielen älteren Herren das Weinen, Jammern, das viele Reden der Weiber, das ihn aus seiner Ruhe stört; droht das Geschnatter oder das Lamentieren anzugehen, dann steht er ärgerlich auf und geht in sein Schlafzimmer, um sich zu Bette zu legen. Seine Einwilligung zu seines Sohnes Heirat gibt er halb scherzend nur deswegen, weil er im entgegengesetzten Fall nur Trotz und Thränen voraussieht. Eine gewisse Gravität und bürgerlich-stattliche Haltung ist ihm angeboren; bedächtig schreitet er Sonntags aus der Kirche, so daß die Schuljugend dadurch zu Neckereien gereizt wird. Seinen Sohn Hermann hat er immer zu tadeln, wie so oft Väter thun, wenn sie grämlich geworden; er möchte ihn anders haben und versteht dessen Charakter nicht; er möchte ihn gern nach Vätereitelkeit zu höherem Stande streben sehen und wünscht ihm feinere Manieren, gewandteres Benehmen; überhaupt hält er, wie Hermann selbst Dorotheen mitteilt, auf Aeußeres und auf zierliches Benehmen und er rühmt von sich selbst, daß er als guter Gastwirt jeden nach Stand und Charakter zu behandeln wisse. Er will daher auch kein bäurisches Mädchen zu sich als Schwiegertochter ins Haus; sie soll das Klavier spielen und die schönsten und besten Leute sollen sich Sonntags bei ihm versammeln. Bei all diesen Eigenheiten ist der Vater dennoch eine kernhafte und gutmütige Natur. Das Elend der Vertriebenen rührt ihn und er gibt gern das Seinige hin ihr Unglück zu mildern. So erteilt ihm auch der Dichter das Epitheton: der menschliche Hauswirt. Und die neue Schwiegertochter, so sehr ihr Stand und ihre Armut seinen Lieblingswünschen entgegen ist, umarmt er dennoch herzlich, die Thränen verbergend.

Die Mutter ist ein echtes Weib, eine echt bürgerliche Hausfrau. Das Haus, der Keller, der Garten sind das Reich, in dem sie geschäftig waltet. Voll Besorgnis ihren Sohn suchend, geht sie einmal durch den Garten und nimmt gleich im Vorbeigehen einige Raupen vom Kohl und stellt die Stützen der Obstbäume zurecht. Als Weib ist sie leichter gerührt als der Vater, beweglicher als dieser in seiner bürgerlichen Gravität. Die Thränen kommen ihr, wie der Dichter sagt, leichtlich ins Auge. Obgleich sie im wesentlichen sich dem Grundton anschließt, in dem der Vater denkt und spricht, so hat sie doch oft als Weib und Mutter die raschen Worte und heftigen Meinungen zu mildern, zu denen jener im Eifer sich hinreißen läßt. Sie steht als wahrhafte Mutter mit ihrem Sohn in regem Gemütsbündnis; dieser verläßt nie das Haus, er sagt es ihr denn; sie neigt sich zu ihm, wenn er leidet, weint mit ihm, errät seine Gedanken, empfängt seine Geständnisse und schilt den Vater, wenn dieser über ihren Hermann ungeduldig wird. Sie und der Vater erinnern lebhaft an Goethes Eltern, denn auch im Goetheschen Hause war die geistvolle nachsichtige Mutter oft die heimliche Verbündete des genialen Sohnes, wenn dessen Dichternatur mit der pedantischen Gravität des Vaters in Widerspruch trat. Auch Wilhelm Meister stand wie Hermann mit seiner Liebe, so mit seinem Theaterdurst und seinen Kunstidealen dem alten Kaufherren Meister innerlich fern, der Mutter aber durch Vertrauen und Einverständnis nahe.

