> Gedichte und Zitate für alle: Woldemar von Biedermann : Gespräche Goethes 1827-1 (68)

2019-10-08

Woldemar von Biedermann : Gespräche Goethes 1827-1 (68)


1827





1827, 3. Januar.
Mit Johann Peter Eckermann


Heute bei Tische sprachen wir über Cannings treffliche Rede für Portugal.

»Es giebt Leute,« sagte Goethe, »die diese Rede grob nennen; aber diese Leute wissen nicht was sie wollen, es liegt in ihnen eine Sucht, alles Große zu frondiren. Es ist keine Opposition, sondern eine bloße Frondation. Sie müssen etwas Großes haben, das sie hassen können. Als Napoleon noch in der Welt war, haßten sie den, und sie hatten an ihm eine gute Ableitung. Sodann als es mit diesem aus war, frondirten sie die heilige Allianz, und doch ist nie etwas Größeres und für die Menschheit Wohlthätigeres erfunden worden. Jetzt kommt die Reihe an Canning. Seine Rede für Portugal ist das Product eines großen Bewußtseins. Er fühlt sehr gut den Umfang seiner Gewalt und die Größe seiner Stellung, und er hat recht, daß er spricht wie er sich empfindet. Aber das können diese Sansculotten nicht begreifen, und was uns andern groß erscheint, erscheint ihnen grob. Das Große ist ihnen unbequem, sie haben keine Ader, es zu verehren; sie können es nicht dulden.«


1827, 4. Januar. 
Mit Johann Peter Eckermann 


Goethe lobte sehr die Gedichte von Victor Hugo. »Er ist ein entschiedenes Talent,« sagte er, »auf den die deutsche Literatur Einfluß gehabt. Seine poetische Jugend ist ihm leider durch die Pedanterie der klassischen Partei verkümmert; doch jetzt hat er den ›Globe‹ auf seiner Seite, und so hat er gewonnen Spiel. Ich möchte ihn mit Manzoni vergleichen. Er hat viel Objectives und erscheint mir vollkommen so bedeutend als die Herren de Lamartine und Delavigne. Wenn ich ihn recht betrachte, so sehe ich wohl, wo er und andere frische Talente seinesgleichen herkommen. Von Chateaubriand kommen sie her, der freilich ein sehr bedeutendes rhetorisch-poetisches Talent ist. Damit Sie nun aber sehen, in welcher Art Victor Hugo schreibt, so lesen Sie nur dies Gedicht über Napoleon: ›Les deux îles.‹«

Goethe legte mir das Buch vor und stellte sich an den Ofen. Ich las. »Hat er nicht treffliche Bilder?« sagte Goethe, »und hat er seinen Gegenstand nicht mit sehr freiem Geiste behandelt?« Er trat wieder zu mir. »Sehen Sie nur diese Stelle, wie schön sie ist!« Er las die Stelle von der Wetterwolke, aus der den Helden der Blitz von unten hinauf trifft. »Das ist schön! Denn das Bild ist wahr, welches man in Gebirgen finden wird, wo man oft die Gewitter unter sich hat und wo die Blitze von unten nach oben schlagen.«

»Ich lobe an den Franzosen,« sagte ich, »daß ihre Poesie nie den festen Boden der Realität verläßt. Man kann die Gedichte in Prosa übersetzen und ihr Wesentliches wird bleiben.«

»Das kommt daher,« sagte Goethe: »die französischen Dichter haben Kenntnisse; dagegen denken die deutschen Nar ren, sie verlören ihr Talent, wenn sie sich um Kenntnisse bemühten, obgleich jedes Talent sich durch Kenntnisse nähren muß und nur dadurch erst zum Gebrauch seiner Kräfte gelangt. Doch wir wollen sie gehen lassen, man hilft ihnen doch nicht, und das wahrhafte Talent findet schon seinen Weg. Die vielen jungen Dichter, die jetzt ihr Wesen treiben, sind gar keine rechten Talente; sie beurkunden weiter nichts als ein Unvermögen, das durch die Höhe der deutschen Literatur zur Productivität angereizt worden.

Daß die Franzosen,« fuhr Goethe fort, »aus der Pedanterie zu einer freiern Art in der Poesie hervorgehen, ist nicht zu verwundern. Diderot und ihm ähnliche Geister haben schon vor der Revolution diese Bahn zu brechen gesucht. Die Revolution selbst sodann sowie die Zeit unter Napoleon sind der Sache günstig gewesen. Denn wenn auch die kriegerischen Jahre kein eigentlich poetisches Interesse aufkommen ließen und also für den Augenblick den Musen zuwider waren, so haben sich doch in dieser Zeit eine Menge freier Geister gebildet, die nun im Frieden zur Besinnung kommen und als bedeutende Talente hervortreten.«

Ich fragte Goethe, ob die Partei der Classiker auch dem trefflichen Béranger entgegen gewesen. »Das Genre, worin Béranger dichtet,« sagte Goethe, »ist ein älteres, herkömmliches, woran man gewöhnt war; doch hat auch er sich in manchen Dingen freier bewegt als seine Vorgänger und ist deshalb von der pedantischen Partei angefeindet worden.«

Das Gespräch lenkte sich auf die Malerei und auf den Schaden der alterthümelnden Schule. »Sie prätendiren kein Kenner zu sein,« sagte Goethe, »und doch will ich Ihnen ein Bild vorlegen, an welchem Ihnen, obgleich es von einem unserer besten jetzt lebenden deutschen Maler gemacht worden, dennoch die bedeutendsten Verstöße gegen die ersten Gesetze der Kunst sogleich in die Augen fallen sollen. Sie werden sehen, das einzelne ist hübsch gemacht, aber es wird Ihnen bei dem Ganzen nicht wohl werden, und Sie werden nicht wissen was Sie daraus machen sollen. Und zwar dieses nicht, weil der Meister des Bildes kein hinreichendes Talent ist, sondern weil sein Geist, der das Talent leiten soll, ebenso verfinstert ist wie die Köpfe der übrigen alterthümelnden Maler, sodaß er die vollkommenen Meister ignorirt und zu den unvollkommenen Vorgängern zurückgeht und diese zum Muster nimmt.

Raphael und seine Zeitgenossen waren aus einer beschränkten Manier zur Natur und Freiheit durchgebrochen. Und statt daß jetzige Künstler Gott danken und diese Avantagen benutzen und auf dem trefflichen Wege fortgehen sollten, kehren sie wieder zur Beschränktheit zurück. Es ist zu arg, und man kann diese Verfinsterung der Köpfe kaum begreifen. Und weil sie nun auf diesem Wege in der Kunst selbst keine Stütze haben, so suchen sie solche in der Religion und Partei; denn ohne beides würden sie in ihrer Schwäche gar nicht bestehen können. Es geht,« fuhr Goethe fort, »durch die ganze Kunst eine Filiation. Sieht man einen großen Meister, so findet man immer, daß er das Gute seiner Vorgänger benutzte, und daß eben dieses ihn groß machte. Männer wie Raphael wachsen nicht aus dem Boden. Sie fußten auf der Antike und dem Besten, was vor ihnen gemacht worden. Hätten sie die Avantagen ihrer Zeit nicht benutzt, so würde wenig von ihnen zu sagen sein.«

Das Gespräch lenkte sich auf die altdeutsche Poesie; ich erinnerte an Fleming. »Fleming,« sagte Goethe, »ist ein recht hübsches Talent, ein wenig prosaisch, bürgerlich; er kann jetzt nichts mehr helfen. Es ist eigen,« fuhr er fort, »ich habe doch so mancherlei gemacht, und doch ist keins von allen meinen Gedichten, das im lutherischen Gesangbuch stehen könnte.« Ich lachte und gab ihm recht, indem ich mir sagte, daß in dieser wunderlichen Äußerung mehr liege, als es den Anschein habe.



1827, 12. Januar. 
Abendgesellschaft bei Goethe


Ich [Eckermann] fand eine musikalische Abendunterhaltung bei Goethe, die ihm von der Familie Eberwein nebst einigen Mitgliedern des Orchesters gewährt wurde. Unter den wenigen Zuhörern waren: der Generalsuperintendent Röhr, Hofrath Vogel und einige Damen. Goethe hatte gewünscht, das Quartett eines berühmten jungen Componisten zu hören, welches man zunächst ausführte. Der zwölfjährige Karl Eberwein spielte den Flügel zu Goethes großer Zufriedenheit und in der That trefflich, sodaß denn das Ouartett in jeder Hinsicht gut executirt vorüberging. »Es ist wunderlich,« sagte Goethe, »wohin die aufs höchste gesteigerte Technik und Mechanik die neuesten Componisten führt; ihre Arbeiten bleiben keine Musik mehr, sie gehen über das Niveau der menschlichen Empfindungen hinaus und man kann solchen Sachen aus eigenem Geist und Herzen nichts mehr unterlegen. Wie ist es Ihnen? Mir bleibt alles in den Ohren hängen.« Ich sagte, daß es mir in diesem Falle nicht besser gehe. »Doch das Allegro,« fuhr Goethe fort, »hatte Character. Dieses ewige Wirbeln und Drehen führte mir die Hexentänze des Blocksbergs vor Augen, und ich fand also doch eine Anschauung, die ich der wunderlichen Musik supponiren konnte.«

Nach einer Pause, während welcher man sich unterhielt und einige Erfrischungen nahm, ersuchte Goethe Madame Eberwein um den Vortrag einiger Lieder. Sie sang zunächst nach Zelter's Composition das schöne Lied ›Um Mitternacht‹, welches den tiefsten Eindruck machte. »Das Lied bleibt schön,« sagte Goe the, »So oft man es auch hört. Es hat in der Melodie etwas Ewiges, Unverwüstliches.« Hierauf folgten einige Lieder aus der ›Fischerin‹, von Max Eberwein componirt. Der ›Erlkönig‹ erhielt entschiedenen Beifall; sodann die Arie: ›Ich hab's gesagt der guten Mutter‹, erregte die allgemeine Äußerung: diese Composition erscheine so gut getroffen, daß niemand sie sich anders denken könne. Goethe selbst war im hohen Grade befriedigt.

Zum Schluß des schönen Abends sang Madame Eberwein auf Goethes Wunsch einige Lieder des ›Divan‹ nach den bekannten Compositionen ihres Gatten. Die Stelle: ›Jussufs Reize möcht' ich borgen‹, gefiel Goethen ganz besonders. »Eberwein,« sagte er zu mir, »übertrifft sich mitunter selber.« Er bat sodann noch um das Lied: ›Ach um deine feuchten Schwingen‹, welches gleichfalls die tiefsten Empfindungen anzuregen geeignet war. Nachdem die Gesellschaft gegangen, blieb ich noch einige Augenblicke mit Goethe allein. »Ich habe,« sagte er, »diesen Abend die Bemerkung gemacht, daß diese Lieder des ›Divan‹ gar kein Verhältniß mehr zu mir haben. Sowohl was darin orientalisch als was darin leidenschaftlich ist, hat aufgehört in mir fortzuleben; es ist wie eine abgestreifte Schlangenhaut am Wege liegen geblieben. Dagegen das Lied ›Um Mitternacht‹ hat sein Verhältniß zu mir nicht verloren, es ist von mir noch ein lebendiger Theil und lebt mit mir fort.

Es geht mir übrigens öfter mit meinen Sachen so, daß sie mir gänzlich fremd werden. Ich las dieser Tage etwas Französisches und dachte im Lesen: der Mann spricht gescheidt genug, du würdest es selbst nicht anders sagen. Und als ich es genau besehe, ist es eine übersetzte Stelle aus meinen eigenen Schriften.«


1827, 15. Januar. 
Mit Johann Peter Eckermann


Vor mehrern Wochen hörte ich .. von seinem Secretär [John], daß er an einer neuen Novelle arbeite; ich hielt mich daher abends von Besuchen zurück und begnügte mich, ihn bloß alle acht Tage bei Tische zu sehen.

Diese Novelle war nun seit einiger Zeit vollendet, und er legte mir diesen Abend die ersten Bogen zur Ansicht vor.

Ich war beglückt und las bis zu der bedeutenden Stelle, wo alle um den todten Tiger herumstehen und der Wärtel die Nachricht bringt, daß der Löwe oben an der Ruine sich in die Sonne gelegt habe.Während des Lesens hatte ich die außerordentliche Deutlichkeit zu bewundern, womit alle Gegenstände bis auf die kleinste Localität vor die Augen gebracht waren. Der Auszug zur Jagd, die Zeichnungen der alten Schloßruine, der Jahrmarkt, der Feldweg zur Ruine, alles trat entschieden vor die Anschauung, sodaß man genöthigt war, sich das Dargestellte gerade so zu denken wie der Dichter es gewollt hatte. Zu gleich war alles mit einer solchen Sicherheit, Besonnenheit und Herrschaft geschrieben, daß man vom Künftigen nichts vorausahnen und keine Zeile weiter blicken konnte als man las.

»Euer Excellenz,« sagte ich, »müssen nach einem sehr bestimmten Schema gearbeitet haben.«

»Allerdings habe ich das,« antwortete Goethe; »ich wollte das Sujet schon vor dreißig Jahren ausführen, und seit der Zeit trage ich es im Kopfe. Nun ging es mir mit der Arbeit wunderlich. Damals, gleich nach ›Hermann und Dorothea‹, wollte ich den Gegenstand in epischer Form und Hexametern behandeln und hatte auch zu diesem Zwecke ein ausführliches Schema entworfen. Als ich nun jetzt das Sujet wieder vornehme, um es zu schreiben, kann ich jenes alte Schema nicht finden und bin also genöthigt, ein neues zu machen und zwar ganz gemäß der veränderten Form, die ich jetzt dem Gegenstande zu geben willens war. Nun aber nach vollendeter Arbeit findet sich jenes ältere Schema wieder, und ich freue mich nun, daß ich es nicht früher in Händen gehabt, denn es würde mich nur verwirrt haben. Die Handlung und der Gang der Entwickelung war zwar unverändert, allein im Detail war es doch ein ganz anderes; es war ganz für eine epische Behandlung in Hexametern gedacht und würde also für diese prosaische Darstellung gar nicht anwendbar gewesen sein.«

Das Gespräch lenkte sich auf den Inhalt. »Eine schöne Situation,« sagte ich, »ist die, wo Honorio der Fürstin gegenüber am todt ausgestreckten Tiger steht, die klagende, weinende Frau mit dem Knaben herzugekommen ist, und auch der Fürst mit dem Jagdgefolge zu der seltsamen Gruppe soeben herbeieilt. Das müßte ein treffliches Bild machen, und ich möchte es gemalt sehen.«

»Gewiß,« sagte Goethe, »das wäre ein schönes Bild; – doch,« fuhr er nach einigem Bedenken fort, »der Gegenstand wäre fast zu reich und der Figuren zu viele, sodaß die Gruppirung und Vertheilung von Licht und Schatten dem Künstler sehr schwer werden würde. Allein den frühern Moment, wo Honorio auf dem Tiger kniet und die Fürstin am Pferde gegenübersteht, habe ich mir wohl als Bild gedacht; und das wäre zu machen.« Ich empfand, daß Goethe recht hatte, und fügte hinzu, daß ja dieser Moment auch eigentlich der Kern der ganzen Situation sei, worauf alles ankomme.

Noch hatte ich an dem Gelesenen zu bemerken, daß diese Novelle von allen übrigen der ›Wanderjahre‹ einen ganz verschiedenen Character trage, indem darin alles Darstellung des Äußern, alles real sei. »Sie haben recht,« sagte Goethe, »Inner liches finden Sie in dem Gelesenen fast gar nicht, und in meinen übrigen Sachen ist davon fast zu viel.«

»Nun bin ich neugierig zu erfahren,« sagte ich, »wie man sich des Löwen bemeistern wird; daß dieses auf eine ganz andere Weise geschehen werde, ahne ich fast, doch das Wie ist mir gänzlich verborgen.« – »Es wäre auch nicht gut, wenn Sie es ahnten,« sagte Goethe, »und ich will es Ihnen heute nicht verrathen. Donnerstag Abend gebe ich Ihnen das Ende; bis dahin liegt der Löwe in der Sonne.«

Ich brachte das Gespräch auf den zweiten Theil des ›Faust‹, insbesondere auf die ›Classische Walpurgisnacht‹, die nur noch in der Skizze dalag, und wovon Goethe mir vor einiger Zeit gesagt hatte, daß er sie als Skizze wolle drucken lassen. Nun hatte ich mir vorgenommen, Goethen zu rathen, dieses nicht zu thun; denn ich fürchtete, sie möchte, einmal gedruckt, für immer unausgeführt bleiben. Goethe mußte in der Zwischenzeit das bedacht haben, denn er kam mir sogleich entgegen, indem er sagte, daß er entschlossen sei, jene Skizze nicht drucken zu lassen. »Das ist mir sehr lieb,« sagte ich, »denn nun habe ich doch die Hoffnung, daß Sie sie ausführen werden.« – »In einem Vierteljahre,« sagte er, »wäre es gethan, allein woher will die Ruhe kommen! Der Tag macht gar zu viele Ansprüche an mich; es hält schwer, mich so sehr abzusondern und zu isoliren. Diesen Morgen war der Erbgroßherzog bei mir, auf morgen Mittag hat sich die Großherzogin melden lassen. Ich habe solche Besuche als eine hohe Gnade zu schätzen, sie verschönern mein Leben; allein sie nehmen doch mein Inneres in Anspruch, ich muß doch bedenken, was ich diesen hohen Personen immer Neues vorlegen und wie ich sie würdig unterhalten will.«

»Und doch,« sagte ich, »haben Sie vorigen Winter die ›Helena‹ vollendet, und Sie waren doch nicht weniger gestört als jetzt.« – »Freilich,« sagte Goethe, »es geht auch, und muß auch gehen, allein es ist schwer.« – »Es ist nur gut,« sagte ich, »daß Sie ein so ausführliches Schema haben.« – »Das Schema ist wohl da,« sagte Goethe, »allein das Schwierigste ist noch zu thun; und bei der Ausführung hängt doch alles gar zu sehr vom Glück ab. Die ›Classische Walpurgisnacht‹ muß in Reimen geschrieben werden, und doch muß alles einen antiken Character tragen. Eine solche Versart zu finden, ist nicht leicht. Und nun den Dialog!« – »Ist denn der nicht im Schema mit erfunden?« sagte ich. – »Wohl das Was,« antwortete Goethe, »aber nicht das Wie. Und dann bedenken Sie nur, was alles in jener tollen Nacht zur Sprache kommt! Fausts Rede an die Proserpina, um diese zu bewegen, daß sie die Helena herausgiebt; was muß das nicht für eine Rede sein, da die Proserpina selbst zu Thränen davon gerührt wird! Dieses alles ist nicht leicht zu machen und hängt sehr viel vom Glück ab, ja fast ganz von der Stimmung und Kraft des Augenblicks.«



1827, 17. Januar. 
Mittag bei Goethe


In der letzten Zeit, wo Goethe sich mitunter nicht ganz wohl befand, hatten wir in seiner nach dem Garten gehenden Arbeitsstube gegessen. Heute war wieder in dem sogenannten Urbino-Zimmer gedeckt, welches ich [Eckermann] als ein gutes Zeichen nahm. Als ich hereintrat, fand ich Goethe und seinen Sohn; beide bewillkommneten mich freundlich in ihrer naiven liebevollen Art; Goethe selbst schien in der heitersten Stimmung, wie dieses an seinem höchst belebten Gesicht zu bemerken war. Durch die offene Thür des angrenzenden sogenannten Deckenzimmers sah ich, über einen großen Kupferstich gen, den Herrn Kanzler von Müller; er trat bald zu uns herein, und ich freute mich, ihn als angenehme Tischgesellschaft zu begrüßen. Frau von Goethe wurde noch erwartet, doch setzten wir uns vorläufig zu Tische. Es ward mit Bewunderung von dem Kupferstich gesprochen, und Goethe erzählte mir, es sei ein Werk des berühmten Gérard in Paris, womit dieser ihm in den letzten Tagen ein Geschenk gemacht. »Gehen Sie geschwind hin,« fügte er hinzu, »und nehmen Sie noch ein paar Augen voll, ehe die Suppe kommt.«

Ich that nach seinem Wunsche und meiner Neigung; ich freute mich an dem Anblick des bewundernswürdigen Werks, nicht weniger an der Unterschrift des Malers, wodurch er es Goethen als einen Beweis seiner Achtung zueignet. Ich konnte jedoch nicht lange betrachten, Frau von Goethe trat herein, und ich eilte nach meinem Platz zurück. »Nicht wahr,« sagte Goethe, »das ist etwas Großes? Man kann es tage- und wochenlang studiren, ehe man die reichen Gedanken und Vollkommenhei ten alle herausfindet. Dieses,« sagte er, »soll Ihnen auf andere Tage vorbehalten bleiben.«

Wir waren bei Tische sehr heiter. Der Kanzler theilte einen Brief eines bedeutenden Mannes aus Paris [Saint-Aignan] mit, der zur Zeit der französischen Occupation als Gesandter hier einen schweren Posten behauptet und von jener Zeit her mit Weimar ein freundliches Verhältniß fortgesetzt hatte. Er gedachte des Großherzogs und Goethes und pries Weimar glücklich, wo das Genie mit der höchsten Gewalt ein so vertrautes Verhältniß haben könne.

