Die Luise von Voß, schon 1783 gedichtet, ist in vielfacher Beziehung ein dem Goetheschen verwandtes Gedicht; ja man hat Hermann und Dorothea geradezu für eine Nachahmung jenes Idylls erklärt, die natürlich, wie ja der Nachahmer immer der Unfreie und an produktiver Kraft Geringere ist, hinter der Schönheit des Urbildes zurückblieb. Andre, die billig sein wollten, ließen unentschieden, ob Luise oder Hermann und Dorothea den Vorzug verdiene, und sprachen bescheiden, sich sehr klug dünkend: non nostrum inter vos tantas componere lites. Niebuhr ging soweit, das vossische Gedicht mit Homer in Vergleich zu stellen und den letztern gegen das erstere hingeben zu wollen: das Urteil eines plattdeutschen oder friesischen Bauernsohnes, sehr willenskräftig, aber ungeheuer einseitig, mit geringem Sinn für griechische Humanität. Aehnliche Gunst fand die Luise merkwürdiger Weise auch bei Goethe und Schiller. Goethe liebte sie vorzulesen, wie er selbst erzählt, und man kann nicht leugnen, daß sie ihm vorschwebte, als er seinen Hermann dichtete. In dem Proömium zu Hermann und Dorothea sagt er:
Uns begleite des Dichters Geist, der seine Luise Rasch dem würdigen Freund, uns zu entzücken, verband.
Und Schiller äußert über sie in der Abhandlung über naive und sentimentalische Dichtung: Diese Idylle, obgleich nicht durchaus von sentimentalischen Einflüssen frei, gehört ganz zum naiven Geschlecht und ringt durch individuelle Wahrheit und gediegene Natur den besten griechischen Mustern mit seltenem Erfolge nach; sie kann daher, was ihr zu hohem Ruhm gereicht, mit keinem modernen Gedicht aus ihrem Fache, sondern muß mit griechischen Mustern verglichen werden, mit welchen sie auch den so seltenen Vorzug teilt uns einen reinen, bestimmten und immer gleichen Genuß zu gewähren. Schiller findet also ganz dasselbe in der Luise, was wir von Hermann und Dorothea gerühmt haben: den antiken Geist, die Naivetät der Auffassung und Darstellung. Voß selbst hatte eine hohe Meinung von seinem Gedicht und sah das Erscheinen von Hermann und Dorothea als einen Triumph mehr für sich an. Er schreibt 1797 an den alten Gleim, einst den Mäcen aller jungen Dichter, jetzt einen Allerweltsversmacher, der von der neuen klassischen Poesie nichts begriff: Sie werden für manche zu eilfertig gearbeitete Stellen durch sehr schöne entschädigt werden; die zur Vorrede bestimmte Elegie beweist hinlänglich, daß es ihm Ernst war etwas wo nicht Homerisches, doch Homeridisches aufzustellen, um auch diesen Kranz des Apollo zu gewinnen; ich werde mich herzlich freuen, wenn Griechenlands Geist uns Deutschen ein vollendetes Kunstwerk gewährt, und nicht engherzig nach meiner Luise mich umsehen; aber ebenso ehrlich denke ich für mich und sage es Ihnen: Die Dorothea gefalle, wem sie wolle; Luise ist sie nicht; sieh, ich wollte keck thun und fühle doch, daß ich rot werde. Gleim machte daraus den Vers:
Luise Voß und Dorothea Goethe,
Schön beide wie die Morgenröte,
Stehn da zur Wahl
Und Wahl macht Qual.
Hier aber, seht, ist nichts zu quälen,
Hier kann die Wahl nicht fehlen:
Luise Voß ist mein in Lied und in Idyll;
Die andre nehme, wer da will.