Hermann der Sohn zeigt uns die deutsche Natur, die deutsche nationale Eigenheit in einem meisterhaften Individualbilde verkörpert. Hermann ist treu und fleißig, gediegen und tüchtig. Ihm ist nicht gegeben, mit raschem Geistesblick die Dinge zu ergreifen, aus der Tiefe der Seele die Gedanken mühelos an die Oberfläche zu heben, mit energischem Willen augenblicklich die Menschen und Einrichtungen nach seiner Absicht und Einsicht zu zwingen. Geistesgegenwart geht ihm ab, die Waffe der List ist ihm versagt, die feinere und geistreichere, aber oft auch nichtigere und leicht verbrausende Lust des Lebens ist ihm unbekannt. Hermann sprudelt nicht von Witz- und Geistesfunken, die, nachdem sie einen Moment geleuchtet, erlöschend in Asche versinken; seine Auffassung ist langsam, aber, wenn sie erfolgt ist, immer der Wahrheit eines reinen und innigen Gemütes entsprechend. Hermann denkt immer mehr, als er spricht; auf ihn kann man sich verlassen, sowohl auf sein Gemüt, als auf sein Wort, als auf die Arbeit, die er thut. In Gesellschaft ist er blöde, sein Auftreten, seine Kleider sind etwas bäurisch; herzlosen Weltmenschen erscheint er lächerlich und der Gewandtheit gegenüber ist er waffenlos. In der Schule ging es mit ihm langsam; der Vater klagt, daß Hermann immer der Unterste saß; er konnte eben nicht flüchtig aufnehmen, um das Aufgenommene von jedem neuen Eindruck wieder wegspülen zu lassen; aber war etwas von ihm angeeignet, so war es gewiß seiner Natur gemäß und sein Besitztum für immer. Gutmütig und langsam, ließ er sich von seinen Schulkameraden manches gefallen, nur wenn sein Innerstes, sein Gemüt mit ins Spiel kam, z. B. wenn über seinen Vater, über dessen bedächtigen Gang und großblumigen Schlafrock gespottet wurde, dann erwachte sein Zorn und blind und wütend hieb er um sich; denn gerade, wenn eine schwerfällige Natur wie die Hermanns einmal empört wird, so wirft sie unaufhaltsam wie ein Element alle Schranken vor sich nieder. Fließend und beredt sprechen war Hermann nicht gegeben: Deine Zunge stockte immer, sagt der Vater. Desto besser gelangen ihm bäuerliche Arbeiten auf dem Felde, im Weinberg, im Garten. Die Hengste im Stall besorgt er selbst; er hat sie auferzogen und vertraut sie keinem andern an, recht ein ländlicher Bursche, dessen Freunde ja immer die Pferde sind. Er wohnt in der Kammer im oberen Stock, ist frühmorgens mit der Sonne auf und wenige Stunden gesunden Schlafs genügen ihm. Ueberhaupt ist er gesund, hat starke Nerven und einen hohen Wuchs. Er ist kein sentimental schwindsüchtiger Jeanpaulischer Romanheld, der Sehnsucht nach den Sternen hat. Von künstlichen Reizen und exotischen Phantasien weiß er nichts: er ist der ruhige Bürgerssohn, der nicht für das Weite und Umfassende, nicht für Staat, Krieg, Wissenschaft, Ehre bestimmt ist, sondern für die immer wiederkehrenden Geschäfte des Ackerbaues und ein enges geordnetes Erwerbs- und Familienleben. Zwar will er einmal aus den gewohnten Lebensverhältnissen scheiden und mit in den Krieg ziehen, aber nicht weil ihm jene zu eng sind oder dieser den inneren Thatendrang zu stillen verspricht, sondern gerade weil er in Gestaltung seines häuslichen Lebens durch Widerspruch gestört worden und weil die Liebe, die Seelenbezwingerin, auch ihn für den Augenblick aus dem Gleichgewicht gebracht hat. In der Uniform zu prunken und als Soldat vor den Mädchen zu stolzieren, diese Eitelkeit fällt ihm nicht ein. Am Schlusse des Gedichts spricht er eine standhafte patriotische Gesinnung aus, aber nur weil der gewonnene Besitz eines geliebten Weibes ihn mit der Empfindung des Eigentums überhaupt erfüllt hat; nun ist das Meine meiner als jemals, ruft er aus; es ist der Mut des Bürgerwehrmannes, des Nationalgardisten, der für den Bestand des Besitzes auch sterben kann