Frau von Goethe brachte in die Unterhaltung große Anmuth. Es war von einigen Anschaffungen die Rede, womit sie den jungen Goethe neckte, und wozu dieser sich nicht verstehen wollte. »Man muß den schönen Frauen nicht gar zu viel angewöhnen,« sagte Goethe, »denn sie gehen leicht ins Grenzenlose. Napoleon erhielt noch auf Elba Rechnungen von Putzmacherinnen, die er bezahlen sollte. Doch mochte er in solchen Dingen leicht zu wenig thun als zu viel. Früher in den Tuilerien wurden einst in seinem Beisein seiner Gemahlin von einem Modehändler kostbare Sachen präsentirt. Als Napoleon aber keine Miene machte, etwas zu kaufen, gab ihm der Mann zu verstehen, daß er doch wenig in dieser Hinsicht für seine Gemahlin thue. Hierauf sagte Napoleon kein Wort, aber er sah ihn mit einem solchen Blick an, daß der Mann seine Sachen sogleich zusammenpackte und sich nie wieder sehen ließ.« – »That er dieses als Consul?« fragte Frau von Goethe. – »Wahrscheinlich als Kaiser,« antwortete Goethe, »denn sonst wäre sein Blick wohl nicht so furchtbar gewesen. Aber ich muß über den Mann lachen, dem der Blick in die Glieder fuhr und der sich wahrscheinlich schon geköpft oder erschossen sah.«

Wir waren in der heitersten Laune und sprachen über Napoleon weiter fort. »Ich möchte,« sagte der junge Goethe, »alle seine Thaten in trefflichen Gemälden oder Kupferstichen besitzen und damit ein großes Zimmer dekoriren.« – »Das müßte sehr groß sein,« erwiederte Goethe, »und doch würden die Bilder nicht hineingehen, so groß sind seine Thaten.«

Der Kanzler brachte Ludens ›Geschichte der Deutschen‹ ins Gespräch, und ich hatte zu bewundern, mit welcher Gewandtheit und Eindringlichkeit der junge Goethe dasjenige, was öffentliche Blätter an dem Buche zu tadeln gefunden, aus der Zeit, in der es geschrieben, und den nationalen Empfindungen und Rücksichten, die dabei in dem Verfasser gelebt, herzuleiten wußte. Es ergab sich, daß Napoleons Kriege erst jene des Cäsar ausgeschlossen. »Früher,« sagte Goethe, »war Cäsar's Buch freilich nicht viel mehr als ein bloßes Exercitium gelehrter Schulen.«

Von der altdeutschen Zeit kam das Gespräch auf die gothische. Es war von einem Bücherschrank die Rede, der einen gothischen Character habe; sodann kam man auf den neuesten Geschmack, ganze Zimmer in altdeutscher und gothischer Art einzurichten und in einer solchen Umgebung einer veralteten Zeit zu wohnen.

»In einem Hause,« sagte Goethe, »wo so viele Zimmer sind, daß man einige derselben leer stehen läßt und im ganzen Jahre vielleicht nur drei-, viermal hineinkommt, mag eine solche Liebhaberei hingehen und man mag auch ein gothisches Zimmer haben, sowie ich es ganz hübsch finde, daß Madame Panckoucke in Paris ein chinesisches hat, allein sein Wohnzimmer mit so fremder und veralteter Umgebung auszustaffiren, kann ich gar nicht loben. Es ist immer eine Art von Maskerade, die auf die Länge in keiner Hinsicht wohlthun kann, vielmehr auf den Menschen, der sich damit befaßt, einen nachtheiligen Einfluß haben muß; denn so etwas steht im Widerspruch mit dem lebendigen Tage, in welchen wir gesetzt sind, und wie es aus einer leeren und hohlen Gesinnungs- und Denkungsweise hervorgeht, so wird es darin bestärken. Es mag wohl einer an einem lustigen Winterabend als Türke zur Maskerade gehen, allein was würden wir von einem Menschen halten, der ein ganzes Jahr sich in einer solchen Maske zeigen wollte? Wir würden von ihm denken, daß er entweder schon verrückt sei, oder daß er doch die größte Anlage habe, es sehr bald zu werden.«

Wir fanden Goethes Worte über einen so sehr ins Leben eingreifenden Gegenstand durchaus überzeugend, und da keiner der Anwesenden etwas davon als leisen Vorwurf auf sich selbst beziehen konnte, so fühlten wir ihre Wahrheit in der heitersten Stimmung.

Das Gespräch lenkte sich auf das Theater, und Goethe neckte mich, daß ich am letzten Montag Abend es ihm geopfert. »Er ist nun drei Jahre hier,« sagte er, zu den übrigen gewendet, »und dies ist der erste Abend, wo er mir zuliebe im Theater gefehlt hat; ich muß ihm das hoch anrechnen. Ich hatte ihn eingeladen, und er hatte versprochen zu kommen, aber doch zweifelte ich, daß er Wort halten würde, besonders als es halb sieben schlug und er noch nicht da war. Ja ich hätte mich sogar gefreut, wenn er nicht gekommen wäre; ich hätte doch sagen können: Da ist ein ganz verrückter Mensch, dem das Theater über seine liebsten Freunde geht und der sich durch nichts von seiner hartnäckigen Neigung abwenden läßt. Aber ich habe Sie auch entschädigt! Nicht wahr? Habe ich Ihnen nicht schöne Sachen vorgelegt?« Goethe zielte mit diesen Worten auf die neue Novelle.

Wir sprachen sodann über Schiller's ›Fiesco‹, der am letzten Sonnabend war gegeben worden. »Ich habe das Stück zum ersten Male gesehen,« sagte ich, »und es hat mich nun sehr beschäftigt, ob man nicht die ganz rohen Scenen mildern könnte; allein ich finde, daß sich wenig daran thun läßt, ohne den Character des Ganzen zu verletzen.«

»Sie haben ganz recht, es geht nicht,« erwiederte Goethe, »Schiller hat sehr oft mit mir darüber gesprochen, denn er selbst konnte seine ersten Stücke nicht leiden, und er ließ sie, während wir am Theater waren, nie spielen. Nun fehlte es uns aber an Stücken, und wir hätten gern jene drei gewaltsamen Erstlinge dem Repertoire gewonnen. Es wollte aber nicht gehen, es war alles zu sehr miteinander verwachsen, sodaß Schiller selbst an dem Unternehmen verzweifelte und sich genöthigt sah, seinen Vorsatz aufzugeben und die Stücke zu lassen wie sie waren.«

»Es ist schade darum,« sagte ich; »denn trotz aller Roheiten sind sie mir doch tausendmal lieber als die schwachen, weichen, forcirten und unnatürlichen Stücke einiger unserer neuesten Tragiker. Bei Schiller spricht doch immer ein grandioser Geist und Character.«

»Das wollte ich meinen,« sagte Goethe. »Schiller mochte sich stellen wie er wollte, er konnte gar nichts machen, was nicht immer bei weitem größer herauskam als das Beste dieser Neuern; ja wenn Schiller sich die Nägel beschnitt, war er größer als diese Herren.«

Wir lachten und freuten uns des gewaltigen Gleichnisses. »Aber ich habe doch Personen gekannt,« fuhr Goethe fort, »die sich über die ersten Stücke Schiller's gar nicht zufrieden geben konnten. Eines Sommers in einem Bade ging ich durch einen eingeschlossenen sehr schmalen Weg, der zu einer Mühle führte. Es begegnete mir der Fürst *** [Putiatin], und da in demselben Augenblicke einige mit Mehlsäcken beladene Maulthiere auf uns zukamen, so mußten wir ausweichen und in ein kleines Haus treten. Hier, in einem engen Stübchen, geriethen wir nach Art dieses Fürsten sogleich in tiefe Gespräche über göttliche und menschliche Dinge; wir kamen auch auf Schiller's ›Räuber‹, und der Fürst äußerte sich folgendermaßen: ›Wäre ich Gott gewesen‹, sagte er, ›im Begriff die Welt zu erschaffen, und ich hätte in dem Augenblick vorausgesehen, daß Schiller's ›Räuber‹ darin würden geschrieben werden, ich hätte die Welt nicht erschaffen.‹« Wir mußten lachen. »Was sagen Sie dazu?« sagte Goethe; »das war doch eine Abneigung, die ein wenig weit ging und die man sich kaum erklären konnte.«

»Von dieser Abneigung,« versetzte ich, »haben dagegen unsere jungen Leute, besonders unsere Studenten, gar nichts. Die trefflichsten, reifsten Stücke von Schiller und andern können gegeben werden, und man sieht von jungen Leuten und Studirenden wenige oder gar keine im Theater; aber man gebe Schiller's ›Räuber‹ oder Schiller's ›Fiesco‹, und das Haus ist fast allein von Studenten gefüllt.« – »Das war,« versetzte Goethe, »vor funfzig Jahren wie jetzt und wird wahrscheinlich nach funfzig Jahren nicht anders sein. Was ein junger Mensch geschrieben hat, wird auch wieder am besten von jungen Leuten genossen werden. Und dann denke man nicht, daß die Welt so sehr in der Cultur und gutem Geschmack vorschritte, daß selbst die Jugend schon über eine solche rohere Epoche hinaus wäre! Wenn auch die Welt im ganzen vorschreitet, die Jugend muß doch immer wieder von vorn anfangen und als Individuum die Epochen der Weltcultur durchmachen. Mich irritirt das nicht mehr, und ich habe längst einen Vers darauf gemacht, der so lautet:

Johannisfeuer sei unverwehrt,
Die Freude nie verloren!
Besen werden immer stumpf gekehrt
Und Jungens immer geboren.

Ich brauche nur zum Fenster hinauszusehen, um in straßenkehrenden Besen und herumlaufenden Kindern die Symbole der sich ewig abnutzenden und immer sich verjüngenden Welt beständig vor Augen zu haben. Kinderspiele und Jugendvergnügungen erhalten sich daher und pflanzen sich von Jahrhundert zu Jahrhundert fort; denn so absurd sie auch einem reifern Alter erscheinen mögen, Kinder bleiben doch immer Kinder und sind sich zu allen Zeiten ähnlich. Deshalb soll man auch die Johan nisfeuer nicht verbieten und den lieben Kindern die Freude daran nicht verderben.«

Unter solchen und ähnlichen heitern Unterhaltungen gingen die Stunden des Tisches schnell vorüber. Wir jüngern Leute gingen sodann hinauf in die obern Zimmer, während der Kanzler bei Goethe blieb.




1827, 18. Januar. 
Mit Johann Peter Eckermann


Auf diesen Abend hatte Goethe mir den Schluß der Novelle versprochen. Ich ging halb sieben Uhr zu ihm und fand ihn in seiner traulichen Arbeitsstube allein. Ich setzte mich zu ihm an den Tisch, und nachdem wir die nächsten Tagesereignisse besprochen hatten, stand Goethe auf und gab mir die erwünschten letzten Bogen. »Da lesen Sie den Schluß,« sagte er. Ich begann. Goethe ging derweile im Zimmer auf und ab und stand abwechselnd am Ofen. Ich las wie gewöhnlich leise für mich.Nicht ohne Rührung hatte ich die Handlung des Schlusses lesen können. Doch wußte ich nicht, was ich sagen sollte, ich war überrascht, aber nicht befriedigt. Es war mir als wäre der Ausgang zu einsam, zu ideal, zu lyrisch, und als hätten wenigstens einige der übrigen Figuren wieder hervortreten und, das Ganze abschließend, dem Ende mehr Breite geben sollen.

Goethe merkte, daß ich einen Zweifel im Herzen hatte, und suchte mich ins Gleiche zu bringen. »Hätte ich,« sagte er, »einige der übrigen Figuren am Ende wieder hervortreten lassen, so wäre der Schluß prosaisch geworden. Und was sollten sie handeln und sagen, da alles abgethan war? Der Fürst mit den Seinigen ist in die Stadt geritten, wo seine Hilfe nöthig sein wird; Honorio, sobald er hört, daß der Löwe oben in Sicherheit ist, wird mit seinen Jägern folgen; der Mann aber wird sehr bald mit dem eisernen Käfig aus der Stadt da sein und den Löwen darin zurückführen. Dieses sind alles Dinge, die man voraus sieht und die deshalb nicht gesagt und ausgeführt werden müssen. Thäte man es, so würde man prosaisch werden.

Aber ein ideeller, ja lyrischer Schluß war nöthig und mußte folgen; denn nach der pathetischen Rede des Mannes, die schon poetische Prosa ist, mußte eine Steigerung kommen, ich mußte zur lyrischen Poesie, ja zum Liede selbst übergehen.

Um für den Gang dieser Novelle ein Gleichniß zu haben,« fuhr Goethe fort, »so denken Sie sich aus der Wurzel hervorschießend ein grünes Gewächs, das eine Weile aus einem starken Stengel kräftige grüne Blätter nach den Seiten austreibt und zuletzt mit einer Blume endet. Die Blume war unerwartet, überraschend, aber sie mußte kommen; ja das grüne Blätterwerk war nur für sie da und wäre ohne sie nicht der Mühe werth gewesen.«

Bei diesen Worten athmete ich leicht auf, es fiel mir wie Schuppen vom Auge, und eine Ahnung von der Trefflichkeit dieser wunderbaren Composition fing an sich in mir zu regen. Goethe fuhr fort: »Zu zeigen, wie das Unbändige, Unüberwindliche oft besser durch Liebe und Frömmigkeit als durch Gewalt bezwungen werde, war die Aufgabe dieser Novelle, und dieses schöne Ziel, welches sich im Kinde und Löwen darstellt, reizte mich zur Ausführung. Dies ist das Ideelle, dies die Blume. Und das grüne Blätterwerk der durchaus realen Exposition ist nur dieserwegen da und nur dieserwegen etwas werth. Denn was soll das Reale an sich? Wir haben Freude daran, wenn es mit Wahrheit dargestellt ist, ja es kann uns auch von gewissen Dingen eine deutlichere Erkenntniß geben; aber der eigentliche Gewinn für unsere höhere Natur liegt doch allein im Idealen, das aus dem Herzen des Dichters hervorging.«

Wie sehr Goethe recht hatte, empfand ich lebhaft, da der Schluß seiner Novelle noch in mir fortwirkte und eine Stimmung von Frömmigkeit in mir hervorgebracht hatte, wie ich sie lange nicht in dem Grade empfunden. Wie rein und innig, dachte ich bei mir selbst, müssen doch in einem so hohen Alter noch die Gefühle des Dichters sein, daß er etwas so Schönes hat machen können! Ich enthielt mich nicht, mich darüber gegen Goethe auszusprechen, sowie überhaupt mich zu freuen, daß diese in ihrer Art einzige Production doch nun existire.

»Es ist mir lieb,« sagte Goethe, »wenn Sie zufrieden sind, und ich freue mich nun selbst, daß ich einen Gegenstand, den ich seit dreißig Jahren in mir herumgetragen, nun endlich los bin. Schiller und Humboldt, denen ich damals mein Vorhaben mittheilte, riethen mir ab, weil sie nicht wissen konnten, was in der Sache lag, und weil nur der Dichter allein weiß, welche Reize er seinem Gegenstande zu geben fähig ist. Man soll daher nie jemand fragen, wenn man etwas schreiben will. Hätte Schiller mich vor seinem ›Wallenstein‹ gefragt, ob er ihn schreiben solle, ich hätte ihm sicherlich abgerathen; denn ich hätte nie denken können, daß aus solchem Gegenstande überall ein so treffliches Theaterstück wäre zu machen gewesen. Schiller war gegen eine Behandlung meines Gegenstandes in Hexametern, wie ich es damals gleich nach ›Hermann und Dorothea‹ willens war; er rieth zu den achtzeiligen Stanzen. Sie sehen aber wohl, daß ich mit der Prosa letzt am besten gefahren bin. Denn es kam sehr auf genaue Zeichnung der Localität an, wobei man doch in solchen Reimen wäre genirt gewesen. Und dann ließ sich auch der anfänglich ganz reale und am Schluß ganz ideelle Character der Novelle in Prosa am besten geben, sowie sich auch die Liederchen jetzt gar hübsch ausnehmen, welches doch so wenig in Hexametern als in den achtzeiligen Reimen möglich gewesen wäre.«

Die übrigen einzelnen Erzählungen und Novellen der ›Wanderjahre‹ kamen zur Sprache, und es ward bemerkt, daß jede sich von der andern durch einen besondern Character und Ton unterscheide.

»Woher dieses entstanden,« sagte Goethe, »will ich Ihnen erklären. Ich ging dabei zu Werke wie ein Maler, der bei gewissen Gegenständen gewisse Farben vermeidet und gewisse andere dagegen vorwalten läßt. Er wird z.B. bei einer Morgenlandschaft viel Blau auf seine Palette setzen, aber wenig Gelb. Malt er dagegen einen Abend, so wird er viel Gelb nehmen und die blaue Farbe fast ganz fehlen lassen. Auf eine ähnliche Weise verfuhr ich bei meinen verschiedenartigen schriftstellerischen Productionen, und wenn man ihnen einen verschiedenen Character zugesteht, so mag es daher rühren.«

Ich dachte bei mir, daß dies eine höchst kluge Maxime sei, und freute mich, daß Goethe sie ausgesprochen.

Sodann hatte ich, vorzüglich bei dieser letzten Novelle, noch das Detail zu bewundern, womit besonders das Landschaftliche dargestellt war.

»Ich habe,« sagte Goethe, »niemals die Natur poetischer Zwecke wegen betrachtet. Aber weil mein früheres Landschaftszeichnen und dann mein späteres Naturforschen mich zu einem beständigen genauen Ansehen der natürlichen Gegenstände trieb, so habe ich die Natur bis in ihre kleinsten Details nach und nach auswendig gelernt, dergestalt, daß, wenn ich als Poet etwas brauche, es mir zu Gebote steht und ich nicht leicht gegen die Wahrheit fehle. In Schillern lag dieses Naturbetrachten nicht. Was in seinem ›Tell‹ von schweizer Localität ist, habe ich ihm alles erzählt; aber er war ein so bewundernswürdiger Geist, daß er selbst nach solchen Erzählungen etwas machen konnte, das Realität hatte.«

Das Gespräch lenkte sich nun ganz auf Schiller, und Goethe fuhr folgendermaßen fort:

»Schiller's eigentliche Productivität lag im Idealen, und es läßt sich sagen, daß er so wenig in der deutschen als einer andern Literatur seinesgleichen hat. Von Lord Byron hat er noch das meiste; doch dieser ist ihm an Welt überlegen. Ich hätte gern gesehen, daß Schiller den Lord Byron erlebt hätte, und da hätt' es mich wundern sollen, was er zu einem so verwandten Geiste würde gesagt haben. Ob wohl Byron bei Schiller's Leben schon etwas publicirt hat?«Ich zweifelte, konnte es aber nicht mit Gewißheit sagen. Goethe nahm daher das ›Conversations-Lexicon‹ und las den Artikel über Byron vor, wobei er nicht fehlen ließ, manche flüchtige Bemerkung einzuschalten.

Es fand sich, daß Lord Byron vor 1807 nichts hatte drucken lassen, und daß also Schiller nichts von ihm gesehen.

»Durch alle Werke Schiller's,« fuhr Goethe fort, »geht die Idee von Freiheit, und diese Idee nahm eine andere Gestalt an, sowie Schiller in seiner Cultur weiter ging und selbst ein anderer wurde. In seiner Jugend war es die physische Freiheit, die ihm zu schaffen machte und die in seine Dichtungen überging, in seinem spätern Leben die ideelle.

Es ist mit der Freiheit ein wunderlich Ding, und jeder hat leicht genug, wenn er sich nur zu begnügen und zu finden weiß. Und was hilft uns ein Überfluß von Freiheit, die wir nicht gebrauchen können! Sehen Sie dieses Zimmer und diese angrenzende Kammer, in der Sie durch die offene Thür mein Bette sehen, beide sind nicht groß, sie sind ohnedies durch vielerlei Bedarf, Bücher, Manuscripte und Kunstsachen eingeengt, aber sie sind mir genug, ich habe den ganzen Winter darin gewohnt und meine vordern Zimmer fast nicht betreten. Was habe ich nun von meinem geräumigen Hause gehabt und von der Freiheit, von einem Zimmer ins andere zu gehen, da ich nicht das Bedürfniß hatte, sie zu benutzen!

Hat einer nur so viel Freiheit, um gesund zu leben und sein Gewerbe zu treiben, so hat er genug, und so viel hat leicht ein jeder. Und dann sind wir alle nur frei unter gewissen Bedingungen, die wir erfüllen müssen. Der Bürger ist so frei wie der Adelige, sobald er sich in den Grenzen hält, die ihm von Gott durch seinen Stand, worin er geboren, angewiesen. Der Adelige ist so frei wie der Fürst; denn wenn er bei Hofe nur das wenige Ceremoniell beobachtet, so darf er sich als seinesgleichen fühlen. Nicht das macht frei, daß wir nichts über uns anerkennen wollen, sondern eben, daß wir etwas verehren, das über uns ist; denn indem wir es verehren, heben wir uns zu ihm hinauf und legen durch unsere Anerkennung an den Tag, daß wir selber das Höhere in uns tragen und werth sind, seinesgleichen zu sein. Ich bin bei meinen Reisen oft auf norddeutsche Kaufleute gestoßen, welche glaubten meinesgleichen zu sein, wenn sie sich roh zu mir an den Tisch setzten. Dadurch waren sie es nicht; allein sie wären es gewesen, wenn sie mich hätten zu schätzen und zu behandeln gewußt.

Daß nun diese physische Freiheit Schillern in seiner Jugend so viel zu schaffen machte, lag zwar theils in der Natur seines Geistes, größerntheils aber schrieb es sich von dem Drucke her, den er in der Militärschule hatte leiden müssen.

Dann aber in seinem reifern Leben, wo er der physischen Freiheit genug hatte, ging er zur ideellen über, und ich möchte fast sagen, daß diese Idee ihn getödtet hat; denn er machte dadurch Anforderungen an seine physische Natur, die für seine Kräfte zu gewaltsam waren.