Auch die Luise ist ein Idyll und schildert häusliche beschränkte Zustände, einfältige sittlichreine gemütvolle Menschen. Die Sitten eines Landpfarrerhauses in Norddeutschland treten uns in dem Rahmen des Gedichtes mit allem Detail entgegen. Luise, die Tochter wird mit dem Kandidaten Walther vermählt und zieht als künftige Frau Pastorin von Grünau nach Seldorf. Der ehrwürdige Pfarrer von Grünau, die geschäftige Mutter und Hausfrau, die gräfliche Nachbarschaft, Hans der Knecht, Susanne die Magd bilden zusammen einen gemütvollen ländlichen Kreis, dessen Thun und Reden uns durch manchen Zug echter Menschlichkeit rührt. Soweit enthält das Gedicht denselben idyllischen Grundton wie Hermann und Dorothea, gleich welchem es auch in Hexametern geschrieben ist. Aber Hermann und Dorothea ist nicht bloß ein Idyll, sondern auch ein Epos. Es hängt durch tausend Fäden mit dem ganzen Menschenleben zusammen, von dem es ein Stück ist; jede einzelne Empfindung mündet in den Strom großer objektiver weltbewegender Mächte, während in der Luise der Blick in den kleinen Familienvorgängen des engen Pfarrhauses gebannt bleibt. So vollzieht sich in dem Goetheschen Gedicht auch eine wirkliche Begebenheit, mit welcher zugleich die Charaktere sich entwickeln und in der ein Menschendasein handelnd den Reichtum seines Inhalts, seiner Motive und Richtungen darlegt; eine stille sichere, gemessen wandelnde Erzählung führt von der freundlichen Ruhe unerschlossener Existenz zu Konflikten und Gegensätzen, von da in die Grundempfindung der Versöhnung, in die Vernunft und Schönheit sittlicher Ordnung zurück. Vossens Luise beschreibt etwas Vorhandenes. Luise ist die Braut Walthers von Anfang an und die geschilderten Lebensverhältnisse werden nicht durch Störung oder Kampf gezwungen, ihren Inhalt zu bewähren. Das vossische Gedicht ist also ein reines Idyll mit allem Unzureichenden, was diese Gattung hat, mit allem Ueberdruß, den sie so leicht erregt, und aller Armut trotz der gehäuften konkreten Züge. Sehen wir weiter auf die poetischen Kräfte, die in beiden Gedichten wirksam sind, so geht uns vollends alle Vergleichung aus. In Hermann und Dorothea öffnet uns ein Dichtergenius eine ideale, durch das Feuer der Phantasie von allen Schlacken geläuterte Welt; in Voßens Luise kopiert ein niederländischer Genremaler ängstlich und genau die kleinsten Bestimmtheiten der Wirklichkeit. Essen und Trinken, die Mahlzeit vom ersten bis zum letzten Gericht, die Kleider, der Schlafrock, das Pfeifenrohr, die ganze Hauseinrichtung, alle Verrichtungen des täglichen Lebens werden in ausführlicher Malerei aufgeboten, um unsrer Anschauung Realität zu bieten; dennoch will sich das Bild nicht beleben, es bleibt tot. Auf mechanische Weise stellt sich Zug neben Zug; die Schilderung erwächst nicht organisch aus innerem Kern durch den bildenden Instinkt der Phantasie. Die Goetheschen Personen sind poetische Geschöpfe, sie sind, wie wir schon oben sahen, Typen und Individuen zugleich; die vossischen sind eine mechanische Mosaik, Kinder der Reflexion. Der Dichter fragte sich: wie muß eine Mutter sich benehmen? wie machen es die Mütter gewöhnlich? wie zeigt sich eine Pfarrersfrau? und nun wandte er die Züge, die er durch Reflexion über das Mutter- und Gattenverhältnis gefunden, auf seine Pfarrerin von Grünau an. Ebenso der Vater: er ist der individualisierte Pfarrer- und Hausvaterstand, der norddeutsche Pfarrer, wie ihn die Beobachtung findet und die Abstraktion sich denkt. Daher fehlt den Personen die innere Beseelung, welche die Gebilde schöpferischer Phantasie durchdringt; so fehlt die Kunst des Wesentlichen, des Vor- und Rücktretens der Züge, die Kunst idealer Zeichnung, die, wahrer und konsequenter als die Natur, doch nicht in jedem einzelnen Punkte nach Verkörperung strebt. Dieselbe bewußte Absicht zeigt sich in der überall hervortretenden bestimmten Tendenz des Dichters. Er will uns ein Gemälde reiner Sitten geben; seine letzte Triebfeder ist nicht der Reiz des Schaffens, sondern moralische Stimmung, soziale Beobachtung, sittengeschichtliches Interesse. Aufklärung, Widerwille gegen Dogmen, werkthätige liebevolle Religiosität erscheint als eine Herzensangelegenheit des Dichters, aber sie geht neben seinem poetischen Bilden einher, sie wird direkt gepredigt, es werden sogar Bücher genannt, die sich darauf beziehen, so daß wir uns aus dem Reiche ästhetischer Freiheit auf den Boden der Erde zurückversetzt finden. Auch in der äußern Form endlich suchen wir vergeblich die edle Grazie, die liebliche Anmut und harmonische Vollendung von Goethes Gedicht. Absicht, Mühe, Unnatur, Verkünstelung entstellt den Ausdruck und Vers fast überall. Mit diesen spondeenreichen Hexametern voll Zwang und Arbeit, mit dem Tone kostbarer Gesuchtheit kontrastiert dann seltsam der Naturalismus einzelner Worte und Vorfälle, ebenso mit der durchgängigen lastenden Schwere des Ausdrucks der hin und wieder gemachte Versuch dichterisch spielen und tändeln zu wollen. Was Voß in allen Gedichten abging, Feinheit der Technik, fehlt auch seiner Luise. So sind auch die Nachahmungen Homers und der Alten lange nicht so anmutig in das Ganze verwebt als bei Goethe; sie ragen mehr oder minder als fremde Stücke aus der Rede hervor, ohne in ihren Strom zu verfließen.