und, wenn die Gefahr vorüber ist, rasch zu seiner Sphäre des Privaterwerbes zurückkehrt. Bei aller Beschränktheit des Blickes und der Wünsche ist Hermann rein von Gemüt, unbefleckten Herzens, voll Zartgefühl gegen die Eltern. Er ist ein ungestörtes Naturprodukt und ein sicherer Instinkt führt ihn auf das ihm Gemäße, das er bald erkennt und als das Seinige festhält. So hat er auch Dorotheen gefunden, nach wenigen Augenblicken erkannt und in einem Tage ist seine Ehe entschieden. Das Unbehülfliche und Beschränkte seines Wesens ist nur die äußere Gegenseite der inneren Unverrückbarkeit und Integrität seines Gemütes. Auch die Art, wie seine Liebe zu Dorotheen sich äußert, stimmt ganz zu seinem übrigen Wesen und dem Lebenskreise, dessen Produkt er ist. Kein idealer Wahn der Phantasie, der den Jüngling zu den Füßen des Mädchens stürzt, kein himmelhoch Jauchzen, zum Tode betrübt; sondern in stiller Kammer hat er sich einsam gefühlt; der Garten, das Feld, die Geschäfte sind ihm öde erschienen; der Vater wird alt, die Habe mehrt sich, für wen schaffen und wirken? Er entbehrte der Gattin, er sehnte sich nach einer Lebensgefährtin. In solcher Stimmung stieß er auf Dorotheen und findet rasch, daß sie für ihn bestimmt ist; herzliche Neigung fesselt ihn so entschieden, daß er das Haus verlassen will, wenn ihm das Mädchen versagt wird, und ist eine sichere Gewähr für bleibendes häusliches Glück. So haben wir in Hermanns Liebe nur den Zug der Sittlichkeit, die Gestalt gewinnen will, das stille Anknüpfen eines bürgerlichen Ehebundes, nicht diephantastische Ueberspannung einer poetischen Jugendleidenschaft, deren Flamme, je verzehrender sie um den ergriffenen Gegenstand lodert, desto eher in diesem Besitze erlischt.

Durch die Gruppe der genannten drei Personen ist die Familie vollendet. Zu ihr treten zwei Hausfreunde, der Pfarrer und der Apotheker des Städtchens. Beide sind an Bildung der schlichten Bürgersfamilie überlegen, der Pfarrer mehr von der idealistischen, der Apotheker von der realistischen Seite. Doch erkennt man an dem Pfarrer als einem durch wissenschaftliche Studien Gebildeten eine wirkliche Geistesüberlegenheit, während der Apotheker seinem Berufe angemessen, der zwischen dem Gelehrten und Techniker in der Mitte schwebt, eine halbe Stellung einnimmt und sich mehr die Miene höherer Weisheit gibt, als diese wirklich besitzt.

Der Pfarrer ist als Kandidat der Theologie nach Vollendung der Universitätsstudien, wie dies zu geschehen pflegt, Hofmeister eines jungen Barons gewesen und mit ihm nach Straßburg gegangen, wo der Zögling wahrscheinlich studieren sollte. Als Hofmeister hat er die Welt auch in höheren Kreisen etwas kennen gelernt; er versteht z. B. die weltmännische Kunst einen Wagen vom Bocke zu lenken; überhaupt ist er kein beschränkter und bäurischer Dorfpfarrer. Er vertritt in dem engen Bürgerleben der kleinen Stadt den weiteren Geistesblick, die tiefere Einsicht. Natürlich kennt er sein Fach, die heilige Geschichte, aber auch in der profanen ist er wohlbewandert. Seine Ansichten tragen das Gepräge der Versöhnlichkeit und milden Heiterkeit; durch humane Toleranz ist er die Zierde der Stadt; in allem, was er sagt, drückt sich edle Lebensweisheit ab; immer weist er auf das Höhere und Vernünftige, auf die innere Ordnung hin, die dem blinden Treiben der Welt zu Grunde liegt; er findet das Gute überall heraus und empfiehlt das Sittliche als das allein Zweckmäßige und Glückbringende. Kein Rigorismus, kein religiöser Fanatismus, kein Pfaffentum ist in ihm. Auch als mildthätig zeigt er sich: im Dorf unter den Vertriebenen hat er schnell sein Silbergeld verschenkt und händigt auch noch ein Goldstück dem Richter ein, um es durch diesen den Armen zukommen zu lassen. Der Dichter nennt ihn einen Jüngling, näher dem Manne.