Der Großherzog bestimmte Schillern bei seiner Hierherkunft einen Gehalt von jährlich tausend Thalern und erbot sich, ihm das Doppelte zu geben, im Fall er durch Krankheit verhindert sein sollte zu arbeiten. Schiller lehnte dieses letzte Anerbieten ab und machte nie davon Gebrauch. ›Ich habe das Talent‹, sagte er, ›und muß mir selber helfen können.‹ Nun aber, bei seiner vergrößerten Familie in den letzten Jahren, mußte er der Existenz wegen jährlich zwei Stücke schreiben, und um dieses zu vollbringen, trieb er sich, auch an solchen Tagen und Wochen zu arbeiten, in denen er nicht wohl war; sein Talent sollte ihm zu jeder Stunde gehorchen und zu Gebote stehen.

Schiller hat nie viel getrunken, er war sehr mäßig; aber in solchen Augenblicken körperlicher Schwäche suchte er seine Kräfte durch etwas Liqueur oder ähnliches Spirituoses zu steigern. Dies aber zehrte an seiner Gesundheit und war auch den Productionen selbst schädlich; denn was gescheite Köpfe an seinen Sachen aussetzen, leite ich aus dieser Quelle her. Alle solche Stellen, von denen sie sagen, daß sie nicht just sind, möchte ich pathologische Stellen nennen, indem er sie nämlich an solchen Tagen geschrieben hat, wo es ihm an Kräften fehlte, um die rechten und wahren Motive zu finden. Ich habe vor dem kategorischen Imperativ allen Respect, ich weiß wie viel Gutes aus ihm hervorgehen kann, allein man muß es damit nicht zu weit treiben, denn sonst führt diese Idee der ideellen Freiheit sicher zu nichts Gutem.«

Unter diesen interessanten Äußerungen und ähnlichen Gesprächen über Lord Byron und berühmte deutsche Literatoren, von denen Schiller gesagt, daß Kotzebue ihm lieber, weil er doch etwas hervorbringe, waren die Abendstunden schnell vorübergegangen, und Goethe gab mir die Novelle mit, um sie für mich zu Hause nochmals in der Stille zu betrachten.



1827, 21. Januar. 
Mit Johann Peter Eckermann 



Ich ging diesen Abend halb acht zu Goethe und blieb ein Stündchen bei ihm. Er zeigte mir einen Band neuer französischer Gedichte der Demoiselle Gay und sprach darüber mit großem Lobe. »Die Franzosen,« sagte er, »machen sich heraus, und es ist der Mühe werth, daß man sich nach ihnen umsieht. Ich bin mit Fleiß darüber her, mir von dem Stande der neuesten französischen Literatur einen Begriff zu machen und, wenn es glückt, mich auch darüber auszusprechen. Es ist mir höchst interessant zu sehen, daß diejenigen Elemente bei ihnen erst anfangen zu wirken, die bei uns längst durchgegangen sind. Das mittlere Talent ist freilich immer in der Zeit befangen und muß sich aus denjenigen Elementen nähren, die in ihr liegen. Es ist bei ihnen bis auf die neueste Frömmigkeit alles dasselbige wie bei uns, nur daß es bei ihnen ein wenig galanter und geistreicher zum Vorschein kommt.«

»Was sagen aber Euer Excellenz zu Béranger und dem Verfasser der Stücke der Clara Gazul? [Mérimée]«

»Diese nehme ich aus,« sagte Goethe, »das sind große Talente, die ein Fundament in sich selber haben und sich von der Gesinnungsweise des Tages frei erhalten.« – »Dieses zu hören ist mir sehr lieb,« sagte ich, »denn ich hatte über diese beiden ungefähr dieselbige Empfindung.«

Das Gespräch wendete sich von der französischen Literatur auf die deutsche. »Da will ich Ihnen doch etwas zeigen,« sagte Goethe, »das für Sie Interesse haben wird. Reichen Sie mir doch einen der Bände, die vor Ihnen liegen. Solger ist Ihnen bekannt?« – »Allerdings,« sagte ich, »ich habe ihn sogar lieb. Ich besitze seine Übersetzung des Sophokles, und sowohl diese als die Vorrede dazu gaben mir längst von ihm eine hohe Meinung.« – »Sie wissen, er ist vor mehrern Jahren gestorben,« sagte Goethe, »und man hat jetzt eine Sammlung seiner nachgelassenen Schriften und Briefe herausgegeben. In seinen philosophischen Untersuchungen, die er in der Form der platonischen Dialoge giebt, ist er nicht so glücklich, aber seine Briefe sind vortrefflich. In einem derselben schreibt er an Tieck über die ›Wahlverwandtschaften‹, und diesen muß ich Ihnen vorlesen, denn es ist nicht leicht etwas Besseres über jenen Roman gesagt worden.«

Goethe las mir die treffliche Abhandlung vor, und wir besprachen sie punktweise, indem wir die von einem großen Character zeugenden Ansichten und die Consequenz seiner Ableitungen und Folgerungen bewunderten. Obgleich Solger zugestand, daß das Factum in den ›Wahlverwandtschaften‹ aus der Natur aller Charactere hervorgehe, so tadelte er doch den Character des Eduard.

»Ich kann ihm nicht verdenken,« sagte Goethe, »daß er den Eduard nicht leiden mag, ich mag ihn selber nicht leiden, aber ich mußte ihn so machen, um das Factum hervorzubringen. Er hat übrigens viele Wahrheit; denn man findet in den höhern Ständen Leute genug, bei denen ganz wie bei ihm der Eigensinn an die Stelle des Characters tritt.«

Hoch vor allen stellte Solger den Architekten; denn wenn alle übrigen Personen des Romans sich liebend und schwach zeigten, so sei er der einzige, der sich stark und frei erhalte. Und eben das Schöne an seiner Natur sei nicht sowohl dieses, daß er in die Verirrungen der übrigen Charactere nicht hineingerathe, sondern daß der Dichter ihn so groß gemacht, daß er nicht hineingerathen könne.

Wir freuten uns über dieses Wort. »Das ist freilich sehr schön,« sagte Goethe. – »Ich habe,« sagte ich, »den Character des Architekten auch immer sehr bedeutend und liebenswürdig gefunden, allein daß er eben deswegen so vortrefflich sei, daß er vermöge seiner Natur in jene Verwickelungen der Liebe nicht hineingerathen könne, daran habe ich freilich nicht gedacht.« -»Wundern Sie sich darum nicht,« sagte Goethe; »denn ich habe selber nicht daran gedacht, als ich ihn machte. Aber Solger hat recht, es liegt allerdings in ihm.

Dieser Aufsatz,« fuhr Goethe fort, »ist schon im Jahre 1809 geschrieben, und es hätte mich damals freuen können, ein so gutes Wort über die ›Wahlverwandtschaften‹ zu hören, während man in jener Zeit und später mir eben nicht viel Angenehmes über jenen Roman erzeigte.

Solger hat, wie ich aus diesen Briefen sehe, viel Liebe zu mir gehabt; er beklagt sich in einem derselben, daß ich ihm auf den ›Sophokles‹, den er mir zugesendet, nicht einmal geantwortet. Lieber Gott – aber wie das bei mir geht! Es ist nicht zu verwundern. Ich habe große Herren gekannt, denen man viel zusendete. Diese machten sich gewisse Formulare und Redensarten, womit sie jedes erwiederten, und so schrieben sie Briefe zu Hunderten, die sich alle gleich und alle Phrase waren. In mir aber lag dieses nie. Wenn ich nicht jemand etwas Besonderes und Gehöriges sagen konnte, wie es in der jedesmaligen Sache lag, so schrieb ich lieber gar nicht. Oberflächliche Redensarten hielt ich für unwürdig, und so ist es denn gekommen, daß ich manchem wackern Manne, dem ich gern geschrieben hätte, nicht antworten konnte. Sie sehen ja selbst, wie das bei mir geht und welche Zusendungen von allen Ecken und Enden täglich bei mir einlaufen, und müssen gestehen, daß dazu mehr als ein Menschenleben gehören würde, wenn man alles nur flüchtig erwiedern wollte. Aber um Solger thut es mir leid; er ist gar zu vortrefflich und hätte vor vielen andern etwas Freundliches verdient.«

Ich brachte das Gespräch auf die Novelle, die ich nun zu Hause wiederholt gelesen und betrachtet hatte. »Der ganze Anfang,« sagte ich, »ist nichts als Exposition, aber es ist darin nichts vorgeführt als da Nothwendige, und das Nothwendige mit Anmuth, sodaß man nicht glaubt, es sei eines Andern wegen da, sondern es wolle bloß für sich selber sein und für sich selber gelten.«

»Es ist mir lieb,« sagte Goethe, »wenn Sie dieses so finden. Doch eins muß ich noch thun. Nach den Gesetzen einer guten Exposition nämlich muß ich die Besitzer der Thiere schon vorn austreten lassen. Wenn die Fürstin und der Oheim an der Bude vorbeireiten, müssen die Leute heraustreten und die Fürstin bitten, auch ihre Bude mit einem Besuch zu beglücken.« – »Gewiß,« sagte ich, »Sie haben recht; denn da alles übrige in der Exposition angedeutet ist, so müssen es auch diese Leute werden, und es liegt ganz in der Sache, da sie sich gewöhnlich an der Casse aufhalten, daß die Fürstin nicht so unangefochten werden vorbeireiten lassen.« – »Sie sehen,« sagte Goethe, »daß man an einer solchen Arbeit, wenn sie auch schon im ganzen fertig daliegt, im einzelnen noch immer zu thun hat.«

Goethe erzählte mir sodann von einem Ausländer, der in dieser Zeit ihn hin und wieder besucht und davon gesprochen, wie er dieses und jenes von seinen Werken übersetzen wolle. »Er ist ein guter Mensch,« sagte Goethe, »doch in literarischer Hinsicht bezeigt er sich als ein wahrer Dilettant; denn er kann noch kein Deutsch und spricht schon von Übersetzungen, die er machen, und von Portraits, die er machen will vordrucken lassen. Das ist aber eben das Wesen der Dilettanten, daß sie die Schwierigkeiten nicht kennen, die in einer Sache liegen, und daß sie immer etwas unternehmen wollen, wozu sie keine Kräfte haben.«.



1827, 29. Januar. 
Mit Johann Peter Eckermann
und Friedrich Soret 



Begleitet von dem Manuscript der Novelle und einer Ausgabe des Béranger ging ich gegen sieben Uhr zu Goethe. Ich fand Herrn Soret bei ihm in Gesprächen über die neue französische Literatur. Ich hörte mit Interesse zu, und es kam zur Sprache, daß die neuesten Talente hinsichtlich guter Verse sehr viel von Delille gelernt. Da Herrn Soret, als einem geborenen Genfer, das Deutsche nicht ganz geläufig war, Goethe aber im Französischen sich ziemlich bequem ausdrückt, so ging die Unterhaltung französisch und nur an solchen Stellen deutsch, wo ich mich in das Gespräch mischte. Ich zog den Béranger aus der Tasche und überreichte ihn Goethe, der diese trefflichen Lieder von neuem zu lesen wünschte. Das den Gedichten vorstehende Portrait fand Herr Soret nicht ähnlich. Goethe freute sich, die zierliche Ausgabe in Händen zu halten. »Diese Lieder,« sagte er, »sind vollkommen und als das Beste in ihrer Art anzusehen, besonders wenn man sich das Gejodel des Refrains hinzudenkt, denn sonst sind sie als Lieder fast zu ernst, zu geistreich, zu epigrammatisch. Ich werde durch Béranger immer an den Horaz und Hafis erinnert, die beide auch über ihrer Zeit standen und die Sittenverderbniß spottend und spielend zur Sprache brachten. Béranger hat zu seiner Umgebung dieselbige Stellung. Weil er aber aus niederm Stande heraufgekommen, so ist ihm das Liederliche und Gemeine nicht allzu verhaßt, und er behandelt es noch mit einer gewissen Neigung.«Viel Ähnliches ward noch über Béranger und andere neuere Franzosen hin- und hergesprochen, bis Herr Soret an den Hof ging und ich mit Goethe allein blieb.

Ein versiegeltes Paket lag auf dem Tische. Goethe legte seine Hand darauf. »Was ist das?« sagte er. »Es ist die ›Helena‹, die an Cotta zum Druck abgeht.« Ich empfand bei diesen Worten mehr als ich sagen konnte, ich fühlte die Bedeutung des Augenblicks; denn wie bei einem neuerbauten Schiff, das zuerst in die See geht und wovon man nicht weiß, welche Schicksale es erleben wird, so ist es auch mit dem Gedankenwerk eines großen Meisters, das zuerst in die Welt hinaustritt, um für viele Zeiten zu wirken und mannigfaltige Schicksale zu erzeugen und zu erleben.

»Ich habe,« sagte Goethe, »bis jetzt immer noch Kleinigkeiten daran zu thun und nachzuhelfen gesunden. Endlich aber muß es genug sein, und ich bin nun froh, daß es zur Post geht und ich mich mit befreiter Seele zu etwas anderm wenden kann. Es mag nun seine Schicksale erleben! Was mich tröstet, ist, daß die Cultur in Deutschland doch jetzt unglaublich hoch steht und man also nicht zu fürchten hat, daß eine solche Production lange unverstanden und ohne Wirkung bleiben werde.«

»Es steckt ein ganzes Alterthum darin,« sagte ich. – »Ja,« sagte Goethe, »die Philologen werden daran zu thun finden.« – »Für den antiken Theil,« sagte ich, »fürchte ich nicht; denn es ist da das große Detail, die gründlichste Entfaltung des Einzelnen, wo jedes geradezu das sagt, was es sagen soll. Allein der moderne, romantische Theil ist sehr schwer; denn eine halbe Weltgeschichte steckt dahinter; die Behandlung ist bei so großem Stoff nur andeutend und macht sehr große Ansprüche an den Leser.« – »Aber doch,« sagte Goethe, »ist alles sinnlich und wird, auf dem Theater gedacht, jedem gut in die Augen fallen. Und mehr habe ich nicht gewollt. Wenn es nur so ist, daß die Menge der Zuschauer Freude an der Erscheinung hat; dem Ein geweihten wird zugleich der höhere Sinn nicht entgehen, wie es ja auch bei der ›Zauberflöte‹ und andern Dingen der Fall ist.«

»Es wird,« sagte ich, »auf der Bühne einen ungewohnten Eindruck machen, daß ein Stück als Tragödie anfängt und als Oper endigt. Doch es gehört etwas dazu, die Großheit dieser Personen darzustellen und die erhabenen Reden und Verse zu sprechen.« – »Der erste Theil,« sagte Goethe, »erfordert die ersten Künstler der Tragödie, sowie nachher im Theile der Oper die Rollen mit den ersten Sängern und Sängerinnen besetzt werden müssen. Die Rolle der Helena kann nicht von einer, sondern sie muß von zwei großen Künstlerinnen gespielt werden; denn es ist ein seltener Fall, daß eine Sängerin zugleich als tragische Künstlerin von hinlänglicher Bedeutung ist.«

»Das Ganze,« sagte ich, »wird zu großer Pracht und Mannigfaltigkeit in Decorationen und Garderobe Anlaß geben, und ich kann nicht leugnen, ich freue mich darauf, es auf der Bühne zu sehen. Wenn nur ein recht großer Componist sich daran machte!« – »Es müßte einer sein,« sagte Goethe, »der wie Meyerbeer lange in Italien gelebt hat, sodaß er seine deutsche Natur mit der italienischen Art und Weise verbände. Doch das wird sich schon finden, und ich habe keinen Zweifel; ich freue mich nur, daß ich es los bin. Auf den Gedanken, daß der Chor nicht wieder in die Unterwelt hinab will, sondern auf der heitern Oberfläche der Erde sich den Elementen zuwirft, thue ich mir wirklich etwas zu gute.« – »Es ist eine neue Art von Unsterblichkeit,« sagte ich.

»Nun,« fuhr Goethe fort, »wie steht es mit der Novelle?« – »Ich habe sie mitgebracht,« sagte ich. »Nachdem ich sie nochmals gelesen, finde ich, daß Euer Excellenz die intendirte Änderung nicht machen dürfen. Es thut gar gute Wirkung, wenn die Leute beim getödteten Tiger zuerst als durchaus fremde neue Wesen mit ihren abweichenden wunderlichen Kleidungen und Manieren hervortreten und sich als Besitzer der Thiere ankündigen. Brächten Sie sie aber schon früher, in der Exposition, so würde diese Wirkung gänzlich geschwächt, ja vernichtet werden.«

»Sie haben recht,« sagte Goethe, »ich muß es lassen wie es ist. Ohne Frage, Sie haben ganz recht. Es muß auch beim ersten Entwurf in mir gelegen haben, die Leute nicht früher zu bringen, eben weil ich sie ausgelassen. Diese intendirte Änderung war eine Forderung des Verstandes, und ich wäre dadurch bald zu einem Fehler verleitet worden. Es ist aber dieses ein merkwürdiger ästhetischer Fall, daß man von einer Regel abweichen muß, um keinen Fehler zu begehen.«

Es kam sodann zur Sprache, welchen Titel man der Novelle geben solle; wir thaten manche Vorschläge, einige waren gut für den Anfang, andere gut für das Ende, doch fand sich keiner, der für das Ganze passend und also der rechte gewesen wäre. »Wissen Sie was,« sagte Goethe, »wir wollen es die ›Novelle‹ nennen; denn was ist eine Novelle anders als eine sich er eig nete unerhörte Begebenheit. Dies ist der eigentliche Begriff, und so vieles, was in Deutschland unter dem Titel Novelle geht, ist gar keine Novelle, sondern bloß Erzählung oder was Sie sonst wollen. In jenem ursprünglichen Sinne einer unerhörten Begebenheit kommt auch die Novelle in den ›Wahlverwandtschaften‹ vor.«

»Wenn man es recht bedenkt,« sagte ich, »so entsteht doch ein Gedicht immer ohne Titel und ist ohne Titel das was es ist, sodaß man also glauben sollte, der Titel gehöre gar nicht zur Sache.« – »Er gehört auch nicht dazu,« sagte Goethe; »die alten Gedichte hatten gar keine Titel, es ist dies ein Gebrauch der Neuern, von denen auch die Gedichte der Alten erst in einer spätern Zeit Titel erhalten haben. Doch dieser Gebrauch ist von der Nothwendigkeit herbeigeführt, bei einer ausgebreiteten Literatur die Sachen zu nennen und von einander zu unterscheiden. Hier,« sagte Goethe, »haben Sie etwas Neues; lesen Sie!« Mit diesen Worten reichte er mir eine Übersetzung eines serbischen Gedichts von Herrn Gerhard. Ich las mit großem Vergnügen, denn das Gedicht war sehr schön und die Übersetzung so einfach und klar, daß man im Anschauen des Gegenstandes nie gestört wurde. Das Gedicht führte den Titel: ›Die Gefängnisschlüssel‹1 . Ich sage hier nichts von dem Gang der Handlung; der Schluß indes kam mir abgerissen und ein wenig unbefriedigend vor.

»Das ist,« sagte Goethe, »eben das Schöne; denn dadurch läßt es einen Stachel im Herzen zurück, und die Phantasie des Lesers ist angeregt, sich selbst alle Möglichkeiten auszubilden, die nun folgen können. Der Schluß hinterläßt den Stoff zu einem ganzen Trauerspiele, allein er ist von der Art, wie schon vieles dagewesen ist. Dagegen das im Gedicht Dargestellte ist das eigentlich Neue und Schöne, und der Dichter verfuhr sehr weise, daß er nur dieses ausbildete und das andere dem Leser überließ. Ich theilte das Gedicht gern in ›Kunst und Alterthum‹ mit, allein es ist zu lang; dagegen habe ich mir diese drei gereimten von Gerhard ausgebeten, die ich im nächsten Heft werde abdrucken lassen. Was sagen Sie zu diesem? Hören Sie.«

Goethe las nun zuerst das Lied vom Alten, der ein junges Mädchen liebt, sodann das Trinklied der Weiber, und zuletzt das energische: ›Tanz' uns vor, Theodor‹2 . Jedes las er in einem andern Tone und andern Schwunge, vortrefflich, sodaß man nicht leicht etwas Vollkommneres hören konnte.

Wir mußten Herrn Gerhard loben, daß er die jedesmaligen Versarten und Refrains durchaus glücklich und im Character gewählt und alles leicht und vollkommen ausgeführt hatte, sodaß man nicht wußte wie er es hätte besser machen sollen. »Da sieht man,« sagte Goethe, »was bei einem solchen Talent wie Gerhard die große technische Übung thut. Und dann kommt ihm zugute, daß er kein eigentlich gelehrtes Metier, sondern ein solches treibt, das ihn täglich aufs praktische Leben weist. Auch hat er die vielen Reisen in England und andern Ländern gemacht, wodurch er denn bei seinem auf das Reale gehenden Sinn über unsere gelehrten jungen Dichter manche Avantagen hat. Wenn er sich immer an gute Überlieferungen hält und nur diese bearbeitet, so wird er nicht leicht etwas Schlechtes machen. Alle eigenen Erfindungen dagegen erfordern sehr viel und sind eine schwere Sache.«

Hieran knüpften sich manche Betrachtungen über die Productionen unserer neuesten jungen Dichter, und es ward bemerkt, daß fast keiner von ihnen mit einer guten Prosa aufgetreten.

»Die Sache ist sehr einfach,« sagte Goethe. »Um Prosa zu schreiben, muß man etwas zu sagen haben; wer aber nichts zu sagen hat, der kann doch Verse und Reime machen, wo denn ein Wort das andere giebt und zuletzt etwas herauskommt, das zwar nichts ist, aber doch aussieht als wäre es was.«

gemacht, wodurch er denn bei seinem auf das Reale gehenden Sinn über unsere gelehrten jungen Dichter manche Avantagen hat. Wenn er sich immer an gute Überlieferungen hält und nur diese bearbeitet, so wird er nicht leicht etwas Schlechtes machen. Alle eigenen Erfindungen dagegen erfordern sehr viel und sind eine schwere Sache.«

Hieran knüpften sich manche Betrachtungen über die Productionen unserer neuesten jungen Dichter, und es ward bemerkt, daß fast keiner von ihnen mit einer guten Prosa aufgetreten.