Fehlt es auf diese Weise dem vossischen Gedicht an Idealität, so leidet Klopstocks Messias an dem entgegengesetzten, für die Kunst, die am wenigsten der Sinnlichkeit entbehren kann, noch viel schlimmeren Fehler des Mangels an Realität. Klopstock hat religiöse Abstraktionen in Handlung gesetzt, denen aller Zauber lebendiger Gegenwart, alle Wärme pulsierenden Lebens abgeht. Eben weil sie Abstraktionen sind, duldeten sie kein näheres Eingehen; wie gestaltlose Schatten wallen sie an uns vorüber. Voß ist ein Genremaler, Klopstocks Messias eine lange unfaßbare Musik. Die Handlung ist keine wahre und wirkliche, auf konkreten Verhältnissen und menschlichen Triebfedern ruhende und in dem Zusammenhang der Welt begriffene; sie geht über dem Wirklichen in leeren Räumen vor sich und verläßt die Erde, den vertrauten Wohnsitz der Menschen. Ueberall nicht sowohl erfülltes Leben als abstrakte Beziehung auf das dogmatische System, statt anschaulicher Gegenwart zerfließende religiöse Sentimentalität. Wie anders wäre ein Dichter von wirklicher Gestaltungskraft verfahren! Das damalige Palästina in seinem historischen Zustande, die herrschenden Römer, die pharisäischen Priester mit ihrer Sophistik und ihrem starren Halten an der Satzung, das Volk der Juden selbst, die auf religiöse Innigkeit dringende, dem Gesetz die Gesinnung entgegenhaltende neue Sekte der Christen; dazu die durch Tradition gegebene, nur weiter auszufüllende und zu belebende Geschichte Christi, die von dem Zwang des Dogmas befreit, aus der falschen transzendenten Höhe mitten in das Leben verlegt, in einem schönen Bilde voll Bedeutung und Wärme eine edle Menschlichkeit vor uns hätte entfalten können; in den Gruppen der politisch Herrschenden und Beherrschten, der religiös Gebietenden und sich Auflehnenden wirksam sich entgegenstehende Massen; in den Individualitäten Jesu, des Verräters Judas, der übrigen Jünger u. s. w. mit einander kontrastierende, leicht zu gruppierende Charaktere; die Aussicht auf die einstige Größe der neuen Religion, die antizipierenden Blicke auf die Geschichte der Kirche wie bei Virgil auf die spätere römische Weltherrschaft; endlich die südliche Natur des Landes und die damit zusammenhängenden Sitten, die Palmen und Kamele, Wüsten und Quellen, der Oelberg und der Tempel, das wunderbare tote Meer — alles dies gab einer wahrhaft bildenden Phantasie den reichsten Stoff eine handelnde konkrete, menschlich das Herz ergreifende Welt zu schaffen. Statt dessen ging Klopstock an sein Gedicht nicht als gestaltender Epiker, sondern als musikalischer Lyriker, nicht mit der freien, der Natur der Dinge sich hingebenden Anschauung des Dichters, sondern mit der Andacht eines seiner Sünde sich bewußten Herzens, das seine Bedürfnisse mit Hilfe endlichen Verstandes zu übersinnlichen Wesen macht, denen man nicht nahen darf, ohne daß sie sich wie alle Abstraktionen in das Nichts auflösen. Daher in dem ganzen Epos nichts als Empfindungen, daher Erhabenheit die einzige Stimmung. Der Dichter sucht unablässig zu steigern, höher zu fliegen, Erweiterung auf Erweiterung zu häufen; er streift alles sich begrenzende, sich individuell zusammenfassende Leben ab und findet sich zuletzt in der erhabenen anschauungslosen Leere, in dem reinen Reich unsagbarer Empfindung; er verstummt. Ermüdung und Langeweile überfällt den Leser nach wenigen Schritten, die er durch diese Sammlung von leeren Empfindungen und Reden gemacht hat. Alles Sinnliche und Körperliche, alles wahrhaft Natürliche und Reelle liegt tief unter uns; wir steigen von Anbetung zu Anbetung, von Greuel und Grauen zu Greuel und Grauen; beides als bloß abstrakt kann uns nicht in wirklichen Umrissen und Farben, sondern nur mit Worten gereicht werden. Ausrufungen, Floskeln rhetorischer Erhabenheit, Hymnen, Jubel- und Verzweiflungsgesänge ersetzen die lebenbeseelte Menschen- und Naturwelt einer wirklichen Dichterphantasie. Zu alledem kommt die Gezwungenheit der Sprache, aus der uns gleichfalls nicht die Laute vertraulich redender Menschengeschlechter entgegentönen; sie ist wie durch den Ruck eines Zauberschlüssels aus der natürlichen Stimmung gedreht, sie ist immer wie außer sich, sie schreit, sie ruft, sie windet sich konvulsivisch; harte Worte reiben sich knarrend aneinander, hohle Töne hallen durch die gestaltlose Oede.