Der Charakter des Apothekers ist äußerst fein von dem Dichter gezeichnet, so daß es schwer ist, dies leichte und doch so konsequente Gebilde zu fassen. Haben wir in dem Pfarrer einen ernstfreundlichen Mann, der in seinen sittlichen Grundsätzen und in reifer Bildung bei jedem Handeln den Schwerpunkt findet, so bewegt sich der Apotheker geschäftig und unruhig hin und her; er kann mit der Rede nicht an sich halten, sondern nimmt jedem das Wort vor dem Munde weg; in seiner Lebendigkeit schießt er an dem Ziel auch vorbei; er ist rührig und thut sich auf seine List und Schlauheit etwas zu gute; auch allgemeine Betrachtungen weiß er anzustellen und gibt sich als einen Vielerfahrenen, aber er ist zu unstäten Geistes, als daß seine Ansichten das Wahre und die Wurzel des menschlichen Lebens getroffen hätten, und häufig hat der Pfarrer den rechten Gesichtspunkt wiederherzustellen. Er ist ein gutmütiger, dienstfertiger Alltagsmensch, der glücklich ist, wenn man ihm eine Hantierung aufträgt, mit Bestrebungen und Besorgnissen, die er mit der großen Menge praktisch-realistischer Menschen teilt. Geduld ist seine Sache nicht. Schon als Knabe, erzählt er uns selbst, war ihm einmal, als der Wagen, der sie zu den Linden führen sollte, zu lange ausblieb, die Geduld völlig ausgegangen; er lief wie ein Wiesel dahin und dorthin, Treppen hinauf und hinab und von dem Fenster zur Thür. Die Hände prickelten ihm, er kratzte die Tische, stampfte mit den Füßen und das Weinen war ihm nahe. Da führte ihn der Vater ans Fenster und wies auf die gegenüberliegende Werkstatt des Tischlers, der den Sarg macht, in den wir uns alle legen müssen, früh genug, ob wir geduldig oder ungeduldig seien. Seitdem, meint er, wurde ihm die Ungeduld mit der Wurzel ausgerissen, aber er täuscht sich mit dieser Behauptung. Während im Dorfe der Pfarrer mit dem Richter im Gespräch begriffen ist und dies Gespräch eine allgemeinere Wendung nimmt, treibt den behenden Mann die Unruhe fort, er läuft beiseite und späht durch Hecken und Gärten nach der Unbekannten. Nachdem endlich beide über das Mädchen hinreichende Erkundigung eingezogen und indem sie nun wieder zu Hermann kommen, spricht er schon aus der Ferne dem Harrenden zu, er kann nicht an sich halten. Wie Hermann an einer früheren Stelle des Gedichts seinen Entschluß kundthut, Dorotheen zur Gattin zu wählen, stimmt der Pfarrer sogleich freudig bei, der Apotheker aber rät erst das Mädchen zu prüfen, ob sie des Bräutigams auch wert sei. Dieselbe vulgäre Klugheit zeigt er in dem Augenblick, wo der Pfarrer zum ersten Mal Dorotheen erblickt und, von ihrer Gestalt ergriffen, der Schönheit ihrer Seele sogleich gewiß ist: dem Schein ist nicht zu trauen, warnt er weise; man soll über niemand urteilen, bevor man mit ihm den Scheffel Salz verzehrt hat. Gleich anfangs, wo er vom Anblick des Zuges der Vertriebenen zurückgekehrt ist, nennt er jeden glücklich, der nicht Weib und Kind daheim hat in so gefährlichen Zeiten, denn einem solchen kann das Schicksal nichts Ernstes anhaben und sein Bündel ist leicht geschnürt. Ich selbst habe, sagt er, die Kostbarkeiten beiseite gepackt, um mich ohne Zeitverlust aufmachen zu können, obgleich ich die gesammelten Kräuter und Wurzeln ungern verlasse. Unser Apotheker ist also unverheiratet und in der That macht er den Eindruck eines Hagestolzen, der nirgends recht festen Fuß gefaßt hat. Wo am Schlusse des Gedichts die Verwicklung glücklich gelöst ist und die übrigen in Empfindung verloren sind, neigt sich der Apotheker sogleich mit Segenswünschen. Eine komische Rolle spielt er, wo er sich in den Wagen setzen soll, den der Pfarrer leitet: er zaudert und sitzt während der ganzen Fahrt wie einer, der immer zum weislichen Sprunge bereit ist. Etwas spaßhaft ist auch seine Wohlthätigkeit: da er kein Geld bei sich hat, so zieht er wenigstens den gestickten ledernen Tabaksbeutel, öffnet ihn zierlich und teilt mit dem fremden Richter die wenigen Pfeifen Knaster, den er zu loben nicht ermangelt. Der Dichter hat den ganzen Charakter mit einer leichten liebenswürdigen Ironie behandelt, die aber nirgends stark hervortritt, sondern sich gleichsam nur in einem leisen Lächeln des erzählenden Sängers kundgibt.