»Die Sache ist sehr einfach,« sagte Goethe. »Um Prosa zu schreiben, muß man etwas zu sagen haben; wer aber nichts zu sagen hat, der kann doch Verse und Reime machen, wo denn ein Wort das andere giebt und zuletzt etwas herauskommt, das zwar nichts ist, aber doch aussieht als wäre es was.«

1 Genau: Die Kerkerschlüssel.

2 Abgedruckt in ›Kunst u. Alterthum‹ VI, 1.


1827, 31. Januar. 
Mit Johann Peter Eckermann


Bei Goethe zu Tische. »In diesen Tagen, seit ich Sie nicht gesehen,« sagte er, »habe ich vieles und mancherlei gelesen, besonders auch einen chinesischen Roman, [englisch als: Chinese Courtship] der mich noch beschäftigt und der mir im hohen Grade merkwürdig erscheint.« – »Chinesischen Roman?« sagte ich. »Der muß wohl recht fremdartig aussehen.« – »Nicht so sehr als man glauben sollte,« sagte Goethe. »Die Menschen denken, handeln und empfinden fast ebenso wie wir, und man fühlt sich sehr bald als ihresgleichen, nur daß bei ihnen alles klarer, reinlicher und sittlicher zugeht. Es ist bei ihnen alles ver ständig, bürgerlich, ohne große Leidenschaft und poetischen Schwung und hat dadurch viele Ähnlichkeit mit meinem ›Hermann und Dorothea‹ sowie mit den englischen Romanen des Richardson. Es unterscheidet sich aber wieder dadurch, daß bei ihnen die äußere Natur neben den menschlichen Figuren immer mitlebt. Die Goldfische in den Teichen hört man immer plätschern, die Vögel auf den Zweigen fingen immer fort, der Tag ist immer heiter und sonnig, die Nacht immer klar; vom Mond ist viel die Rede, allein er verändert die Landschaft nicht, sein Schein ist so helle gedacht, wie der Tag selber. Und das Innere der Häuser so nett und zierlich wie ihre Bilder. Z.B. ›Ich hörte die lieblichen Mädchen lachen, und als ich sie zu Gesichte bekam, saßen sie auf feinen Rohrstühlen.‹ Da haben Sie gleich die allerliebste Situation, denn Rohrstühle kann man sich gar nicht ohne die größte Leichtigkeit und Zierlichkeit denken. Und nun eine Unzahl von Legenden, die immer in der Erzählung nebenher gehen und gleichsam sprichwörtlich angewendet werden. Z. B. von einem Mädchen, das so leicht und zierlich von Füßen war, daß sie auf einer Blume balancieren konnte, ohne die Blume zu knicken. Und von einem jungen Manne, der sich so sittlich und brav hielt, daß er in seinem dreißigsten Jahre die Ehre hatte, mit dem Kaiser zu reden. Und ferner von Liebespaaren, die in einem langen Umgange sich so enthaltsam bewiesen, daß, als sie einst genöthigt waren eine Nacht in einem Zimmer miteinander zuzubringen, sie in Gesprächen die Stunden durchwachten, ohne sich zu berühren. Und so unzählige von Legenden, die alle auf das Sittliche und Schickliche gehen. Aber eben durch diese strenge Mäßigung in allem hat sich denn auch das chinesische Reich seit Jahrtausenden erhalten und wird dadurch ferner bestehen.

Einen höchst merkwürdigen Gegensatz zu diesem chinesischen Roman,« fuhr Goethe fort, »habe ich an den Liedern von Béranger, denen fast allen ein unsittlicher, liederlicher Stoff zum Grunde liegt und die mir im hohen Grade zuwider sein würden, wenn nicht ein so großes Talent wie Béranger die Gegenstände behandelt hätte, wodurch sie denn erträglich, ja sogar anmuthig werden. Aber sagen Sie selbst, ist es nicht höchst merkwürdig, daß die Stoffe des chinesischen Dichters so durchaus sittlich, und diejenigen des jetzigen ersten Dichters von Frankreich ganz Gegentheil sind?«

»Ein solches Talent wie Béranger,« sagte ich, »würde an sittlichen Stoffen nichts zu thun finden.« – »Sie haben recht,« sagte Goethe; »eben an den Verkehrtheiten der Zeit offenbart und entwickelt Béranger seine bessere Natur.« – »Aber,« sagte ich, »ist denn dieser chinesische Roman vielleicht einer ihrer vorzüglichsten?« – »Keineswegs,« sagte Goethe; »die Chinesen haben deren zu Tausenden und hatten ihrer schon, als unsere Vorfahren noch in den Wäldern lebten.

Ich sehe immer mehr,« fuhr Goethe fort, »daß die Poesie ein Gemeingut der Menschheit ist, und daß sie überall und zu allen Zeiten in Hunderten und aber Hunderten von Menschen hervor tritt. Einer macht es ein wenig besser als der andere und schwimmt ein wenig länger oben als der andere, das ist alles. Der Herr von Matthisson muß daher nicht denken, er wäre es, und ich muß nicht denken, ich wäre es, sondern jeder muß sich eben sagen, daß es mit der poetischen Gabe keine so seltene Sache sei, und daß niemand eben besondere Ursache habe, sich viel darauf einzubilden, wenn er ein gutes Gedicht macht. Aber freilich wenn wir Deutschen nicht aus dem engen Kreise unserer eigenen Umgebung hinausblicken, so kommen wir gar zu leicht in diesen pedantischen Dünkel. Ich sehe mich daher gern bei fremden Nationen um und rathe jedem, es auch seinerseits zu thun. Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen; die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen. Aber auch bei solcher Schätzung des Ausländischen dürfen wir nicht bei etwas Besonderm haften bleiben und dieses für musterhaft ansehen wollen. Wir müssen nicht denken, das Chinesische wäre es, oder das Serbische, oder Calderon, oder die Nibelungen; sondern im Bedürfniß von etwas Musterhaftem müssen wir immer zu den alten Griechen zurückgehen, in deren Werken stets der schöne Mensch dargestellt ist. Alles übrige müssen wir nur historisch betrachten und das Gute, so weit es gehen will, uns daraus aneignen.«

Ich freute mich, Goethe in einer Folge über einen so wichtigen Gegenstand reden zu hören. Das Geklingel vorbeifahrender Schlitten lockte uns zum Fenster; denn wir erwarteten, daß der große Zug, der diesen Morgen nach Belvedere vorbeiging, wieder zurückkommen würde. Goethe setzte indes seine lehrreichen Äußerungen fort. Von Alexander Manzoni war die Rede, und er erzählte mir, daß Graf Reinhard Herrn Manzoni vor nicht langer Zeit in Paris gesehen, wo er als ein junger Autor von Namen in der Gesellschaft wohl aufgenommen gewesen sei, und daß er jetzt wieder in der Nähe von Mailand auf seinem Landgute mit einer jungen Familie und seiner Mutter glücklich lebe.

»Manzoni,« fuhr Goethe fort, »fehlt weiter nichts, als daß er selbst nicht weiß, welch ein guter Poet er ist und welche Rechte ihm als solchem zustehen. Er hat gar zu viel Respect vor der Geschichte und fügt aus diesem Grunde seinen Stücken immer gern einige Auseinandersetzungen hinzu, in denen er nachweist, wie treu er den Einzelheiten der Geschichte geblieben. Nun mögen seine Facta historisch sein, aber seine Charactere sind es doch nicht, so wenig es mein Thoas und meine Iphigenia sind. Kein Dichter hat je die historischen Charactere gekannt, die er darstellte, hätte er sie aber gekannt, so hätte er sie schwerlich so gebrauchen können. Der Dichter muß wissen, welche Wirkungen er hervorbringen will, und danach die Natur seiner Charactere einrichten. Hätte ich den Egmont so machen wollen wie ihn die Geschichte meldet, als Vater von einem Dutzend Kinder, so würde sein leichtsinniges Handeln sehr absurd erschienen sein. Ich mußte also einen andern Egmont haben, wie er besser mit seinen Handlungen und meinen dichterischen Absichten in Harmonie stände; und dies ist, wie Klärchen sagt, mein Egmont.

Und wozu wären denn die Poeten, wenn sie bloß die Geschichte eines Historikers wiederholen wollten! Der Dichter muß weiter gehen und uns womöglich etwas Höheres und Besseres geben. Die Charactere des Sophokles tragen alle etwas von der hohen Seele des großen Dichters, sowie Charactere des Shakespeare von der seinigen. Und so ist es recht, und so soll man es machen. Ja Shakespeare geht noch weiter und macht seine Römer zu Engländern, und zwar wieder mit Recht; denn sonst hätte ihn seine Nation nicht verstanden.

Darin,« fuhr Goethe fort, »waren nun wieder die Griechen groß, daß sie weniger auf die Treue eines historischen Factums gingen, als daraus wie es der Dichter behandelte. Zum Glück haben wir jetzt an den ›Philokteten‹ ein herrliches Beispiel, welches Sujet alle drei großen Tragiker behandelt haben, und Sophokles zuletzt und am besten. Dieses Dichters treffliches Stück ist glücklicherweise ganz auf uns gekommen; dagegen von den ›Philokteten‹ des Äschylus und Euripides hat man Bruchstücke aufgefunden, aus denen hinreichend zu sehen ist, wie sie ihren Gegenstand behandelt haben. Wollte es meine Zeit mir erlauben, so würde ich diese Stücke restauriren, sowie ich es mit dem ›Phaethon‹ des Euripides gethan, und es sollte mir keine unangenehme und unnütze Arbeit sein.

Bei diesem Sujet war die Aufgabe ganz einfach: nämlich den Philoktet nebst dem Bogen von der Insel Lemnos zu holen. Aber die Art, wie dieses geschieht, das war nun die Sache der Dichter, und darin konnte jeder die Kraft seiner Erfindung zeigen und einer es dem andern zuvorthun. Der Ulyß soll ihn holen, aber soll er vom Philoktet erkannt werden oder nicht, und wodurch soll er unkenntlich sein? Soll der Ulyß allein gehen, oder soll er Begleiter haben, und wer soll ihn begleiten? Beim Äschylus ist der Gefährte unbekannt, beim Euripides ist es der Diomed, beim Sophokles der Sohn des Achill. Ferner, in welchem Zustande soll man den Philoktet finden? Soll die Insel bewohnt sein oder nicht, und wenn bewohnt, soll sich eine mitleidige Seele seiner angenommen haben oder nicht? Und so hundert andere Dinge, die alle in der Willkür der Dichter lagen und in deren Wahl oder Nichtwahl der eine vor dem andern seine höhere Weisheit zeigen konnte. Hierin liegt's, und so sollten es die jetzigen Dichter auch machen, und nicht immer fragen, ob ein Sujet schon behandelt worden oder nicht, wo sie denn immer in Süden und Norden nach unerhörten Begebenheiten suchen, die oft barbarisch genug sind, und die dann auch bloß als Begebenheiten wirken. Aber freilich, ein einfaches Sujet durch eine meisterhafte Behandlung zu etwas zu machen, erfordert Geist und großes Talent, und daran fehlt es.«

Vorbeifahrende Schlitten zogen uns wieder ans Fenster; der erwartete Zug von Belvedere war es aber wieder nicht. Wir sprachen und scherzten unbedeutende Dinge hin und her; dann fragte ich Goethe, wie es mit der Novelle stehe.

»Ich habe sie dieser Tage ruhen lassen,« sagte er, »aber eins muß doch noch in der Exposition geschehen. Der Löwe nämlich muß brüllen, wenn die Fürstin an der Bude vorbeireitet; wobei ich denn einige gute Reflexionen über die Furchtbarkeit des gewaltigen Thiers anstellen lassen kann.«

»Dieser Gedanke ist sehr glücklich,« sagte ich; »denn dadurch entsteht eine Exposition, die nicht allein an sich, an ihrer Stelle, gut und nothwendig ist, sondern wodurch auch alles Folgende eine größere Wirkung gewinnt. Bis jetzt erschien der Löwe fast zu sanft, indem er gar keine Spuren von Wildheit zeigte. Dadurch aber, daß er brüllt, läßt er uns wenigstens seine Furchtbarkeit ahnen, und wenn er sodann später sanft der Flöte des Kindes folgt, so wird dieses eine desto größere Wirkung thun.«»Diese Art, zu ändern und zu bessern,« sagte Goethe, »ist nun die rechte, wo man ein noch Unvollkommenes durch fortgesetzte Erfindungen zum Vollendeten steigert. Aber ein Gemachtes immer wieder neu zu machen und weiter zu treiben, wie z.B. Walter Scott mit meiner Mignon gethan, die er außer ihren übrigen Eigenheiten noch taubstumm sein läßt, diese Art, zu ändern, kann ich nicht loben.


1827, 1. Februar.
Mit Johann Peter Eckermann 




Goethe erzählte mir von einem Besuch des Kronprinzen von Preußen in Begleitung des Großherzogs. »Auch die Prinzen Karl und Wilhelm von Preußen,« sagte er, »waren diesen Morgen bei mir. Der Kronprinz blieb mit dem Großherzog gegen drei Stunden, und es kam mancherlei zur Sprache, welches mir von dem Geist, Geschmack, den Kenntnissen und der Denkweise dieses jungen Fürsten eine hohe Meinung gab.«

Goethe hatte einen Band der ›Farbenlehre‹ vor sich liegen. »Ich bin,« sagte er, »Ihnen noch immer eine Antwort wegen des Phänomens der farbigen Schatten schuldig. Da dieses aber vieles voraussetzt und mit vielem andern zusammenhängt, so will ich Ihnen auch heute keine aus dem Ganzen herausgerissene Erklärung geben, vielmehr habe ich gedacht, daß es gut sein würde, wenn wir die Abende, die wir zusammenkommen, die ganze ›Farbenlehre‹ miteinander durchlesen. Dadurch haben wir immer einen soliden Gegenstand der Unterhaltung, und Sie selbst werden sich die ganze Lehre zu eigen machen, sodaß Sie kaum werfen, wie Sie dazu kommen. Das Überlieferte fängt bei Ihnen an zu leben und wieder productiv zu werden, wodurch ich denn voraussehe, daß diese Wissenschaft sehr bald Ihr Eigenthum sein wird. Nun lesen Sie den ersten Abschnitt.«

Mit diesen Worten legte Goethe mir das aufgeschlagene Buch vor. Ich fühlte mich sehr beglückt durch die gute Absicht, die er mit mir hatte. Ich las von den physiologischen Farben die ersten Paragraphen.

»Sie sehen,« Sagte Goethe, »es ist nichts außer uns, was nicht zugleich in uns wäre, und wie die äußere Welt ihre Farben hat, so hat sie auch das Auge. Da es nun bei dieser Wissenschaft ganz vorzüglich auf Scharfe Sonderung des Objectiven vom Subjectiven ankommt, so habe ich billig mit den Farben, die dem Auge gehören, den Anfang gemacht, damit wir bei allen Wahrnehmungen immer wohl unterscheiden, ob die Farbe auch wirklich außer uns existire, oder ob es eine bloße Scheinfarbe sei, die sich das Auge selbst erzeugt hat. Ich denke also, daß ich den Vortrag dieser Wissenschaft beim rechten Ende angefaßt habe, indem ich zunächst das Organ berichtige, durch welches alle Wahrnehmungen und Beobachtungen geschehen müssen.«

Ich las weiter bis zu den interessanten Paragraphen von den geforderten Farben, wo gelehrt wird, daß das Auge das Bedürfniß des Wechsels habe, indem es nie gern bei derselbigen Farbe verweile, sondern sogleich eine andere fordere und zwar so lebhaft, daß es sich solche selbst erzeuge, wenn es sie nicht wirklich vorfinde.

Dieses brachte ein großes Gesetz zur Sprache, das durch die ganze Natur geht und worauf alles Leben und alle Freude des Lebens beruht. »Es ist dieses,« sagte Goethe, »nicht allein mit allen andern Sinnen so sondern auch mit unserm höhern geistigen Wesen; aber weil das Auge ein so vorzüglicher Sinn ist, so tritt dieses Gesetz des geforderten Wechsels so ausfallend bei den Farben hervor und wird uns bei ihnen so vor allen deutlich bewußt. Wir haben Tänze, die uns im hohen Grade wohlgefallen, weil Dur und Moll in ihnen wechselt, wogegen aber Tänze aus bloßem Dur oder bloßem Moll sogleich ermüden.«

»Dasselbe Gesetz,« sagte ich, »scheint einem guten Stil zum Grunde zu liegen, bei welchem wir gern einen Klang vermeiden, der soeben gehört wurde. Auch beim Theater wäre mit diesem Gesetz viel zu machen, wenn man es gut anzuwenden wüßte. Stücke, besonders Trauerspiele, in denen ein einziger Ton ohne Wechsel durchgeht, haben etwas Lästiges und Ermüdendes, und wenn nun das Orchester bei einem traurigen Stück auch in den Zwischenacten traurige, niederschlagende Musik hören läßt, so wird man von einem unerträglichen Gefühl gepeinigt, dein man gern auf alle Weise entfliehen möchte.«

»Vielleicht,« sagte Goethe, »beruhen auch die eingeflochtenen heitern Scenen in den Shakespeare'schen Trauerspielen auf diesem Gesetz des geforderten Wechsels; allein auf die höhere Tragödie der Griechen scheint es nicht anwendbar, vielmehr geht bei dieser ein gewisser Grundton durch das Ganze.«»Die griechische Tragödie,« sagte ich, »ist auch nicht von solcher Länge, daß sie bei einem durchgehenden gleichen Ton ermüden könnte, und dann wechseln auch Chöre und Dialog, und der erhabene Sinn ist von solcher Art, daß er nicht lästig werden kann, indem immer eine gewisse tüchtige Realität zum Grunde liegt, die stets heiterer Natur ist.«

»Sie mögen recht haben,« sagte Goethe, »und es wäre wohl der Mühe werth, zu untersuchen, inwiefern auch die griechische Tragödie dem allgemeinen Gesetze des geforderten Wechsels unterworfen ist. Aber Sie sehen, wie alles aneinanderhängt, und wie sogar ein Gesetz der Farbenlehre auf eine Untersuchung der griechischen Tragödie führen kann. Nur muß man sich hüten, es mit einem solchen Gesetz zu weit treiben und es als Grundlage für vieles andere machen zu wollen, vielmehr geht man sicherer, wenn man es immer nur als ein Analogon, als ein Beispiel gebraucht und anwendet.«

Wir sprachen über die Art, wie Goethe seine Farbenlehre vorgetragen, daß er nämlich dabei alles aus großen Urgesetzen abgeleitet und die einzelnen Erscheinungen immer darauf zurückgeführt habe, woraus denn das Faßliche und ein großer Gewinn für den Geist hervorgehe.

»Dieses mag sein,« sagte Goethe, »und Sie mögen mich deshalb loben, aber diese Methode erfordert denn auch Schüler, die nicht in der Zerstreuung leben und die fähig sind, die Sache wieder im Grunde aufzufassen. Es sind einige recht hübsche Leute in meiner Farbenlehre heraufgekommen, allein das Unglück ist, sie bleiben nicht aus geradem Wege, sondern ehe ich es mir versehe, weichen sie ab und gehen einer Idee nach, statt das Object immer gehörig im Auge zu behalten. Aber ein guter Kopf, dem es zugleich um die Wahrheit zu thun wäre, könnte noch immer viel leisten.«

Wir sprachen von Professoren, die, nachdem das Bessere gefunden, immer noch die Newton'sche Lehre vortragen. »Dies ist nicht zu verwundern,« sagte Goethe; »solche Leute gehen im Irrthum fort, weil sie ihm ihre Existenz verdanken. Sie müßten umlernen und das wäre eine sehr unbequeme Sache.« –»Aber,« sagte ich, »wie können ihre Experimente die Wahrheit beweisen, da der Grund ihrer Lehre falsch ist?« – »Sie beweisen auch die Wahrheit nicht,« sagte Goethe, »und das ist auch keineswegs ihre Absicht, sondern es liegt ihnen bloß daran, ihre Meinung zu beweisen. Deshalb verbergen sie auch alle solche Experimente, wodurch die Wahrheit an den Tag kommen und die Unhaltbarkeit ihrer Lehre sich darlegen könnte.

Und dann, um von den Schülern zu reden, welchem von ihnen wäre es denn um die Wahrheit zu thun? Das sind auch Leute wie andere und völlig zufrieden, wenn sie über die Sache empirisch mitschwatzen können. Das ist alles. Die Menschen sind überhaupt eigener Natur: Sobald ein See zugefroren ist, sind sie gleich zu Hunderten darauf und amusiren sich auf der glatten Oberfläche, aber wem fällt es ein, zu untersuchen, wie tief er ist und welche Arten von Fischen unter dem Eise hin- und herschwimmen? Niebuhr hat jetzt einen Handelstractat zwischen Rom und Karthago entdeckt aus einer sehr frühen Zeit, woraus es erwiesen ist, daß alle Geschichten des Livius vom frühen Zustande des römischen Volks nichts als Fabeln sind, indem aus jenem Tractat ersichtlich, daß Rom schon sehr früh in einem weit höhern Zustande der Cultur sich befunden, als aus dem Livius hervorgeht. Aber wenn Sie nun glauben, daß dieser entdeckte Tractat in der bisherigen Lehrart der römischen Geschichte eine große Reform hervorbringen werde, so sind Sie im Irrthum. Denken Sie nur immer an den gefrorenen See; so sind die Leute, ich habe sie kennen gelernt, so sind sie und nicht anders.«

»Aber doch,« sagte ich, »kann Sie es nicht gereuen, daß Sie die ›Farbenlehre‹ geschrieben; denn nicht allein daß Sie dadurch ein festes Gebäude dieser trefflichen Wissenschaft gegründet, sondern Sie haben auch darin ein Muster wissenschaftlicher Behandlung aufgestellt, woran man sich bei Behandlung ähnlicher Gegenstände immer halten kann.«

»Es gereut mich auch keineswegs,« sagte Goethe, »obgleich ich die Mühe eines halben Lebens hineingesteckt habe. Ich hätte vielleicht ein halb Dutzend Trauerspiele mehr geschrieben, das ist alles, und dazu werden sich noch Leute genug nach mir finden.