So sind denn beide Gedichte, die idyllische Luise wie der erhabene Messias, Mißgeschöpfe nach entgegengesetzter Richtung hin. Verschmäht es die Kunst, täuschende Wachsfiguren zu bilden, so hascht sie noch viel weniger nach Traumbildern: ihre Marmorgestalten sind wahre und dennoch ideale, natürliche und doch überirdische, lebenerfüllte und doch stille und kalte Wesen. Wie keusch ist der Dichter von Hermann und Dorothea in individualisierenden Einzelheiten des Lebens, in Essen und Trinken, Kleidern, Sitten, Idiotismen der Umgangssprache dem Dichter der Luise gegenüber! Wie heiter sinnlich entfaltet er in bestimmten Handlungen, Lokalitäten, menschlichen Motiven das Gemälde vor uns, verglichen mit den sich jagenden Phantasmagorieen und der verhallenden Musik des Klopstockischen Gedichts! Er läßt die Charaktere durch Handlungen vor uns entstehen, während in der Luise nur Beschreibung ist; er nüanciert und individualisiert sie, während die Personen Klopstocks als verkleidete Abstraktionen des Guten und Bösen, der Allmacht und Unmacht u. s. w. alle den gleichen wesenlosen Typus tragen. Von einer Tendenz ist in Hermann und Dorothea keine Spur; Voß und Klopstock sind beide Theologen, der eine ein rationalistischer, der andre ein orthodoxer, und beide haben theologische Absichten. Aus Hermann und Dorothea weht uns ein geläuterter Geist echter Humanität an, der eins ist mit dem Element ästhetischer Freiheit und schöner Kunstdarstellung; bei Klopstock verdrängt Gebet und Fluch die stille Heiterkeit des bildenden Dichters, die theologische Satzung den Geist freier Betrachtung der Dinge. Beide Dichter endlich, Voß sowohl als Klopstock sind deutsch und national, aber ebenfalls in beschränkter Weise. Voß malte manche Seiten norddeutschen Seins und Lebens mit Glück und befreundete sich mit den ehrbaren Gestalten begrenzter Sittlichkeit in derjenigen Sphäre, welcher er durch seine Geburt angehörte, aber er erschöpfte den Gehalt des deutschen Volkes nicht, sein Deutschtum ist zu eng; Klopstock besang den leeren Begriff Vaterland und fuhr auf den Flügeln der Begeisterung für alles Germanische dahin, aber er verkehrte nicht freundlich und vertraulich mit den konkreten Interessen und den wirklichen Zuständen des deutschen Volkes und Landes, sein Deutschtum ist zu abstrakt. Es kostete darum Klopstock auch nichts in seinem Hauptgedicht, welches als Epos vor allem einen nationalen Boden verlangte, den Kreis des Vaterländischen zu verlassen und dem religiösen, wohl auch dem theologischen Interesse auf Kosten des nationalen Genüge zu geben, welches ihm Goethe in dem Gedicht »die Kränze« auf gewohnte mildentschuldigende Weise vorwarf. Goethe ist auch nationaler als beide Dichter, er ist deutscher als irgend einer unsrer Dichter, obgleich er nie für Arminius geschwärmt, den Welschen immer freundlich gewesen und seinen Widerwillen gegen eine christlich-germanische Erneuerung des Mittelalters nicht verhehlt. In Hermann und Dorothea ist deutscher Geist in echter Wesenhaftigkeit: da aber alles Krankhafte und Irrige, worin dieser Geist sich selbst verlor, von dem Gedicht ausgeschlossen blieb, so erscheint es ebenso deutsch als homerisch und human.
Wir haben im Obigen über beide Gedichte, die Luise und den Messias, etwas hart geurteilt, weil es uns darauf ankam, ihr poetisches Wertverhältnis zu Hermann und Dorothea deutlich zu betonen. Für sich betrachtet haben beide gewiß manche Schönheiten, die Luise im naiven, die Messiade im sentimental-elegischen Tone; den, der die höchsten Forderungen mitbringt, können sie nicht befriedigen. So ist denn auch Klopstocks Messias nach einer oft gemachten Bemerkung längst schon ohne Leser; und von Vossens Luise bleibt August Wilhelm Schlegels Ausspruch wahr: Bei der Nachwelt wird es Luisen empfehlen können, daß sie Dorothea zur Taufe gehalten hat.
Ende
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