Wenn wir den Richter erwähnt, der wie der Vater die Kinder, wie ein altorientalischer Patriarch einen ziehenden Stamm, so die Haufen der Fliehenden mit Weisheit und würdigem Ernste lenkt und ermahnt, so ist von den Hauptgestalten nur noch eine übrig: Dorothea. Dorothea ist ein starkes Dorfmädchen in der Tracht, wie sie an zwei Stellen des Gedichts beschrieben wird, mit blauem, gefaltetem Rock, rotem Brustlatz, schwarzem Mieder und einer Halskrause. Sie wäscht und trägt, sie treibt die Ochsen des Wagens, sie holt Wasser und verdingt sich als Magd. Sie hat auch, wie der Schultheiß erzählt, einmal ihre und ihrer Gefährtinnen Unschuld gegen eindringendes Kriegsgesindel verteidigt, indem sie mit rascher Körperkraft den ersten zu Boden hieb und die andern in die Flucht jagte. Dies beweist ihre Entschlossenheit. Es fehlt ihr aber deshalb nicht an Zartheit der Empfindung; denn nicht nur ist sie hilfreich gegen die Wöchnerin und weiß die Kinder an sich zu fesseln; sie hat auch früher mit liebender Aufopferung einen alten Verwandten, bei dem sie wohnte, bis an seinen Tod gepflegt; obgleich ihr Auge, wie Hermann sagt, mehr Verstand als Liebe blickt, hat sie doch schnell eine zärtliche Neigung zu dem Jüngling gefaßt und die letzte Szene offenbart uns unter der Hülle der kräftigen Magdgestalt den zartesten Seelenadel und eine echt jungfräuliche Delikatesse. Eigentümlich weiblich ist es, wenn Dorothea sich abweisend und kurz abfertigend gegen Hermann benimmt, z. B. da, wo er ihr den Wasserkrug abnehmen will und sie dies nicht zugibt. Dorothea ist ein Mädchen von der Westgrenze Deutschlands, etwa aus dem Kurfürstentum Trier oder Mainz; in ihr verschmilzt das deutsche Gemüt mit dem feinen Takt und Verstand der französischen Nachbarn. Selten wird sie von sentimentaler Rührung angewandelt und auch, wo sie sich der Empfindung überläßt, verliert sie den freien Blick über den Moment und das, was er fordert, nicht. Scheinbar als Magd in das Haus ihres künftigen Gatten gelangt, übersieht sie beim ersten Scherzwort sogleich die Gefahr ihrer Lage und mit Kraft und Offenheit beschließt sie durch augenblickliche Entfernung ihr zu entgehen. Dies, sowie die Feinheit ihres immer angemessenen Benehmens, das Taktvolle ihrer Worte und die verständige Klarheit bei allem Handeln ist ein Anflug aus dem nahen Frankreich, wie dies Dorothea selbst einmal andeutet. Sie wird, wie vorauszusehen ist, des Vaters Lieblingstochter werden. Gegen Dorothea steht Hermann etwas zurück: er ist der Weiche, Innerliche, sehnsüchtig Bewegte, sie die Besonnene, Bestimmte, die ihre richtige Empfindung sogleich in die That, z. B. das Mitleid in Hilfsleistung umsetzt. So finden wir auch in diesem Paar das Charakterverhältnis wieder, das durch alle Liebespaare der Goetheschen Dichtung geht. Eine gewisse Weichheit zeichnet die Männer aus und sie sind alle der weiblichen Vollkommenheit gegenüber leidend und gefangen; so Weislingen, Werther, Clavigo, Egmont, Tasso, Wilhelm Meister, Eduard. Das weibliche Ideal gelang Goethe