Aber Sie haben recht, ich denke auch, die Behandlung wäre gut; es ist Methode darin. In derselbigen Art habe ich auch eine Tonlehre geschrieben, sowie auch meine ›Metamorphose der Pflanzen‹ auf derselbigen. Anschauungs- und Ableitungsweise beruht.

Mit meiner ›Metamorphose der Pflanzen‹ ging es mir eigen; ich kam dazu wie Herschel zu seinen Entdeckungen. Herschel nämlich war so arm, daß er sich kein Fernrohr anschaffen konnte, sondern daß er genöthigt war sich selber eins zu machen. Aber dies war sein Glück; denn dieses selbstfabricirte war besser als alle andern, und er machte damit seine großen Entdeckungen. In die Botanik war ich auf empirischem Wege hereingekommen. Nun weiß ich noch recht gut, daß mir bei der Bildung der Geschlechter die Lehre zu weitläufig wurde, als daß ich den Muth hatte, sie zu fassen. Das trieb mich an, der Sache auf eigenem Wege nachzuspüren und dasjenige zu den, was allen Pflanzen ohne Unterschied gemein wäre, und so entdeckte ich das Gesetz der Metamorphose.

Der Botanik nun im einzelnen weiter nachzugehen, liegt gar nicht in meinem Wege, das überlasse ich andern, die es mir auch darin weit zuvorthun. Mir lag bloß daran, die einzelnen Erscheinungen auf ein allgemeines Grundgesetz zurückzuführen.

So auch hat die Mineralogie nur in einer doppelten Hinsicht Interesse für mich gehabt: zunächst nämlich ihres großen praktischen Nutzens wegen, und dann um darin ein Document über die Bildung der Urwelt zu finden, wozu die Werner'sche Lehre Hoffnung machte. Seit man nun aber nach des trefflichen Mannes Tode in dieser Wissenschaft das Oberste zu unterst kehrt, gehe ich in diesem Fache öffentlich nicht weiter mit, sondern halte mich im Stillen in meiner Überzeugung fort.

In der ›Farbenlehre‹ steht mir nun noch die Entwickelung des Regenbogens bevor, woran ich zunächst gehen werde. Es ist dieses eine äußerst Schwierige Aufgabe, die ich jedoch zu lösen hoffe. Es ist mir aus diesem Grunde lieb, jetzt mit Ihnen die ›Farbenlehre‹ wieder durchzugehen, wodurch sich denn, zumal bei Ihrem Interesse für die Sache, alles wieder anfrischt.

Ich habe mich,« fuhr Goethe fort, »in den Naturwissenschaften ziemlich nach allen Seiten hin versucht; jedoch gingen meine Richtungen immer nur auf solche Gegenstände, die mich irdisch umgaben und die unmittelbar durch die Sinne wahrgenommen werden konnten; weshalb ich mich denn auch nie mit Astronomie beschäftigt habe, weil hierbei die Sinne nicht mehr ausreichen, sondern weil man hier schon zu Instrumenten, Berechnungen und Mechanik seine Zuflucht nehmen muß, die ein eigenes Leben erfordern und die nicht meine Sachen waren.

Wenn ich aber in denen Gegenständen, die in meinem Wege lagen, etwas geleistet, so kam mir dabei zugute, daß mein Leben in eine Zeit fiel, die an großen Entdeckungen in der Natur reicher war als irgend eine andere. Schon als Kind begegnete mir Franklin's Lehre von der Elektricität, welches Gesetz er damals soeben gefunden hatte. Und so folgte durch mein ganzes Leben, bis zu dieser Stunde, eine große Entdeckung der andern; wodurch ich denn nicht allein früh auf die Natur hinge leitet, sondern auch später immerfort in der bedeutendsten Anregung erhalten wurde.

Jetzt werden Vorschritte gethan, auch auf den Wegen, die ich einleitete, wie ich sie nicht ahnen konnte, und es ist mir wie einem, der der Morgenröthe entgegengeht und über den Glanz der Sonne erstaunt, wenn diese hervorleuchtet.«

Unter den Deutschen nannte Goethe bei dieser Gelegenheit die Namen Carus, d'Alton, Meyer in Königsberg mit Bewunderung.

»Wenn nur die Menschen,« fuhr Goethe fort, »das Rechte, nachdem es gefunden, nicht wieder umkehrten und verdüsterten, so wäre ich zufrieden; denn es thäte der Menschheit ein Positives noth, das man ihr von Generation zu Generation überlieferte, und es wäre doch gut, wenn das Positive zugleich das Rechte und Wahre wäre. In dieser Hinsicht sollte es mich freuen, wenn man in den Naturwissenschaften aufs Reine käme und sodann im Rechten beharrte, und nicht wieder transcendirte, nachdem im Faßlichen altes gethan worden. Aber die Menschen können keine Ruhe halten, und ehe man es sich versieht, ist die Verwirrung wieder oben auf.

So rütteln sie jetzt an den fünf Büchern Moses, und wenn die vernichtende Kritik irgend schädlich ist, so ist sie es in Religionssachen; denn hierbei beruht alles auf dem Glauben, zu welchem man nicht zurückkehren kann, wenn man ihn einmal verloren hat.

In der Poesie ist die vernichtende Kritik nicht so schädlich. Wolf hat den Homer zerstört, doch dem Gedicht hat er nichts anhaben können; denn dieses Gedicht hat die Wunderkraft wie die Selben Walhalla's, die sich des Morgens in Stücke hauen und Mittags sich wieder mit heilen Gliedern zu Tische setzen.«

Goethe war in der besten Laune, und ich war glücklich, ihn abermals über so bedeutende Dinge reden zu hören. »Wir wollen uns nur,« sagte er, »im stillen auf dem rechten Wege forthalten und die übrigen gehen lassen; das ist das Beste.«


1827, 7. Februar. 
Mit Johann Peter Eckermann



Goethe schalt heute auf gewisse Kritiker, die nicht mit Lessing zufrieden sind und an ihn ungehörige Forderungen machen.

»Wenn man,« sagte er, »die Stücke von Lessing mit denen der Alten vergleicht und sie schlecht und miserabel findet, was soll man da sagen! Bedauert doch den außerordentlichen Menschen, daß er in einer so erbärmlichen Zeit leben mußte, die ihm keine bessern Stoffe gab, als in seinen Stücken verarbeitet sind! Bedauert ihn doch, daß er in seiner ›Minna von Barnhelm‹ an den Händeln der Sachsen und Preußen theilnehmen mußte, weil er nichts Besseres fand! Auch daß er immerfort polemisch wirkte und wirken mußte, lag in der Schlechtigkeit seiner Zeit. In der ›Emilia Galotti‹ hatte er seine Piquen auf die Fürsten, im ›Nathan‹ auf die Pfaffen.«


1827, 16. Februar. 
Mit Johann Peter Eckermann 


Ich erzählte Goethen, daß ich in diesen Tagen Winckelmann's Schrift ›Über die Nachahmung griechischer Kunstwerke‹ gelesen, wobei ich gestand, daß es mir oft vorgekommen als sei Winckelmann damals noch nicht Völlig klar über seine Gegenstände gewesen.

»Sie haben allerdings recht,« sagte Goethe, »man trifft ihn mitunter in einem gewissen Tasten; allein, was das Große ist, sein Tasten weist immer auf etwas hin; er ist dem Columbus ähnlich, als er die Neue Welt zwar noch nicht entdeckt hatte, aber sie doch schon ahnungsvoll im Sinne trug. Man lernt nichts wenn man ihn liest, aber man wird etwas. Meyer ist nun weiter geschritten und hat die Kenntniß der Kunst auf ihren Gipfel gebracht. Seine ›Kunstgeschichte‹ ist ein ewiges Werk, allein er wäre das nicht geworden, wenn er sich nicht in der Jugend an Winckelmann hinaufgebildet hätte und auf dessen Wege fortgegangen wäre. Da sieht man abermals, was ein großer Vorgänger thut, und was es heißt, wenn man sich diesen gehörig zunutze macht.«




1827, 21. Februar. 
Mit Johann Peter Eckermann


Bei Goethe zu Tische. Er sprach viel und mit Bewunderung über Alexander von Humboldt, dessen Werk über Cuba und Columbien er zu lesen angefangen, und dessen Ansichten über das Project eines Durchstiches der Landenge von Panama für ihn ein ganz besonderes Interesse zu haben schienen. »Humboldt,« sagte Goethe, »hat mit großer Sachkenntniß noch andere Punkte angegeben, wo man mit Benutzung einiger in den Mexikanischen Meerbusen fließenden Ströme vielleicht noch vortheilhafter zum Ziele käme als bei Panama. Dies ist nun alles der Zukunft und einem großen Unternehmungsgeiste vorbehalten. So viel ist aber gewiß, gelänge ein Durchstich der Art, daß man mit Schiffen von jeder Ladung und jeder Größe durch solchen Kanal aus dem Mexikanischen Meerbusen in den Stillen Ocean fahren könnte, so würden daraus für die ganze civilisirte und nichtcivilisirte Menschheit ganz unberechenbare Resultate hervorgehen. Wundern sollte es mich aber, wenn die Vereinigten Staaten es sich sollten entgehen lassen, ein solches Werk in ihre Hände zu bekommen. Es ist vorauszusehen, daß dieser jugendliche Staat, bei seiner entschiedenen Tendenz nach Westen, in dreißig bis vierzig Jahren auch die großen Landstrecken jenseit der Felsengebirge in Besitz genommen und bevölkert haben wird. Es ist ferner vorauszusehen, daß an dieser ganzen Küste des Stillen Oceans, wo die Natur bereits die geräumigsten und sichersten Häfen gebildet hat, nach und nach sehr bedeutende Handelsstädte entstehen werden, zur Vermittelung eines großen Verkehrs zwischen China nebst Ostindien und den Vereinigten Staaten. In solchem Falle wäre es aber nicht bloß wünschenswerth, sondern fast nothwendig, daß sowohl Handels- als Kriegsschiffe zwischen der nordamerikanischen westlichen und östlichen Küste eine raschere Verbindung unterhielten, als es bisher durch die langweilige, widerwärtige und kostspielige Fahrt um das Cap-Horn möglich gewesen. Ich wiederhole also: es ist für die Vereinigten Staaten durchaus unerläßlich, daß sie sich eine Durchfahrt aus dem Mexikanischen Meerbusen in den Stillen Ocean bewerkstelligen, und ich bin gewiß, daß sie es erreichen.

Dieses möchte ich erleben; aber ich werde es nicht. Zweitens möchte ich erleben, eine Verbindung der Donau mit dem Rhein hergestellt zu sehen. Aber dieses Unternehmen ist gleichfalls so riesenhaft, daß ich an der Ausführung zweifle, zumal in Erwägung unserer deutschen Mittel. Und endlich drittens möchte ich die Engländer im Besitz eines Kanals von Suez sehen. Diese drei großen Dinge möchte ich erleben, und es wäre wohl der Mühe werth, ihnen zu Liebe es noch einige funfzig Jahre auszuhalten.«


1827, 1. März. 
Mit Johann Peter Eckermann


Bei Goethe zu Tische. Er erzählte mir, daß er eine Sendung vom Grafen Sternberg und Zauper erhalten, die ihm Freude mache. Sodann verhandelten wir viel über die Farbenlehre, über die subjectiven prismatischen Versuche, und über die Gesetze, nach denen der Regenbogen sich bildet. Er freute sich über meine fortwährend sich vergrößernde Theilnahme an diesen schwierigen Gegenständen.

1827, 1. März.
Mit Friedrich von Müller 



Bei dem großen Lob, das er Vogel1 spendete, sagte er: Die neuern Künstler verstehen gar kein Bild mehr zu machen, sie haben das Falsche, Unnatürliche zum Maxim erhoben. Man probire einmal, schneide solch ein Bild in der Mitte durch und man wird das obere Theil vielleicht recht brav gemalt finden, treu – lebendig, aber das untere Theil wird dann in seiner ganzen Nichtigkeit hervortreten. Als ob nicht jeder Theil zum Ganzen passen müßte, um ein Ganzes zu gestalten.



1 C. Vogel v. Vogelstein.


1827, 1. März. 
Mit Friedrich von Müller 



[Ergänzungen zu Nr. 1038. Anfang:]

Von 4 1/2 bis nach 6 Uhr war ich bei Goethe. Anfangs waren lange Gesprächspausen, dann war er recht munter und mittheilend. Er sprach über den schlechten Zustand der Akademie bei Gelegenheit der Cassation des Dr. Schenkischen Diploms. »Dergleichen ist kein Vergehen, sondern eine reine Folge, und die läßt sich nicht bestrafen. Es ist niemanden Ernst; das schlendert so hin. Familienconnexionen entscheiden. Da giebt es amende Katastrophen.«


1827, Anfang März (?). 
Mit Auguste Sutorius 


Auguste Sutorius, die einige Zeit in Weimar gewesen,.. hatte, als sie ihm vorgestellt wurde, in eine garstige Fußangel getreten. Der Berliner Hofschauspieler Krüger, zum Besuch in Weimar anwesend, hatte sich die Erlaubniß erbeten, die junge, talentvolle Schauspielerin bei Goethe einzuführen, und dieser empfing sie denn nun in seiner feierlichen Visitenmanier, in welche sich die Schülerin des Wiener Theatertons schwer zu finden wußte ..... Krüger... kam auf den unglücklichen Gedanken, einzuwerfen: Demoiselle Sutorius hat auch schon die Sophie in den »Mitschuldigen« .... gespielt, worauf die, in der Literatur völlig Unbewanderte mit lebhaftestem Widerwillen erwiedert: »Ach, ich bitt', Herr Krüger! reden Sie mir nicht von dem grauslichen Stück; das ist mir meine zuwiderste Rolle.« Und Goethe – während Krüger auf eine Öffnung in der Diele rechnet, durch die er zu Kellertiefen versinken möchte – spricht mit antiker Ruhe: »Nun, nun! das ist ja schön.«


1827, 21. März. 
Mit Johann Peter Eckermann


Goethe zeigte mir ein Büchelchen von Hinrichs über das Wesen der antiken Tragödie. »Ich habe es mit großem Interesse gelesen,« sagte er. »Hinrichs hat besonders den ›Ödip‹ und die ›Antigone‹ von Sophokles als Grundlage genommen, um daran seine Ansichten zu entwickeln. Es ist sehr merkwürdig, und ich will es Ihnen mitgeben, damit Sie es auch lesen und wir darüber sprechen können. Ich bin nun keineswegs seiner Meinung; aber es ist im hohen Grade lehrreich, zu sehen wie ein so durch und durch philosophisch gebildeter Mensch von dem eigenthümlichen Standpunkt seiner Schule aus ein dichterisches Kunstwerk ansieht. Ich will heute nichts weiter sagen, um Ihnen nicht vor zugreifen. Lesen Sie nur, und Sie werden sehen, daß man dabei zu allerlei Gedanken kommt.«



1827, 28. März. 
Mit Johann Peter Eckermann 


Ich brachte Goethen das Buch von Hinrichs zurück, das ich indes eifrig gelesen. Auch hatte ich sämmtliche Stücke des Sophokles abermals durchgenommen, um im vollkommenen Besitz des Gegenstandes zu sein.

»Nun,« sagte Goethe, »wie haben Sie ihn gefunden? Nicht wahr, er geht den Dingen zu Leibe.«

»Ganz wunderlich,« sagte ich, »geht es mir mit diesem Buche. Es hat keins so viele Gedanken in mir angeregt als dieses, und doch bin ich mit keinem so oft in Widerspruch gerathen, als gerade mit diesem.«

»Das ist's eben!« sagte Goethe. »Das Gleiche läßt uns in Ruhe; aber der Widerspruch ist es, der uns productiv macht.«»Seine Intentionen,« sagte ich, »sind mir im hohen Grade respectabel erschienen; auch haftet er keineswegs an der Oberfläche der Dinge. Allein er verliert sich oft so sehr im Feinen und Innerlichen der Verhältnisse, und zwar auf so subjective Weise, daß er darüber die wahre Anschauung des Gegenstandes im Einzelnen wie die Übersicht des Ganzen verliert, und man in den Fall kommt, sich und den Gegenständen Gewalt anthun zu müssen, um so zu denken wie er. Auch ist es mir oft vorgekommen als wären meine Organe zu grob, um die ungewöhnliche Subtilität seiner Unterscheidungen aufzufassen.«

»Wären Sie philosophisch präparirt wie er,« sagte Goethe, »so würde es besser gehen. Wenn ich aber ehrlich sagen soll, so thut es mir leid, daß ein ohne Zweifel kräftig geborener Mensch von der norddeutschen Seeküste wie Hinrichs durch die Hegel'sche Philosophie so zugerichtet worden, daß ein unbefangenes natürliches Anschauen und Denken bei ihm ausgetrieben, und eine künstliche und schwerfällige Art und Weise sowohl des Denkens wie des Ausdrucks ihm nach und nach angebildet worden, sodaß wir in seinem Buche auf Stellen gerathen, wo unser Verstand durchaus stillsteht und man nicht mehr weiß, was man liest.«

»Das ist mir nicht besser gegangen,« sagte ich. »Doch habe ich mich gefreut auch auf Stellen zu stoßen, die mir durchaus menschlich und klar erschienen sind, wie z.B. seine Relation der Fabel des Ödip.«

»Hierbei,« sagte Goethe, »mußte er sich freilich scharf an der Sache halten. Es giebt aber in seinem Buche nicht wenige Stellen, bei denen der Gedanke nicht rückt und fortschreitet und wobei sich die dunkele Sprache immer auf demselbigen Fleck und immer in demselbigen Kreise bewegt, völlig so wie das Einmaleins der Hexe in meinem ›Faust‹. Geben Sie mir doch einmal das Buch. Von seiner sechsten Vorlesung, über den Chor, habe ich soviel wie gar nichts verstanden. Was sagen Sie z.B. zu diesem, welches nahe am Ende steht:

›Diese Wirklichkeit (nämlich des Volkslebens) ist als die wahre Bedeutung derselben deshalb auch allein nur ihre wahrhafte Wirklichkeit, die zugleich als sich selber die Wahrheit und Gewißheit, darum die allgemein geistige Gewißheit ausmacht, welche Gewißheit zugleich die versöhnende Gewißheit des Chors ist, so daß allein in dieser Gewißheit, die sich als das Resultat der gesammten Bewegung der tragischen Handlung erwiesen, der Chor erst wahrhaft dem allgemeinen Volksbewußtsein gemäß sich verhält und als solcher nicht bloß das Volk mehr vorstellt, sondern selbst an und für sich dasselbe seiner Gewißheit nach ist.‹

Ich dächte, wir hätten genug! Was sollen erst die Engländer und Franzosen von der Sprache unserer Philosophen denken, wenn wir Deutschen sie selber nicht verstehen.«

»Und trotz alledem,« sagte ich, »sind wir darüber einig, daß dem Buche ein edles Wollen zu Grunde liege, und daß es die Eigenschaft habe, Gedanken zu erregen.«

»Seine Idee von Familie und Staat,« sagte Goethe, »und daraus hervorgehen könnenden tragischen Conflicten ist allerdings gut und fruchtbar, doch kann ich nicht zugeben, daß sie für die tragische Kunst die beste oder gar die einzig richtige sei.

Freilich leben wir alle in Familien und im Staat, und es trifft uns nicht leicht ein tragisches Schicksal, das uns nicht als Glie der von beiden träfe. Doch können wir auch ganz gut tragische Personen sein, und wären wir bloße Familien- oder wären wir bloße Staatsglieder. Denn es kommt im Grunde bloß auf den Conflict an, der keine Auflösung zuläßt, und dieser kann entstehen aus dem Widerspruche welcher Verhältnisse er wolle, wenn er nur einen echten Naturgrund hinter sich hat und nur ein echt tragischer ist. So geht der Ajas zu Grunde an dem Dämon verletzten Ehrgefühls, und der Herkules an dem Dämon liebender Eifersucht. In beiden Fällen ist nicht der geringste Conflict von Familienpietät und Staatstugend vorhanden, welches doch nach Hinrichs die Elemente der griechischen Tragödie sein sollen.«

»Man sieht deutlich,« sagte ich, »daß er bei dieser Theorie blos die Antigone im Sinne hatte. Auch scheint er bloß den Character und die Handlungsweise dieser Heldin vor Augen gehabt zu haben, als er die Behauptung hinstellte, daß die Familienpietät am reinsten im Weibe erscheine und am allerreinsten in der Schwester, und daß die Schwester nur den Bruder ganz rein und geschlechtslos lieben könne.«»Ich dächte,« erwiederte Goethe, »daß die Liebe von Schwester zur Schwester noch reiner und geschlechtloser wäre! Wir müßten denn nicht wissen, daß unzählige Fälle vorgekommen sind, wo zwischen Schwester und Bruder, bekannter- und unbekannterweise, die sinnlichste Neigung stattgefunden.