unübertrefflich: er hatte aber selbst zu viel seelenvolle Weichheit in seiner Natur, als daß er heroischer Männlichkeit vollkommen hätte nachempfinden können. Von dem Heroismus aber, der auch in der weiblichen Natur liegt und in entscheidenden Momenten großen Unglücks oder dringender Gefahr hervortritt, legt auch Dorothea Zeugnis ab, indem sie die eindringenden Soldaten so tapfer abwehrt. Diese Selbstverteidigung Dorotheens als einen falschen, widerwärtigen Zug zu tadeln ist leicht. Wenn auch Wilhelm von Humboldt sich den Tadlern anschließt, so scheint uns dieses Urteil noch ein Rest jener stolzen und kalten Idealität, die Humboldt eigentümlich war und die er in seinem Umgang mit Schiller reichlich pflegte. Die übrigen minderbegabten Rezensenten, die das Gedicht nach seinem Erscheinen in den damaligen kritischen Instituten beurteilten, fanden noch eine viel größere Menge von Zügen unzart und platt; daß sie Ochsen treibt, daß sie um eine Wöchnerin und ihr eben geborenes nacktes Kind beschäftigt ist u. s. w.; dies alles ist wider die konventionelle Delikatesse. Sie mußten folgerecht Dorotheens ganze Gestalt, ja alle Personen und Sitten des Gedichtes verwerfen. Auch daß Dorothea schon früher einen Bräutigam gehabt, könnte ihr in den Augen manches Lesers schaden, denn es ist also nicht die erste frische Liebe, die sie zu Hermann führt, jene Liebe, von der das bis dahin unbefangene nichtsahnende Herz plötzlich und unwiderstehlich überrascht wird. Allein die romantische subjektive Liebe als solche zu schildern war hier überhaupt des Dichters Zweck nicht, sondern eine werdende Ehe. Er wollte in einem ruhigen Gemälde die Art und Weise darlegen, wie in einer unverdorbenen bürgerlichen Welt auf unbefangen menschlichem Wege das Institut der Ehe sich verwirklicht und von Geschlecht zu Geschlecht sich erneut. Gerade Dorotheens früheres Unglück, der Verlust ihres Bräutigams gibt ihr bei aller Kraft der Seele, bei aller Heiterkeit des Schaffens einen rührenden Zug, der uns das liebliche Mädchen noch näher bringt. Wer daran Anstoß nimmt, daß Dorothea schon einmal geliebt, der wird in dem Gedicht auch sonst noch viel vermissen, aber auch die eigentümliche Welt, in der es sich bewegt, ganz verkennen. Alle Gefühlsschwelgerei, alle Exzentrizität der Leidenschaft hat der Dichter durchgängig abgewiesen; in der Gesinnung echter Bürger, sowie in dem Gange ihres Lebens waltet ja nicht sowohl phantastische Ueberspannung als verständiger Realismus. Hermann und Dorothea stehen beide nicht zu einander wie Romeo und Julie. Nachdem Goethe in früheren Dichtungen alles Entzücken und alle Verzweiflung der Liebe aus tiefster Erfahrung ausgesprochen, neigte sich seine Dichtung in späteren Jahren den stillen Beziehungen der Ehe zu und, wie in den Wahlverwandtschaften die Ehe selbst und die in ihr schlummernden negativen Mächte das Thema bilden, so ist die Muse unseres Gedichts nach des Dichters eigenen Worten diejenige, die gern die herzliche Liebe begünstigt und den Bund eines lieblichen Paares vollenden hilft.

Dies sind die Charaktere des Gedichts. Man weiß nicht, was man an ihnen mehr bewundern soll, die ideale Wahrheit und individuelle Lebendigkeit oder die poetisch-konkrete Entfaltung oder die feine Nüancierung oder die Kunst plastischer Gruppierung. Sie sind alle dem Leben selbst abgelauscht, sie ergreifen durch das wiederkehrend Menschliche, das ewig Allgemeine, das uns in ihnen entgegentritt. Sie sind ein Ausdruck der unwandelbaren Naturkräfte, die das Leben durchdringen und gestalten, der Gefühle, Bestrebungen und Stimmungen, die überall sind, wo nurein Herz menschlich schlägt, heute wie im grauen Altertum, bei Homer wie in unsrer täglichen Erfahrung. Als Schattenbilder im Reiche der Phantasie in idealen Höhen geboren, treten sie in vertraute Nähe zu uns heran und wir erkennen sie wieder als befreundete Gestalten, aus denen unsere eigene innerste Herzenserfahrung spricht. Bei allem individuellen Kolorit sind sie so typisch, daß wir sie in der äußersten Ferne wiederfinden: der Apotheker ist in unserm Kreise, was Pylades in der Iphigenie, Antonio im Tasso, Mephistopheles im Faust, was bei Homer der erfindungsreiche Odysseus; der Vater gleicht im Rate seiner Freunde und Familiengenossen dem götterberatenen, gewaltig herrschenden, leicht zürnenden Sohn des Kronos, den seine Umgebung durch List und Ueberredung dennoch beherrscht; er wünscht wie jeder Vater, wie Hektor beim Homer, daß ihm der Sohn nicht gleich sei, sondern ein Besserer; der Pfarrer, der in Hermanns Liebe die Stimme des Schicksals vernimmt und dieser zu folgen für die edelste Weisheit hält, er ist, was der Seher Kalchas bei Homer, welcher kannte, was ist, was war und was sein wird; beide Hausfreunde stehen sich gegenüber wie Erfahrung und Idee, wie Verstand und Vernunft als Typen geistiger Gegensätze; und Hermann selbst in seiner stillen arbeitsamen Naturexistenz, er ist der Jüngling überhaupt, der zum Manne heranreift, und wie Telemach wohnt er im oberen Stock und ist auf mit der rosenfingerigen Eos; ja gegen den Schluß mit wachsendem Kraftgefühl erhebt sich seine Gestalt zu der des Heros überhaupt, der mit Mannesgefühl die Heldengröße des Weibes trägt, den sein Weib zur Schlacht wappnet:

Und drohen diesmal die Feinde
Oder künftig, so rüste mich selbst und reiche die Waffen!

Dies Typische spricht sich in dem Gedicht an zahlreichen Stellen aus, z. B. wenn die Mutter ausruft: So sind die Männer! oder der Vater: Sind doch ein wunderlich Volk, die Weiber! oder wenn er sagt, er erfahre, was jedem Vater gedroht ist, daß den heftigen Willen des Sohnes die Mutter immer allzugelind begünstigt. Hermann, von seiner Liebe sprechend, ruft aus: Ja, es lösetdie Liebe, das fühl' ich, jegliche Bande, wenn sie die ihrigen knüpft; und nur das hinzugefügte »das fühl' ich« führt jenes allgemeine in die Sphäre des besondern Individuums zurück. Wie in Hermann der Sohn und Jüngling, so spricht und handelt in Dorothea das Mädchen, das Weib überhaupt: und sie sagt dies wiederum selbst, wo sie ihren Schritt als Magd dienen zu wollen als allgemeine weibliche Bestimmung des Dienens und Sorgens hinstellt. Ist Hermann der Telemachus, der Hektor überhaupt, so erscheint in Dorothea der Typus griechischer Jungfrauen, Töchter und Heldenfrauen, die liebende Andromache, die weise gewaltige Athene, die πάρθενος ἀνδροκτόνος, die schreitende Kanephore oder das amphoratragende Mädchen u. s. w. Nirgends zeigt sich ferner im Gedichte die Absicht einen Menschen vor uns hinzustellen, keine abstrakte Zeichnung, keine besondere Charakterschilderung; sondern, indem uns die Begebenheit erzählt wird, ergeben sich zugleich und unabtrennbar in organischem Zusammenhang die sie tragenden und von ihr wiedergetragenen Charaktere. Die Handlung geht nur fort, insofern der Charakter sich entfaltet, und diese Entfaltung eben ist es, die die Handlung weiterführt. So konkret auf diese Art die Charaktergebilde vor uns entstehen, so fein sind sie unter einander nüanciert. Alle Personen sind in der idyllischen Sphäre des Ganzen enthalten, sie sind alle ein Spiegel reiner Sitten, gemütlicher Güte und bürgerlich schlichten Verstandes. Dennoch