Überhaupt,« fuhr Goethe fort, »werden Sie bemerkt haben, daß Hinrichs bei Betrachtung der griechischen Tragödie ganz von der Idee ausgeht, und daß er sich auch den Sophokles als einen solchen denkt, der bei Erfindung und Anordnung seiner Stücke gleichfalls von einer Idee ausging und danach seine Charactere und deren Geschlecht und Stand bestimmte. Sophokles ging aber bei seinen Stücken keineswegs von einer Idee aus, vielmehr ergriff er irgend eine längst fertige Sage seines Volks, worin bereits eine gute Idee vorhanden, und dachte nur darauf, diese für das Theater so gut und wirksam als möglich darzustellen. Den Ajas wollen die Atreiden auch nicht beerdigen lassen, aber so wie in der ›Antigone‹ die Schwester für den Bruder strebt, so strebt im ›Ajas‹ der Bruder für den Bruder. Daß sich des unbeerdigten Polyneikes die Schwester und des gefallenen Ajas der Bruder annimmt, ist zufällig und gehört nicht der Erfindung des Dichters, sondern der Überlieferung, welcher der Dichter folgte und folgen mußte.«

»Auch was er über die Handlungsweise des Kreon sagt,« versetzte ich, »scheint ebenso wenig Stich zu halten. Er sucht durchzuführen, daß dieser bei dem Verbot der Beerdigung des Polyneikes aus reiner Staatstugend handle, und da nun Kreon nicht blos ein Mann, sondern auch ein Fürst ist, so stellt er den Satz auf, daß da der Mann die tragische Macht des Staates vorstelle, dieses kein anderer sein könne als derjenige, welcher die Persönlichkeit des Staates selber sei, nämlich der Fürst, und daß von allen Personen der Mann als Fürst diejenige Person sei, welche die sittlichste Staatstugend übe.«

»Das sind Behauptungen,« erwiederte Goethe mit einigem Lächeln, »an die wohl niemand glauben wird. Kreon handelt auch keineswegs aus Staatstugend, sondern aus Haß gegen den Todten. Wenn Polyneikes sein väterliches Erbtheil, woraus man ihn gewaltsam vertrieben, wieder zu erobern suchte, so lag darin keineswegs ein so unerhörtes Vergehen gegen den Staat, daß sein Tod nicht genug gewesen wäre und daß es noch der Bestrafung des unschuldigen Leichnams bedurft hätte.

Man sollte überhaupt nie eine Handlungsweise eine Staatstugend nennen, die gegen die Tugend im allgemeinen geht. Wenn Kreon den Polyneikes zu beerdigen verbietet und durch den verwesenden Leichnam nicht bloß die Luft verpestet, sondern auch Ursache ist, daß Hunde und Raubvögel die abgerissenen Stücke des Todten umherschleppen und damit sogar die Altäre besudeln, so ist eine solche Menschen und Götter beleidigende Handlungsweise keineswegs eine Staatstugend, sondern vielmehr ein Staatsverbrechen. Auch hat er das ganze Stück gegen sich: er hat die Ältesten des Staats, welche den Chor bilden, gegen sich; er hat das Volk im allgemeinen gegen sich; er hat den Teiresias gegen sich; er hat seine eigene Familie gegen sich. Er aber hört nicht, sondern frevelt eigensinnig fort, bis er alle die Seinigen zu Grunde gerichtet hat und er selber am Ende nur noch ein Schatten ist.«

»Und doch,« sagte ich, »wenn man ihn reden hört, so sollte man glauben, daß er einiges Recht habe.«»Das ist's eben,« erwiederte Goethe, »worin Sophokles ein Meister ist, und worin überhaupt das Leben des Dramatischen besteht. Seine Charactere besitzen aus eine solche Redegabe und wissen die Motive ihrer Handlungsweise so überzeugend darzulegen, daß der Zuhörer fast immer auf der Seite dessen ist, der zuletzt gesprochen hat.

Man sieht, er hat in seiner Jugend eine sehr tüchtige rhetorische Bildung genossen, wodurch er denn geübt worden, alle in einer Sache liegenden Gründe und Scheingründe aufzusuchen. Doch verleitete ihn diese seine große Fähigkeit auch zu Fehlern, indem er mitunter in den Fall kam, zu weit zu gehen.

So kommt in der ›Antigone‹ eine Stelle vor, die mir immer als ein Flecken erscheint, und worum ich vieles geben möchte, wenn ein tüchtiger Philologe uns bewiese, sie wäre eingeschoben und unecht.

Nachdem nämlich die Heldin im Laufe des Stückes die herrlichsten Gründe für ihre Handlung ausgesprochen und den Edelmuth der reinsten Seele entwickelt hat, bringt sie zuletzt, als sie zum Tode geht, ein Motiv vor, das ganz schlecht ist und fast ans Komische streift.

Sie sagt, daß sie das, was sie für ihren Bruder gethan, wenn sie Mutter gewesen wäre, nicht für ihre gestorbenen Kinder und nicht für ihren gestorbenen Gatten gethan haben würde; denn, sagte sie, wäre mir ein Gatte gestorben, so hätte ich einen andern genommen, und wären mir Kinder gestorben, so hätte ich mir von dem neuen Gatten andere Kinder zeugen lassen. Allein mit meinem Bruder ist es ein anderes: einen Bruder kann ich nicht wiederbekommen; denn da mein Vater und meine Mutter todt sind, so ist niemand da, der ihn zeugen könnte.

Dies ist wenigstens der nackte Sinn dieser Stelle, die nach meinem Gefühl in dem Munde einer zum Tode gehenden Heldin die tragische Stimmung stört, und die mir überhaupt sehr gesucht und gar zu sehr als ein dialektisches Calcul erscheint. Wie gesagt, ich möchte sehr gern, daß ein guter Philologe uns bewiese, die Stelle sei unecht.«

Wir sprachen darauf über Sophokles weiter, und daß er bei seinen Stücken weniger eine sittliche Tendenz vor Augen gehabt, als eine tüchtige Behandlung seines jedesmaligen Gegenstandes, besonders mit Rücksicht auf theatralische Wirkung.

»Ich habe nichts dawider,« sagte Goethe, »daß ein dramatischer Dichter eine sittliche Wirkung vor Augen habe, allein wenn es sich darum handelt, seinen Gegenstand klar und wirksam vor den Augen des Zuschauers vorüberzuführen, so können ihm dabei seine sittlichen Endzwecke wenig helfen, und er muß vielmehr ein großes Vermögen der Darstellung und Kenntniß der Bretter besitzen, um zu wissen, was zu thun und zu lassen. Liegt im Gegenstande ein sittliche Wirkung, so wird sie auch hervorgehen, und hätte der Dichter weiter nichts im Auge als seines Gegenstandes wirksame und kunstgemäße Behandlung. Hat ein Poet den hohen Gehalt der Seele wie Sophokles, so wird seine Wirkung immer sittlich sein, er mag sich stellen wie er wolle. Übrigens kannte er die Bretter und verstand sein Metier wie einer.«»Wie sehr er das Theater kannte,« versetzte ich, »und wie sehr er eine theatralische Wirkung im Auge hatte, sieht man an seinem ›Philoktet‹ und der großen Ähnlichkeit, die dieses Stück in der Anordnung und dem Gange der Handlung mit dem ›Ödip in Kolonos‹ hat.

In beiden Stücken sehen wir den Helden in einem hilflosen Zustande, beide alt und an körperlichen Gebrechen leidend. Der Ödip hat als Stütze die führende Tochter zur Seite, der Philoktet den Bogen. Nun geht die Ähnlichkeit weiter. Beide hat man in ihrem Leiden verstoßen, aber nachdem das Orakel über beide ausgesagt, daß nur mit ihrer Hülfe der Sieg erlangt werden könne, so sucht man beider wieder habhaft zu werden. Zum Philoktet kommt der Odysseus, zum Ödip der Kreon. Beide beginnen ihre Reden mit List und süßen Worten, als aber diese nichts fruchten, so brauchen sie Gewalt, und wir sehen den Philoktet des Bogens und den Ödip der Tochter beraubt.«

»Solche Gewaltthätigkeiten,« sagte Goethe, »gaben Anlaß zu trefflichen Wechselreden, und solche hilflose Zustände erregten die Gemüther des hörenden und schauenden Volkes, wes halb denn solche Situationen vom Dichter, dem es um Wirkung auf sein Publicum zu thun war, gern herbeigeführt wurden. Um diese Wirkung beim Ödip zu verstärken, läßt ihn Sophokles als schwachen Greis auftreten, da er doch allen Umständen nach noch ein Mann in seiner besten Blüthe sein mußte. Aber in so rüstigem Alter konnte ihn der Dichter in diesem Stück nicht gebrauchen; er hätte keine Wirkung gethan, und er machte ihn daher zu einem schwachen hilfsbedürftigen Greise.«

»Die Ähnlichkeit mit dem Philoktet,« fuhr ich fort, »geht weiter. Beide Helden des Stückes sind nicht handelnd, sondern duldend. Dagegen hat jeder dieser passiven Helden der handelnden Figuren zwei gegen sich: der Ödip den Kreon und Polyneikes, der Philoktet den Neoptolemos und Odyß. Und zwei solcher gegenwirkenden Figuren waren nöthig, um den Gegenstand von allen Seiten zur Sprache zu bringen, und um auch für das Stück selbst die gehörige Fülle und Körperlichkeit zu gewinnen.«

»Sie könnten noch hinzufügen,« nahm Goethe das Wort, »daß beide Stücke auch darin Ähnlichkeit haben, daß wir in beiden die höchst wirksame Situation eines freudigen Wechsels sehen, indem dem einen Helden in seiner Trostlosigkeit die geliebte Tochter, und dem andern der nicht weniger geliebte Bogen zurückgegeben wird.«

»Auch sind die versöhnenden Ausgänge beider Stücke sich ähnlich, indem beide Helden aus ihren Leiden Erlösung erlangen: der Ödip, indem er selig entrückt wird, der Philoktet aber, indem wir durch Götterspruch seine Heilung vor Ilion durch den Äsculap voraussehen.«

»Wenn wir übrigens,« fuhr Goethe fort, »für unsere modernen Zwecke lernen wollen uns aus dem Theater zu benehmen, so wäre Molière der Mann, an den wir uns zu wenden hätten.

Kennen Sie seinen ›Malade imaginaire‹? Es ist darin eine Scene, die mir, so oft ich das Stück lese, immer als Symbol einer vollkommenen Bretterkenntniß erscheint. Ich meine die Scene, wo der eingebildete Kranke seine kleine Tochter Louison befragt, ob nicht in dem Zimmer ihrer ältern Schwester ein junger Mann gewesen.Nun hätte ein anderer, der das Metier nicht so gut verstand wie Molière, die kleine Louison das Factum sogleich ganz einfach erzählen lassen, und es wäre gethan gewesen.

Was bringt aber Molière durch allerlei retardirende Motive in diese Examination für Leben und Wirkung, indem er die kleine Louison zuerst thun läßt als verstehe sie ihren Vater nicht; dann leugnet, daß sie etwas wisse; dann, von der Ruthe bedroht, wie todt hinfällt; dann, als der Vater in Verzweiflung ausbricht, aus ihrer fingirten Ohnmacht wieder schelmisch-heiter aufspringt, und zuletzt nach und nach alles gesteht.

Diese meine Andeutung giebt Ihnen von dem Leben jenes Auftritts nur den allermagersten Begriff; aber lesen Sie die Scene selbst und durchdringen Sie sich von ihrem theatralischen Werthe, und Sie werden gestehen, daß darin mehr praktische Lehre enthalten als in sämmtlichen Theorien.

Ich kenne und liebe Molière,« fuhr Goethe fort, »seit meiner Jugend und habe während meines ganzen Lebens von ihm gelernt. Ich unterlasse nicht, jährlich von ihm einige Stücke zu lesen, um mich immer im Verkehr des Vortrefflichen zu erhal ten. Es ist nicht bloß das vollendete künstlerische Verfahren, was mich an ihm entzückt, sondern vorzüglich auch das liebenswürdige Naturell, das hochgebildete Innere des Dichters. Es ist in ihm eine Grazie und ein Tact für das Schickliche und ein Ton des feinen Umgangs, wie es seine angeborene schöne Natur nur im täglichen Verkehr mit den vorzüglichsten Menschen seines Jahrhunderts erreichen konnte. Von Menander kenne ich nur die wenigen Bruchstücke, aber diese geben mir von ihm gleichfalls eine so hohe Idee, daß ich diesen großen Griechen für den einzigen Menschen halte, der mit Molière wäre zu vergleichen gewesen.«

»Ich bin glücklich,« erwiederte ich, »Sie so gut über Molière reden zu hören. Das klingt freilich ein wenig anders als Herr von Schlegel! Ich habe noch in diesen Tagen in seinen ›Vorlesungen über dramatische Poesie‹ mit großem Widerwillen verschluckt was er über Molière sagt. Er behandelt ihn, wie Sie wissen, ganz von oben herab, als einen gemeinen Possenreißer, der die gute Gesellschaft nur aus der Ferne gesehen und dessen Gewerbe es gewesen zur Ergötzung seines Herrn allerlei Schwänke zu erfinden. In solchen niedrig-lustigen Schwänken sei er noch am glücklichsten gewesen, doch habe er das Beste gestohlen. Zu der höhern Gattung des Lustspiels habe er sich zwingen müssen, und es sei ihm nie damit gelungen.«

»Einem Menschen wie Schlegel,« erwiederte Goethe, »ist freilich eine so tüchtige Natur wie Molière ein wahrer Dorn im Auge: er fühlt, daß er von ihm keine Ader hat, er kann ihn nicht ausstehen. Der ›Misanthrop‹, den ich, als eins meiner liebsten Stücke in der Welt, immer wieder lese, ist ihm zuwider; den ›Tartufe‹ lobt er gezwungenerweise ein bischen, aber er setzt ihn sogleich wieder herab, so viel er nur kann. Daß Molière die Affectationen gelehrter Frauen lächerlich macht, kann Schlegel ihm nicht verzeihen; er fühlt wahrscheinlich, wie einer meiner Freunde bemerkte, daß er ihn selbst lächerlich gemacht haben würde, wenn er mit ihm gelebt hätte.

Es ist nicht zu leugnen,« fuhr Goethe fort, »Schlegel weiß unendlich viel, und man erschrickt fast über seine außerordentlichen Kenntnisse und seine große Belesenheit, allein damit ist es nicht gethan. Alle Gelehrsamkeit ist noch kein Urtheil. Seine Kritik ist durchaus einseitig, indem er fast bei allen Theaterstücken bloß das Skelett der Fabel und Anordnung vor Augen hat und immer nur kleine Ähnlichkeiten mit großen Vorgängern nachweist, ohne sich im mindesten darum zu bekümmern, was der Autor uns von anmuthigem Leben und Bildung einer hohen Seele entgegenbringt. Was helfen aber alle Künste des Talents, wenn aus einem Theaterstücke uns nicht eine liebenswürdige oder große Persönlichkeit des Autors entgegenkommt, dieses Einzige, was in die Cultur des Volkes übergeht!

In der Art und Weise wie Schlegel das französische Theater behandelt, finde ich das Recept zu einem schlechten Recensenten, dem jedes Organ für die Verehrung des Vortrefflichen mangelt, und der über eine tüchtige Natur und einen großen Character hingeht als wäre es Spreu und Stoppel.«

»Den Shakespeare und Calderon dagegen,« versetzte ich, »behandelt er gerecht und sogar mit entschiedener Neigung.«

»Beide,« erwiederte Goethe, »sind freilich der Art, daß man über sie nicht Gutes genug sagen kann, wiewohl ich mich auch nicht wundern würde, wenn Schlegel sie gleichfalls ganz schmählich herabgesetzt hätte. So ist er auch gegen Äschylus und Sophokles gerecht, allein dies scheint nicht sowohl zu geschehen weil er von ihrem ganz außerordentlichen Werthe lebendig durchdrungen wäre, als weil es bei den Philologen herkömmlich ist, beide sehr hoch zu stellen; denn im Grunde reicht doch Schlegels eigenes Persönchen nicht hin, so hohe Naturen zu begreifen und gehörig zu schätzen. Wäre dies, so müßte er auch gegen Euripides gerecht sein und auch gegen diesen ganz anders zu Werke gehen als er gethan. Von diesem weiß er aber, daß die Philologen ihn nicht eben sonderlich hoch halten, und er Verspürt daher kein geringes Behagen, daß es ihm, auf so große Autorität hin, vergönnt ist, über diesen großen Alten ganz schändlich herzufallen und ihn zu schulmeistern wie er kann.

Ich habe nichts dawider, daß Euripides seine Fehler habe; allein er war von Sophokles und Ächylus doch immerhin ein sehr ehrenwerther Mitstreiter. Wenn er nicht den hohen Ernst und die strenge Kunstvollendung seiner beiden Vorgänger besaß und dagegen als Theaterdichter die Dinge ein wenig läßlicher und menschlicher tractirte, so kannte er wahrscheinlich seine Athenienser hinreichend, um zu wissen, daß der von ihm angestimmte Ton für seine Zeitgenossen eben der rechte sei. Ein Dichter aber, den Sokrates seinen Freund nannte, den Aristoteles hochstellte, den Menander bewunderte und um den Sophokles und die Stadt Athen bei der Nachricht von seinem Tode Trauerkleider anlegte, mußte doch wohl in der That etwas sein. Wenn ein moderner Mensch wie Schlegel an einem so großen Alten Fehler zu rügen hätte, so sollte es billig nicht anders geschehen als auf den Knien.«


1827, 1. April. 
Mit Johann Peter Eckermann


Abends bei Goethe. Ich sprach mit ihm über die gestrige Vorstellung seiner ›Iphigenie‹, worin Herr Krüger vom königlichen Theater zu Berlin den Orest spielte und zwar zu großem Beifall.

»Das Stück,« sagte Goethe, »hat seine Schwierigkeiten. Es ist reich an innerm Leben, aber arm an äußerm. Daß aber das innere Leben hervorgekehrt werde, darin liegt's. Es ist voll der wirksamsten Mittel, die aus den mannigfaltigsten Greueln hervorwachsen, die dem Stücke zu Grunde liegen. Das gedruckte Wort ist freilich nur ein matter Widerschein von dem Leben, das in mir bei der Erfindung rege war. Aber der Schauspieler muß uns zu dieser ersten Gluth, die den Dichter seinem Sujet gegenüber beseelte, wieder zurückbringen. Wir wollen von der Meer luft frisch angewehte, kraftvolle Griechen und Helden sehen, die, von mannigfaltigen Übeln und Gefahren geängstigt und bedrängt, stark herausreden, was ihnen das Herz im Busen gebietet, aber wir wollen keine schwächlich empfindenden Schauspieler, die ihre Rollen nur so obenhin auswendig gelernt haben, am wenigsten aber solche, die ihre Rollen nicht einmal können.

Ich muß gestehen, es hat mir noch nie gelingen wollen, eine vollendete Aufführung meiner ›Iphigenie‹ zu erleben. Das war auch die Ursache, warum ich gestern nicht hineinging. Denn ich leide entsetzlich, wenn ich mich mit diesen Gespenstern herumschlagen muß, die nicht so zur Erscheinung kommen wie sie sollten.«

»Mit dem Orest, wie Herr Krüger ihn gab,« sagte ich, »würden Sie wahrscheinlich zufrieden gewesen sein. Sein Spiel hatte eine Deutlichkeit, daß nichts begreiflicher, nichts faßlicher war als seine Rolle. Es drang sich alles ein, und ich werde seine Bewegungen und Worte nicht vergessen. Dasjenige, was in dieser Rolle der exaltirten Anschauung, der Vision gehört, trat durch seine körperlichen Bewegungen und den veränderten abwechselnden Ton seiner Stimme so aus seinem Innern heraus, daß man es mit leiblichen Augen zu sehen glaubte. Beim Anblick dieses Orest hätte Schiller die Furien sicher nicht vermißt; sie waren hinter ihm her, sie waren um ihn herum.

Die bedeutende Stelle, wo Orest, aus seiner Ermattung erwachend, sich in die Unterwelt versetzt glaubt, gelang zu hohem Erstaunen. Man sah die Reihen der Ahnherren in Gesprächen wandeln, man sah Orest sich ihnen gesellen, sie befragen und sich an sie an schließen. Man fühlte sich selbst versetzt und in die Mitte dieser Seligen mit aufgenommen: so rein und tief war die Empfindung des Künstlers und so groß sein Vermögen, das Unfaßlichste uns vor die Augen zu bringen.«

»Ihr seid doch noch Leute, auf die sich wirken läßt!« erwiederte Goethe lachend. »Aber fahren Sie fort und sagen Sie wei ter. Er scheint also wirklich gut gewesen zu sein und seine körperlichen Mittel von Bedeutung?«

»Sein Organ,« sagte ich, »war rein und wohltönend, auch viel geübt und dadurch der höchsten Biegsamkeit und Mannigfaltigkeit fähig. Physische Kraft und körperliche Gewandtheit standen ihm sodann bei Ausführung aller Schwierigkeiten zur Seite; es schien, daß er es sein Leben lang an der mannigfaltigsten körperlichen Ausbildung und Übung nicht hatte fehlen lassen.«

»Ein Schauspieler,« sagte Goethe, »sollte eigentlich auch bei einem Bildhauer und Maler in die Lehre gehen. So ist ihm, um einen griechischen Helden darzustellen, durchaus nöthig, daß er die auf uns gekommenen antiken Bildwerke wohl studirt und sich die ungesuchte Grazie ihres Sitzens, Stehens und Gehens wohl eingeprägt habe.