hat diese gleiche Substanz in jedem auf eigentümliche Weise Gestalt gewonnen: hier der Vater mit leichter Hinneigung zu den Schwächen und Eigenheiten des Alters, der Bevormundung, der Eitelkeit; dort der Sohn mit tiefer Färbung unbehilflicher Gemütskonzentrierung; hier der Pfarrer als ein etwas pedantischer Verbesserer; dort der Apotheker mit seinem naiv drolligen Egoismus; dort die Mutter, die bewußtlos gutmütig alles nur in ihrem Hermann sieht u. s. w. Uebrigens treten die Charaktere in dem Gedicht selbst lange nicht so schneidend hervor, wie wir sie oben aus zerstreuten Zügen zusammengestellt; manche Reden, die der eine spricht, könnte man bei flüchtigem Hinsehen auch wohl dem andern zuteilen. Wie alles in unserm Gedicht maßvoll ausgeglichen und verschmolzen ist, so zittert auch um die Charaktere ein feiner Aether, sie ebenso beleuchtend als verhüllend, ein zarter Nebel, der zwar durchscheinend ist, aber die Härte mildert und eine reizende Blässe um sie gießt. Man muß die sich bewegenden Personen aufmerksam verfolgen, sie lange ansehen, um die ganze Zartheit der Nüancierung zu empfinden. Aeußerst kunstvoll und plastisch sind sie endlich gruppiert. Die stille Gruppe der idyllischen Hauptgestalten wird durch den Gegensatz der flüchtenden Menge, die verworren von der Grenze herzieht und, wie sie alle Brunnen im Dorfe getrübt hat, so auch mit trüben Sinnen und in leidenschaftlichem Gezänke auf ihrem Wege weiterdrängt, getragen und beleuchtet. Des Vaters Ungeduld hebt die liebevolle Nachsicht der Mutter; an die im Mittelpunkt stehende Familie treten zu beiden Seiten die beiden innerlich verschiedenen Hausfreunde heran; der realistischen Gruppe des Vaters und Apothekers stellt sich die idealistische des Pfarrers und Richters gegenüber; hier der Vater mit den beiden Freunden in kälterer Stimmung und unter allgemeineren Gesprächen im Wirtssaale, dort gleichzeitig die liebende Mutter mit dem tiefergriffenen Sohn unter dem Birnbaum; Hermann und Dorothea, das selig beklommene Paar, am Brunnen, auf dem Heimgang, draußen im Mondlicht, unter drohenden Gewitterwolken, ihnen gegenüber die unruhig harrenden Eltern und Freunde im Hause; endlich in der Schlußszene die rührende Vereinigungsgruppe aller Personen in mannigfaltiger Beziehung zu dem Ereignis, je nach der Nüance des Charakters und der Beteiligung näher und weiter mit leichterer und tieferer Seelenbewegung zu dem glücklichen Momente sich stellend. Die Linien sind überall so einfach, die Gestalten so heiter und rein, die Momente bei aller Tiefe der Bedeutung so faßlich, daß hier alles die bildende Kunst zu einer Reihe von Figuren und Gruppen aufzufordern scheint. Bei der herrlichen Gruppe, die Hermann und Dorothea bilden, wo sie auf den Stufen des Weinbergs gestrauchelt ist und er sie in seinen Armen hält, ruft der Dichter selbst:

So stand er
Starr wie ein Marmorbild, vom ernsten Willen gebändigt.

Vielleicht schwebte seiner Phantasie hier unbewußt die Gruppe des Sabinerinnenraubs von Giovanni da Bologna in der Loggia zu Florenz vor: ein sich stemmender heldenhafter Jüngling, der ein junges Weib hoch trägt ganz wie Hermann hier die über ihm hochschwebende Dorothea. Beide am Brunnen sitzend, neben einander herschreitend, am Baumstamm ruhend —lauter Momente für eine Marmorgruppe. An Meyer schreibt er, die höchste Instanz, vor der das Gedicht gerichtet werden könne, sei die, vor welche der Menschenmaler seine Kompositionen bringt; und an Schiller, er habe die Vorteile, deren er sich in Hermann und Dorothea bediente, alle von der bildenden Kunst gelernt. In der That gibt es kein neueres Gedicht, dem die klare stille Kunst der Plastik verwandter und dessen Phantasiegebilde leichter in sichtbare Marmorgestalten zu verwandeln wären.




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