Auch ist es mit dem Körperlichen noch nicht gethan. Er muß auch durch ein fleißiges Studium der besten alten und neuen Schriftsteller seinem Geiste eine große Ausbildung geben, welches ihm denn nicht blos zum Verständniß seiner Rolle zu gute kommen, sondern auch seinem ganzen Wesen und seiner Haltung einen höhern Anstrich geben wird. Doch erzählen Sie weiter! Was war denn noch sonst Gutes an ihm zu bemerken?«

»Es schien mir,« sagte ich, »als habe ihm eine große Liebe für seinen Gegenstand beigewohnt. Er hatte durch ein emsiges Studium sich alles einzeln klar gemacht, sodaß er in seinem Helden mit großer Freiheit lebte und webte, und nichts übrig blieb, was nicht durchaus wäre das Seinige geworden. Hieraus entstand denn ein richtiger Ausdruck und eine richtige Betonung jedes einzelnen Wortes, und eine solche Sicherheit, daß für ihn der Souffleur eine ganz überflüssige Person war.«

»Das freut mich,« sagte Goethe, »und so ist es recht. Nichts ist schrecklicher, als wenn die Schauspieler nicht Herr ihrer Rolle sind und bei jedem neuen Satze nach dem Souffleur horchen müssen, wodurch ihr Spiel sogleich null ist und sogleich ohne alle Kraft und Leben. Wenn bei einem Stück wie meine ›Iphigenie‹ die Schauspieler in ihren Rollen nicht durchaus fest sind, so ist es besser, die Aufführung zu unterlassen. Denn das Stück kann blos Erfolg haben, wenn alles sicher, rasch und lebendig geht.

Nun, nun, es ist mir lieb, daß es mit Krügern so gut abgelaufen. Zelter hatte mir ihn empfohlen und es wäre mir fatal gewesen, wenn es mit ihm nicht so gut gegangen wäre wie es ist. Ich werde ihm auch meinerseits einen kleinen Spaß machen und ihm ein hübsch eingebundenes Exemplar der ›Iphigenie‹ zum Andenken verehren mit einigen eingeschriebenen Versen in Bezug auf sein Spiel.«

Das Gespräch lenkte sich auf die ›Antigone‹ von Sophokles, auf die darin waltende hohe Sittlichkeit und endlich auf die Frage: wie das Sittliche in die Welt gekommen.

»Durch Gott selber,« erwiederte Goethe, »wie alles andere Gute. Es ist kein Product menschlicher Reflexion, sondern es ist angeschaffene und angeborene schöne Natur. Es ist mehr oder weniger den Menschen im allgemeinen angeschaffen, im hohen Grade aber einzelnen ganz vorzüglich begabten Gemüthern. Diese haben durch große Thaten oder Lehren ihr göttliches Innere offenbart, welches sodann durch die Schönheit seiner das ist die Schwester Ismene. In dieser hat der Dichter uns nebenbei ein schönes Maß des Gewöhnlichen gegeben, woran uns die ein solches Maß weit übersteigende Höhe der Antigone desto auffallender sichtbar wird.«

Das Gespräch wendete sich auf dramatische, Schriftsteller im allgemeinen, und welche bedeutende Wirkung auf die große Masse des Volks von ihnen ausgehe und ausgehen könne.

»Ein großer dramatischer Dichter,« sagte Goethe, »wenn er zugleich productiv ist und ihm eine mächtige edle Gesinnung beiwohnt, die alle seine Werke durchdringt, kann erreichen, daß die Seele seiner Stücke zur Seele des Volks wird. Ich dächte, das wäre etwas, das wohl der Mühe werth wäre. Von Corneille ging eine Wirkung aus, die fähig war Heldenseelen zu bilden. Das war etwas für Napoleon, der ein Heldenvolk nöthig hatte; weshalb er denn von Corneille sagte, daß, wenn er noch lebte, er ihn zum Fürsten machen würde. Ein dramatischer Dichter, der seine Bestimmung kennt, soll daher unablässig an seiner höhern Entwickelung arbeiten, damit die Wirkung, die von ihm auf das Volk ausgeht, eine wohlthätige und edle sei.Man studire nicht die Mitgeborenen und Mitstrebenden, sondern große Menschen der Vorzeit, deren Werke seit Jahrhunderten gleichen Werth und gleiches Ansehen behalten haben. Ein wirklich hochbegabter Mensch wird das Bedürfniß dazu ohnedies in sich fühlen, und gerade dieses Bedürfniß des Umgangs mit großen Vorgängern ist das Zeichen einer höhern Anlage. Man studire Molière, man studire Shakespeare, aber vor allen Dingen die alten Griechen und immer die Griechen.«

»Für hochbegabte Naturen,« bemerkte ich, »mag das Studium der Schriften des Alterthums allerdings ganz unschätzbar sein; allein im allgemeinen scheint es auf den persönlichen Character wenig Einfluß auszuüben. Wenn das wäre, so müßten ja alle Philologen und Theologen die vortrefflichsten Menschen sein. Dies ist aber keineswegs der Fall, und es sind solche Kenner der griechischen und lateinischen Schriften des Alterthums eben tüchtige Leute oder auch arme Wichte, je nach den guten oder schlechten Eigenschaften, die Gott in ihre Natur gelegt oder die sie von Vater und Mutter mitbrachten.«»Dagegen ist nichts zu erinnern,« erwiederte Goethe; »aber damit ist durchaus nicht gesagt, daß das Studium der Schriften des Alterthums für die Bildung eines Characters überall ohne Wirkung wäre. Ein Lump bleibt freilich ein Lump, und eine kleinliche Natur wird durch einen selbst täglichen Verkehr mit der Großheit antiker Gesinnung um keinen Zoll größer werden. Allein ein edler Mensch, in dessen Seele Gott die Fähigkeit künstiger Charactergröße und Geisteshoheit gelegt, wird durch die Bekanntschaft und den vertraulichen Umgang mit den erhabenen Naturen griechischer und römischer Vorzeit sich auf das herrlichste entwickeln und mit jedem Tage zusehends zu ähnlicher Größe heranwachsen.«


1827, 11. April. 
Mit Johann Peter Eckermann u.a. 


Ich ging diesen Mittag um 1 Uhr zu Goethe, der mich vor Tische zu einer Spazierfahrt hatte einladen lassen. Wir fuhren die Straße nach Erfurt. Das Wetter war sehr schön, die Kornfelder zu beiden Seiten des Wegs erquickten das Auge mit dem lebhaftesten Grün; Goethe schien in seinen Empfindungen heiter und jung wie der beginnende Lenz, in seinen Worten aber alt an Weisheit.

»Ich sage immer und wiederhole es,« begann er, »die Welt könnte nicht bestehen, wenn sie nicht so einfach wäre. Dieser elende Boden wird nun schon tausend Jahre bebaut, und seine Kräfte sind immer dieselbigen. Ein wenig Regen, ein wenig Sonne, und es wird jeden Frühling wieder grün, und so fort.« Ich fand auf diese Worte nichts zu erwiedern und hinzuzusetzen. Goethe ließ seine Blicke über die grünenden Felder schweifen, sodann aber wieder zu mir gewendet, fuhr er über andere Dinge folgendermaßen fort:

»Ich habe in diesen Tagen eine wunderliche Lectüre gehabt, nämlich die ›Briefe Jacobi's und seiner Freunde‹. Dies ist ein höchst merkwürdiges Buch, und Sie müssen es lesen, nicht um etwas daraus zu lernen, sondern um in den Zustand damaliger Cultur und Literatur hineinzublicken, von dem man keinen Begriff hat. Man sieht lauter gewissermaßen bedeutende Menschen, aber keine Spur von gleicher Richtung und gemeinsamem Interesse, sondern jeder rund abgeschlossen für sich und seinen eigenen Weg gehend, ohne im geringsten an den Bestrebungen des andern theilzunehmen. Sie sind mir vorgekommen wie die Billardkugeln, die auf der grünen Decke blind durcheinander laufen, ohne voneinander zu wissen, und die, sobald sie sich berühren, nur desto weiter auseinanderfahren.«

Ich lachte über das treffende Gleichniß. Ich erkundigte mich nach den correspondirenden Personen, und Goethe nannte sie mir, indem er mir über jeden etwas Besonderes sagte.

»Jacobi war eigentlich ein geborener Diplomat, ein schöner Mann von schlankem Wuchs, seinen vornehmen Wesens, der als Gesandter ganz an seinem Platz gewesen wäre. Zum Poeten und Philosophen fehlte ihm etwas, um beides zu sein.

Sein Verhältniß zu mir war eigener Art. Er hatte mich persönlich lieb, ohne an meinen Bestrebungen theilzunehmen oder sie wohl gar zu billigen. Es bedurfte daher der Freundschaft, um uns aneinanderzu halten. Dagegen war mein Verhältniß mit Schiller so einzig, weil wir das herrlichste Bindungsmittel in unsern gemeinsamen Bestrebungen fanden und es für uns keiner sogenannten besondern Freundschaft weiter bedurfte.«

Ich fragte nach Lessing, ob auch dieser in den Briefen vorkomme. »Nein,« sagte Goethe, »aber Herder und Wieland.

Herdern war es nicht wohl bei den Verbindungen; er stand zu hoch, als daß ihm das hohle Wesen auf die Länge nicht hätte lästig werden sollen, sowie auch Hamann diese Leute mit überlegenem Geiste behandelte.

Wieland, wie immer, erscheint auch in diesen Briefen durchaus heiter und wie zu Hause. An keiner andern Meinung hängend, war er gewandt genug, um in alles einzugehen. Er war einem Rohre ähnlich, das der Wind der Meinungen hin- und herbewegte, das aber aus seinem Wurzelchen immer fest blieb.

Mein persönliches Verhältniß zu Wieland war immer sehr gut, besonders in der frühern Zeit, wo er mir allein gehörte. Seine kleinen Erzählungen hat er auf meine Anregung geschrieben. Als aber Herder nach Weimar kam, wurde Wieland mir ungetreu; Herder nahm ihn mir weg, denn dieses Mannes persönliche Anziehungskraft war sehr groß.«

Der Wagen wendete sich zum Rückwege. Wir sahen gegen Osten vielfaches Regengewölk, das sich ineinanderschob. »Diese Wolken,« sagte ich, »sind doch so weit gebildet, daß sie jeden Augenblick als Regen niederzugehen drohen. Wäre es möglich, daß sie sich wieder auflösten, wenn das Barometer stiege?« – »Ja,« sagte Goethe, »diese Wolken würden sogleich von oben herein verzehrt und aufgesponnen werden wie ein Rocken. So stark ist mein Glauben an das Barometer. Ja, ich sage immer und behaupte: wäre in jener Nacht der großen Überschwemmung von Petersburg das Barometer gestiegen, die Welle hätte nicht herangekonnt.

Mein Sohn glaubt beim Wetter an den Einfluß des Mondes, und Sie glauben vielleicht auch daran, und ich verdenke es euch nicht; denn der Mond erscheint als ein zu bedeutendes Gestirn, als daß man ihm nicht eine entschiedene Einwirkung auf unsere Erde zuschreiben sollte, allein die Veränderung des Wetters, der höhere oder tiefere Stand des Barometers rührt nicht vom Mondwechsel her, sondern ist rein tellurisch.

Ich denke mir die Erde mit ihrem Dunstkreise gleichnißweise als ein großes lebendiges Wesen, das im ewigen Ein- und Ausathmen begriffen ist. Athmet die Erde ein, so zieht sie den Dunstkreis an sich, sodaß er in die Nähe ihrer Oberfläche herankommt und sich verdichtet bis zu Wolken und Regen. Diesen Zustand nenne ich die Wasserbejahung; dauerte er über alle Ordnung fort, so würde er die Erde ersäufen. Dies aber giebt sie nicht zu, sie athmet wieder aus und entläßt die Wasserdünste nach oben, wo sie sich in den ganzen Raum der hohen Atmosphäre ausbreiten und sich dergestalt verdünnen, daß nicht allein die Sonne glänzend herdurchgeht, sondern auch sogar die ewige Finsterniß des unendlichen Raums als frisches Blau herdurchgesehen wird. Diesen Zustand der Atmosphäre nenne ich die Wasserverneinung. Denn wie bei dem entgegengesetzten nicht allein häufiges Wasser von oben kommt, sondern auch die Feuchtigkeit der Erde nicht verdunsten und abtrocknen will, so kommt dagegen bei diesem Zustande nicht allein keine Feuchtigkeit von oben, sondern auch die Nässe der Erde selbst verfliegt und geht aufwärts, sodaß bei einer Dauer über alle Ordnung hinaus die Erde auch ohne Sonnenschein zu vertrocknen und zu verdörren Gefahr liefe.«

So sprach Goethe über diesen wichtigen Gegenstand, und ich hörte ihm mit großer Aufmerksamkeit zu.

»Die Sache ist sehr einfach,« fuhr er fort, »und so am Einfachen, Durchgreifenden halte ich mich und gehe ihm nach, ohne mich durch einzelne Abweichungen irreleiten zu lassen. Hohes Barometer: Trockenheit, Ostwind; tiefes Barometer: Nässe, Westwind; dies ist das herrschende Gesetz, woran ich mich halte. Weht aber einmal bei hohem Barometer und Ostwind ein nasser Nebel her, oder haben wir blauen Himmel bei Westwind, so kümmert mich dieses nicht und macht meinen Glauben an das herrschende Gesetz nicht irre, sondern ich sehe daraus blos, daß auch manches Mitwirkende existirt, dem man nicht sogleich beikommen kann.

Ich will Ihnen etwas sagen, woran Sie sich im Leben halten mögen. Es giebt in der Natur ein Zugängliches und Unzugängliches. Dieses unterscheide und bedenke man wohl und habe Respect. Es ist uns schon geholfen, wenn wir es überall nur wissen, wiewohl es immer sehr schwer bleibt, zu sehen wo das eine aufhört und das andere beginnt. Wer es nicht weiß, quält sich vielleicht lebenslänglich am Unzugänglichen ab, ohne je der Wahrheit nahe zu kommen. Wer es aber weiß und klug ist, wird sich am Zugänglichen halten, und indem er in dieser Region nach allen Seiten geht und sich befestigt, wird er sogar auf diesem Wege dem Unzugänglichen etwas abgewinnen können, wiewohl er hier doch zuletzt gestehen wird, daß manchen Dingen nur bis zu einem gewissen Grade beizukommen ist und die Natur immer etwas Problematisches hinter sich behalte, welches zu ergründen die menschlichen Fähigkeiten nicht hinreichen.«

Unter diesen Worten waren wir wieder in die Stadt hereingefahren. Das Gespräch lenkte sich auf unbedeutende Gegenstände, wobei jene hohen Ansichten noch eine Weile in meinem Innern fortleben konnten.

Wir waren zu früh zurückgekehrt, um sogleich an Tisch zu gehen, und Goethe zeigte mir vorher noch eine Landschaft von Rubens, und zwar einen Sommerabend. Links im Vordergrunde sah man Feldarbeiter nach Hause gehen; in der Mitte des Bildes folgte eine Heerde Schafe ihrem Hirten dem Dorfe zu: rechts tiefer im Bilde stand ein Heuwagen, um welchen Arbeiter mit Aufladen beschäftigt waren, abgespannte Pferde grasten nebenbei; sodann abseits in Wiesen und Gebüsch zerstreut weideten mehrere Stuten mit ihren Fohlen, denen man ansah, daß sie auch in der Nacht draußen bleiben würden. Verschiedene Dörfer und eine Stadt schlossen den hellen Horizont des Bildes, worin man den Begriff von Thätigkeit und Ruhe auf das anmuthigste ausgedrückt fand.

Das Ganze schien mir mit solcher Wahrheit zusammenzuhängen und das Einzelne lag mir mit solcher Treue vor Augen, daß ich die Meinung äußerte: Rubens habe dieses Bild wohl ganz nach der Natur abgeschrieben.

»Keineswegs!« sagte Goethe, »ein so vollkommenes Bild ist niemals in der Natur gesehen worden, sondern wir verdanken diese Composition dem poetischen Geiste des Malers. Aber der große Rubens hatte ein so außerordentliches Gedächtniß, daß er die ganze Natur im Kopfe trug und sie ihm in ihren Einzelheiten immer zu Befehl war. Daher kommt diese Wahrheit des Ganzen und Einzelnen, sodaß wir glauben, alles sei eine reine Kopie nach der Natur. Jetzt wird eine solche Landschaft gar nicht mehr gemacht, diese Art zu empfinden und die Natur zu sehen ist ganz verschwunden, es mangelt unsern Malern an Poesie.

Und dann sind unsere jungen Talente sich selber überlassen, es fehlen die lebendigen Meister, die sie in die Geheimnisse der Kunst einführen. Zwar ist auch von den Todten etwas zu lernen, allein dieses ist, wie es sich zeigt, mehr ein Absehen von Einzelheiten als ein Eindringen in eines Meisters tiefere Art zu denken und zu verfahren.«

Frau und Herr von Goethe traten herein, und wir setzten uns zu Tische. Die Gespräche wechselten über heitere Gegenstände des Tages: Theater, Bälle und Hof, flüchtig hin und her. Bald aber waren wir wieder auf ernstere Dinge gerathen, und wir sahen uns in einem Gespräch über Religionslehren in England tief befangen.

»Ihr müßtet wie ich,« sagte Goethe, »seit funfzig Jahren die Kirchengeschichte studirt haben, um zu begreifen, wie das alles zusammenhängt. Dagegen ist es höchst merkwürdig, mit welchen Lehren die Mohammedaner ihre Erziehung beginnen. Als Grundlage in der Religion befestigen sie ihre Jugend zunächst in der Überzeugung, daß dem Menschen nichts begegnen könne, als was ihm von einer alles leitenden Gottheit längst bestimmt worden; und somit sind sie denn für ihr ganzes Leben ausgerüstet und beruhigt und bedürfen kaum eines Weitern. Ich will nicht untersuchen, was an dieser Lehre Wahres oder Falsches, Nützliches oder Schädliches sein mag, aber im Grunde liegt von diesem Glauben doch etwas in uns allen, auch ohne daß es uns gelehrt worden. Die Kugel, auf der mein Name nicht geschrieben steht, wird mich nicht treffen, sagt der Soldat in der Schlacht; und wie sollte er ohne diese Zuversicht in den dringendsten Gefahren Muth und Heiterkeit behalten! Die Lehre des christlichen Glaubens: Kein Sperling fällt vom Dache ohne den Willen eures Vaters, ist aus derselbigen Quelle hervorgegangen und deutet auf eine Vorsehung, die das Kleinste im Auge behält und ohne deren Willen und Zulassen nichts geschehen kann.

Sodann ihren Unterricht in der Philosophie beginnen die Mohammedaner mit der Lehre: daß nichts existire, wovon sich nicht das Gegentheil sagen lasse, und so üben sie den Geist der Jugend, indem sie ihre Aufgaben darin bestehen lassen, von jeder aufgestellten Behauptung die entgegengesetzte Meinung zu finden und auszusprechen, woraus eine große Gewandtheit im Denken und Reden hervorgehen muß.Nun aber, nachdem von jedem aufgestellten Satze das Gegentheil behauptet worden, entsteht der Zweifel, welches denn von beiden das eigentlich Wahre sei. Im Zweifel aber ist kein Verharren, sondern er treibt den Geist zu näherer Untersuchung und Prüfung, woraus denn, wenn diese auf eine vollkommene Weise geschieht, die Gewißheit hervorgeht, welches das Ziel ist, worin der Mensch seine völlige Beruhigung findet.

Sie sehen, daß dieser Lehre nichts fehlt, und daß wir mit allen unsern Systemen nicht weiter sind, und daß überhaupt niemand weiter gelangen kann.«

»Ich werde dadurch,« sagte ich, »an die Griechen erinnert, deren philosophische Erziehungsweise eine ähnliche gewesen sein muß, wie uns dieses ihre Tragödie beweist, deren Wesen im Verlauf der Handlung auch ganz und gar auf dem Widerspruch beruht, indem niemand der redenden Personen etwas behaupten kann, wovon der andere nicht ebenso klug das Gegentheil zu sagen wüßte.«

»Sie haben vollkommen recht,« sagte Goethe; »auch fehlt der Zweifel nicht, welcher im Zuschauer oder Leser erweckt wird, sowie wir denn am Schluß durch das Schicksal zur Gewißheit gelangen, welches sich an das Sittliche anschließt und dessen Partei führt.«

Wir standen von Tische auf, und Goethe nahm mich mit hinab in den Garten, um unsere Gespräche fortzusetzen.

»An Lessing,« sagte ich, »ist es merkwürdig, daß er in seinen theoretischen Schriften, z.B. im ›Laokoon‹, nie geradezu auf Resultate losgeht, sondern uns immer erst jenen philosophischen Weg durch Meinung, Gegenmeinung und Zweifel herumführt, ehe er uns endlich zu einer Art von Gewißheit gelangen läßt. Wir sehen mehr die Operation des Denkens und Findens, als daß wir große Ansichten und große Wahrheiten erhielten, die unser eigenes Denken anzuregen und uns selbst productiv zu machen geeignet wären.«

»Sie haben wohl recht,« sagte Goethe. »Lessing soll selbst einmal geäußert haben, daß, wenn Gott ihm die Wahrheit geben wolle, er sich dieses Geschenk verbitten, vielmehr die Mühe vorziehen würde, sie selber zu suchen. Jenes philosophische System der Mohammedaner ist ein artiger Maßstab, den man an sich und andere anlegen kann, um zu erfahren, auf welcher Stufe geistiger Tugend man denn eigentlich stehe.

Lessing hält sich, seiner polemischen Natur nach, am liebsten in der Region der Widersprüche und Zweifel auf; das Unterscheiden ist seine Sache, und dabei kam ihm sein großer Verstand auf das herrlichste zustatten. Mich selbst werden Sie dagegen ganz anders finden: ich habe mich nie auf Widersprüche eingelassen, die Zweifel habe ich in meinem Innern auszugleichen gesucht, und nur die gefundenen Resultate habe ich ausgesprochen.«

Ich fragte Goethe, welchen der neuern Philosophen er für den vorzüglichsten halte.

»Kant,« sagte er, »ist der vorzüglichste, ohne allen Zweifel. Er ist auch derjenige, dessen Lehre sich fortwirkend erwiesen hat und die in unsere deutsche Cultur am tiefsten eingedrungen ist. Er hat auch auf Sie gewirkt, ohne daß Sie ihn gelesen haben. Jetzt brauchen Sie ihn nicht mehr, denn was er Ihnen geben konnte, besitzen Sie schon. Wenn Sie einmal später etwas von ihm lesen wollen, so empfehle ich Ihnen seine ›Kritik der Urtheilskraft‹, worin er die Rhetorik vortrefflich, die Poesie leidlich, die bildende Kunst aber unzulänglich behandelt hat.«

»Haben Euer Excellenz je zu Kant ein persönliches Verhältniß gehabt?« fragte ich.

»Nein,« sagte Goethe. »Kant hat nie von mir Notiz genommen, wiewohl ich aus eigener Natur einen ähnlichen Weg ging als er. Meine ›Metamorphose der Pflanzen‹ habe ich geschrieben, ehe ich etwas von Kant wußte, und doch ist sie ganz im Sinne seiner Lehre. Die Unterscheidung des Subjects vom Object, und ferner die Ansicht, daß jedes Geschöpf um sein selbst willen existirt, und nicht etwa der Korkbaum gewachsen ist, damit wir unsere Flaschen pfropfen können, dieses hatte Kant mit mir gemein, und ich freute mich, ihm hierin zu begegnen. Später schrieb ich die Lehre vom Versuch, welche als Kritik von Subject und Object und als Vermittelung von beiden anzusehen ist.Schiller pflegte mir immer das Studium der Kant'schen Philosophie zu widerrathen. Er sagte gewöhnlich, Kant könne mir nichts geben. Er selbst studirte ihn dagegen eifrig, und ich habe ihn auch studirt und zwar nicht ohne Gewinn.«

Unter diesen Gesprächen gingen wir im Garten auf und ab. Die Wolken hatten sich indes verdichtet und es fing an zu tröpfeln, sodaß wir genöthigt waren uns in das Haus zurückzuziehen, wo wir denn unsere Unterhaltungen noch eine Weile fortsetzten.


1827, 18. April. 
Mit Johann Peter Eckermann u.a. 


Mit Goethe vor Tische spazieren gefahren eine Strecke die Straße nach Erfurt hinaus. Es begegnete uns allerhand Frachtfuhrwerk mit Waaren für die Leipziger Messe. Auch einige Züge Koppelpferde, worunter sehr schöne Thiere.

»Ich muß über die Ästhetiker lachen,« sagte Goethe, »welche sich abquälen, dasjenige Unaussprechliche, wofür wir den Ausdruck schön gebrauchen, durch einige abstracte Worte in einen Begriff zu bringen. Das Schöne ist ein Urphänomen, das zwar nie selber zur Erscheinung kommt, dessen Abglanz aber in tausend verschiedenen Äußerungen des schaffenden Geistes sichtbar wird und so mannigfaltig und so verschiedenartig ist als die Natur selber.«»Ich habe oft aussprechen hören,« sagte ich, »die Natur sei immer schön; sie sei die Verzweiflung des Künstlers, indem er selten fähig sei, sie ganz zu erreichen.«

»Ich weiß wohl,« erwiederte Goethe, »daß die Natur oft einen unerreichbaren Zauber entfaltet; allein ich bin keineswegs der Meinung, daß sie in allen ihren Äußerungen schön sei. Ihre Intensionen sind zwar immer gut, allein die Bedingungen sind es nicht, die dazu gehören, sie stets vollkommen zur Erscheinung gelangen zu lassen.

So ist die Eiche ein Baum, der sehr schön sein kann. Doch wie vielgünstige Umstände müssen zusammentreffen, ehe es der Natur einmal gelingt, ihn wahrhaft schön hervorzubringen! Wächst die Eiche im Dickicht des Waldes heran, von bedeutenden Nachbarstämmen umgeben, so wird ihre Tendenz immer nach oben gehen, immer nach freier Luft und Licht. Nach den Seiten hin wird sie nur wenige schwache Äste treiben, und auch diese werden im Laufe des Jahrhunderts wieder verkümmern und abfallen. Hat sie aber endlich erreicht, sich mit ihrem Gipfel oben im Freien zu fühlen, so wird sie sich beruhigen und nun anfangen sich nach den Seiten hin auszubreiten und eine Krone zu bilden. Allein sie ist auf dieser Stufe bereits über ihr mittleres Alter hinaus, ihr vieljähriger Trieb nach oben hat ihre frischesten Kräfte hingenommen, und ihr Bestreben, sich jetzt noch nach der Breite hin mächtig zu erweisen, wird nicht mehr den rechten Erfolg haben. Hoch, stark und schlankstämmig wird sie nach vollendetem Wuchse dastehen, doch ohne ein solches Verhältniß zwischen Stamm und Krone, um in der That schön zu sein.

Wächst hinwieder die Eiche an feuchten, sumpfigen Orten und ist der Boden zu nahrhaft, so wird sie, bei gehörigem Raum, frühzeitig viele Äste und Zweige nach allen Seiten treiben; es werden jedoch die widerstrebenden, retardirenden Einwirkungen fehlen, das Knorrige, Eigensinnige, Zackige wird sich nicht entwickeln, und aus einiger Ferne gesehen wird der Baum ein schwaches, lindenartiges Ansehen gewinnen, und er wird nicht schön sein, wenigstens nicht als Eiche.

Wächst sie endlich an bergigen Abhängen, auf dürftigem, steinigtem Erdreich, so wird sie zwar im Übermaß zackig und knorrig erscheinen, allein es wird ihr an freier Entwickelung fehlen, sie wird in ihrem Wuchs frühzeitig kümmern und stocken, und sie wird nie erreichen, daß man von ihr sage: es walte in ihr etwas, das fähig sei uns in Erstaunen zu setzen.«

Ich freute mich dieser guten Worte. »Sehr schöne Eichen,« sagte ich, »habe ich gesehen, als ich vor einigen Jahren von Göttingen aus mitunter kleine Touren ins Weserthal machte. Besonders mächtig fand ich sie im Solling in der Gegend von Höxter.«

»Ein sandiger oder mit Sand gemischter Boden,« fuhr Goethe fort, »wo ihr nach allen Richtungen hin mächtige Wurzeln zu treiben vergönnt ist, scheint ihr am günstigsten zu sein. Und dann will sie einen Stand, der ihr gehörigen Raum gewährt, alle Einwirkungen von Licht und Sonne und Regen und Wind von allen Seiten her in sich aufzunehmen. Im behaglichen Schutz vor Wind und Wetter herangewachsen, wird aus ihr nichts; aber ein hundertjähriger Kampf mit den Elementen macht sie stark und mächtig, sodaß nach vollendetem Wuchs ihre Gegenwart uns Erstaunen und Bewunderung einflößt.«»Könnte man nicht aus diesen Ihren Andeutungen,« versetzte ich, »ein Resultat ziehen und sagen: ein Geschöpf sei dann schön, wenn es zu dem Gipfel seiner natürlichen Entwickelung gelangt sei?«

»Recht wohl,« erwiederte Goethe; »doch müßte man zuvor aussprechen, was man unter dem Gipfel der natürlichen Entwickelung wolle verstanden haben.«

»Ich würde damit,« erwiederte ich, »diejenige Periode des Wachsthums bezeichnen, wo der Character, der diesem oder jenem Geschöpf eigenthümlich ist, vollkommen ausgeprägt erscheint.«

»In diesem Sinne,« erwiederte Goethe, »wäre nichts dagegen einzuwenden, besonders wenn man noch hinzufügte, daß zu solchem vollkommen ausgeprägten Character zugleich gehöre, daß der Bau der verschiedenen Glieder eines Geschöpfes dessen Naturbestimmung angemessen und also zweckmäßig sei.

So wäre z.B. ein mannbares Mädchen, dessen Naturbestimmung ist, Kinder zu gebären und Kinder zu säugen, nicht schön ohne gehörige Breite des Beckens und ohne gehörige Fülle der Brüste. Doch wäre auch ein Zuviel nicht schön, denn das würde über das Zweckmäßige hinausgehen.

Warum konnten wir vorhin einige der Reitpferde, die uns begegneten, schön nennen, als eben wegen der Zweckmäßigkeit ihres Baues? Es war nicht blos das Zierliche, Leichte, Graziöse ihrer Bewegungen, sondern noch etwas mehr, worüber ein guter Reiter und Pferdekenner reden müßte und wovon wir andern blos den allgemeinen Eindruck empfinden.«

»Könnte man nicht auch,« sagte ich, »einen Karrengaul schön nennen, wie uns vorhin einige sehr starke vor den Frachtwagen der Brabanter Fuhrleute begegneten?«

»Allerdings,« erwiederte Goethe; »und warum nicht? Ein Maler fände an dem stark ausgeprägten Character, an dem mächtigen Ausdruck von Knochen, Sehnen und Muskeln eines solchen Thieres wahrscheinlich noch ein weit mannigfaltigeres Spiel von allerlei Schönheiten als an dem mildern, egalern Character eines zierlichen Reitpferdes.

Die Hauptsache ist immer,« fuhr Goethe fort, »daß die Rasse rein und der Mensch nicht seine verstümmelnde Hand angelegt hat. Ein Pferd, dem Schweif und Mähne abgeschnitten, ein Hund mit gestutzten Ohren, ein Baum, dem man die mächtigsten Zweige genommen und das übrige kugelförmig geschnitzelt hat, und über alles eine Jungfrau, deren Leib von Jugend auf durch Schnürbrüste verdorben und entstellt worden, alles dieses sind Dinge, von denen sich der gute Geschmack abwendet und die blos in dem Schönheitskatechismus der Philister ihre Stelle haben.«

Unter diesen und ähnlichen Gesprächen waren wir wieder zurückgekehrt. Wir machten vor Tische noch einige Gänge im Hausgarten. Das Wetter war sehr, schön; die Frühlingssonne fing an mächtig zu werden und an Büschen und Hecken schon allerlei Laub und Blüthen hervorzulocken. Goethe war voller Gedanken und Hoffnungen eines genußreichen Sommers.

Darauf bei Tische waren wir sehr heiter. Der junge Goethe hatte die ›Helena‹ seines Vaters gelesen und sprach darüber mit vieler Einsicht eines natürlichen Verstandes. Über den im antiken Sinne gedichteten Theil ließ er eine entschiedene Freude blicken, während ihm die opernartige romantische Hälfte, wie man merken konnte, beim Lesen nicht lebendig geworden.

»Du hast imgrunde recht, und es ist ein eigenes Ding,« sagte Goethe. »Man kann zwar nicht sagen, daß das Vernünftige immer schön sei; allein das Schöne ist doch immer vernünftig, oder wenigstens es sollte so sein. Der antike Theil gefällt dir aus dem Grunde, weil er faßlich ist, weil du die einzelnen Theile übersehen und du meiner Vernunft mit der deinigen beikommen kannst. In der zweiten Hälfte ist zwar auch allerlei Verstand und Vernunft gebraucht und verarbeitet worden, allein es ist schwer und erfordert einiges Studium, ehe man den Dingen beikommt und ehe man mit eigener Vernunft die Vernunft des Autors wieder herausfindet.«

Goethe sprach darauf mit allerlei Lob und Anerkennung über die Gedichte der Madame Tastu, mit deren Lectüre er sich in diesen Tagen beschäftigt.

Als die übrigen gingen und ich mich auch anschickte zu gehen, bat er mich, noch einwenig zu bleiben. Er ließ ein Portefeuille mit Kupferstichen und Radirungen niederländischer Meister herbeibringen.

»Ich will Sie doch,« sagte er, »zum Nachtisch noch mit etwas Gutem tractiren.« Mit diesen Worten legte er mir ein Blatt vor, eine Landschaft von Rubens. »Sie haben,« sagte er, »dieses Bild zwar schon bei mir gesehen; allein man kann etwas Vortreffliches nicht oft genug betrachten, und diesmal handelt es sich noch dazu um etwas ganz Besonderes. Möchten Sie mir wohl sagen, was Sie sehen?«

»Nun,« sagte ich, »wenn ich von der Tiefe anfange, so haben wir im äußersten Hintergrunde einen sehr hellen Himmel, wie eben nach Sonnenuntergang. Dann gleichfalls in der äußersten Ferne ein Dorf und eine Stadt in der Helle des Abendlichtes. In der Mitte des Bildes sodann einen Weg, worauf eine Heerde Schafe dem Dorfe zueilt. Rechts im Bilde allerlei Heuhaufen und einen Wagen, der soeben vollgeladen worden. Angeschirrte Pferde grasen in der Nähe. Ferner, seitwärts in Gebüschen zerstreut, mehrere weidende Stuten mit ihren Fohlen, die das Ansehen haben als würden sie in der Nacht draußen bleiben. Sodann näher dem Vordergrunde zu eine Gruppe großer Bäume und zuletzt, ganz im Vordergrunde links verschiedene nach Hause gehende Arbeiter.«

»Gut,« sagte Goethe, »das wäre wohl alles. Aber die Hauptsache fehlt noch. Alle diese Dinge, die wir dargestellt sehen; die Heerde Schafe, der Wagen mit Heu, die Pferde, die nach Hause gehenden Feldarbeiter, von welcher Seite sind sie beleuchtet?«

»Sie haben das Licht,« sagte ich, »auf der uns zugekehrten Seite und werfen die Schatten in das Bild hinein. Besonders die nach Hause gehenden Feldarbeiter im Vordergrunde sind sehr im Hellen, welches einen trefflichen Effect thut.«

»Wodurch hat aber Rubens diese schöne Wirkung hervorgebracht?«

»Dadurch,« antwortete ich, »daß er diese hellen Figuren auf einem dunkeln Grunde erscheinen läßt.«

»Aber dieser dunkle Grund,« erwiederte Goethe, »wodurch entsteht er?«

»Es ist der mächtige Schatten,« sagte ich, »den die Baumgruppe den Figuren entgegenwirft. – Aber wie,« fuhr ich mit Überraschung fort, »die Figuren werfen den Schatten in das Bild hinein, die Baumgruppe dagegen wirft den Schatten dem Beschauer entgegen! Da haben wir ja das Licht von zwei entgegengesetzten Seiten, welches aber ja gegen alle Natur ist!«

»Das ist eben der Punkt,« erwiederte Goethe mit einigem Lächeln. »Das ist es, wodurch Rubens sich groß erweist und an den Tag legt, daß er mit freiem Geiste über der Natur steht und sie seinen höhern Zwecken gemäß tractirt. Das doppelte Licht ist allerdings gewaltsam, und Sie können immerhin sagen, es sei, gegen die Natur, allein wenn es gegen die Natur ist, so sage ich zugleich, es sei höher als die Natur, so sage ich, es sei der kühne Griff des Meisters, wodurch er auf geniale Weise an den Tag legt, daß die Kunst der natürlichen Nothwendigkeit nicht durchaus unterworfen ist, sondern ihre eigenen Gesetze hat.

Der Künstler,« fuhr Goethe fort, »muß freilich die Natur im einzelnen treu und fromm nachbilden, er darf in dem Knochenbau und der Lage von Sehnen und Muskeln eines Thieres nicht willkürlich ändern, sodaß dadurch der eigenthümliche Character verletzt würde; denn das hieße die Natur vernichten, allein in den höhern Regionen des künstlerischen Verfahrens, wodurch ein Bild zum eigentlichen Bilde wird, hat er ein freieres Spiel, und er darf hier sogar zu Fictionen schreiten, wie Rubens in dieser Landschaft mit dem doppelten Lichte gethan.

Der Künstler hat zur Natur ein zwiefaches Verhältniß: er ist ihr Herr und ihr Sklave zugleich. Er ist ihr Sklave, insofern er mit irdischen Mitteln wirken muß, um verstanden zu werden, ihr Herr aber, insofern er diese irdischen Mittel seinen höhern Intentionen unterwirft und ihnen dienstbar macht.

Der Künstler will zur Welt durch ein Ganzes sprechen; dieses Ganze aber findet er nicht in der Natur, sondern es ist die Frucht seines eigenen Geistes oder, wenn Sie wollen, des Anwehens eines befruchtenden göttlichen Odems.

Betrachten wir diese Landschaft von Rubens nur so obenhin, so kommt uns alles so natürlich vor, als sei es nur geradezu von der Natur abgeschrieben. Es ist aber nicht so. Ein so schönes Bild ist nie in der Natur gesehen worden, ebenso wenig als eine Landschaft von Poussin oder Claude Lorrain, die uns auch sehr natürlich erscheint, die wir aber gleichfalls in der Wirklichkeit vergebens suchen.«

»Ließen sich nicht auch,« sagte ich, »ähnliche kühne Züge künstlerischer Fiction wie dieses doppelte Licht von Rubens in der Literatur finden?«

»Da brauchten wir nicht eben weit zu gehen,« erwiederte Goethe nach einigem Nachdenken. »Ich könnte sie Ihnen im Shakespeare zu Dutzenden nachweisen. Nehmen Sie nur den ›Macbeth‹. Als die Lady ihren Gemahl zur That begeistern will, sagt sie:

Ich habe Kinder aufgesäugt –

Ob dieses wahr ist oder nicht, kommt gar nicht darauf an, aber die Lady sagt es, und sie muß es sagen, um ihrer Rede dadurch Nachdruck zu geben. Im spätern Verlauf des Stückes aber, als Macduff die Nachricht von dem Untergange der Seinen erfährt, ruft er im wilden Grimme aus:

Er hat keine Kinder!

Diese Worte des Macduff kommen also mit denen der Lady in Widerspruch, aber das kümmert Shakespeare nicht. Ihm kommt es auf die Kraft der jedesmaligen Rede an, und so wie die Lady zum höchsten Nachdruck ihrer Worte sagen mußte: ›Ich habe Kinder aufgesäugt‹, so mußte auch zu ebendiesem Zwecke Macduff sagen: ›Er hat keine Kinder!‹

Überall,« fuhr Goethe fort, »sollen wir es mit dem Pinselstriche eines Malers oder dem Worte eines Dichters nicht so genau und kleinlich nehmen: vielmehr sollen wir ein Kunstwerk, das mit kühnem und freiem Geiste gemacht worden, auch womöglich mit ebensolchem Geiste wieder anschauen und genießen.

So wäre es thöricht, wenn man aus den Worten des Macbeth:

Gebier mir keine Töchter –den Schluß ziehen wollte, die Lady sei ein ganz jugendliches Wesen, das noch nicht geboren habe. Und ebenso thöricht wäre es, wenn man weiter gehen und verlangen wollte, die Lady müsse auf der Bühne als eine solche sehr jugendliche Person dargestellt werden.

Shakespeare läßt den Macbeth diese Worte keineswegs sagen, um damit die Jugend der Lady zu beweisen, sondern diese Worte, wie die vorhin angeführten der Lady und des Macduff, sind bloß rhetorischer Zwecke wegen da und wollen weiter nichts beweisen, als daß der Dichter seine Personen jedesmal das reden läßt, was eben an dieser Stelle gehörig, wirksam und gut ist, ohne sich viel und ängstlich zu bekümmern und zu calculiren, ob diese Worte vielleicht mit einer andern Stelle in scheinbaren Widerspruch gerathen möchten.

Überhaupt hat Shakespeare bei seinen Stücken schwerlich daran gedacht, daß sie als gedruckte Buchstaben vorliegen würden, die man überzählen und gegeneinander vergleichen und berechnen möchte; viel mehr hatte er die Bühne vor Augen, als er schrieb; er sah seine Stücke als ein Bewegliches, Lebendiges an, das von den Brettern herab den Augen und Ohren rasch vorüberfließen würde, das man nicht fest halten und im einzelnen bekritteln könnte, und wobei es bloß darauf ankam, immer nur im gegenwärtigen Moment wirksam und bedeutend zu sein.«






1827, 22. April.
Mit Jean Jacques Ampère



a. 


Cher père, je suis à Weimar; j'ai vu Goethe, qui m'a reçu à bras ouverts. Tu sais qu'il s'était donné la peine de traduire mes deux premiers articles sur lui. Ayant perdu le manuscrit da second, il l'a retraduit encore une fois pour le prochain numéro de son journal.

J'ai eu le plaisir de me lire en feuille à mon arrivée à Weimar. J'ai trouvé le grand homme très-bon, très-simple, très-bien portant et très-aimable; il m'a beaucoup parlé de mon père et m'a dit qu'on n'avait ici son appareil.Me voilà à Weimar, établi pour une quinzaine au moins. Goethe a beaucoup d'admiration pour le ›Globe‹, pour ›Clara Gazul‹, il m'a parlé avec reconnaissance des bontés distinguées que M. Cuvier a pour, lui et de la ›lettre charmante‹ que sa fille lui a écrite.

b. 


Je suis arrivé ici à quatre heures de matin.

– – – – – – – – – – – – – – –

Mais il faut vous [Madame Recamier] dire un mot de Goethe, que j'ai déjà vu. C'est le plus simple et le phis aimable des hommes. Je m'attendais à quelque raideur, à des habitudes d'idole, qui seraient excusables: pas l'ombre de cela; il m'a parlé francais quoique je lui aie offert de parler allemand; j'espère qu'il laissera là cette politesse et que je l'entendrai dans sa langue. Il m'a entretenue des découvertes de mon père, qu'il connait très-bien; de M. Cousin, qu'il admire fort, et du ›Globe‹,

qu'il goûte beaucoup, de la traduction d'Albert. Je me trouvais ainsi en pays de connaissance. Je n'ai pas découvert chez lui une nuance d'affectation ou de prétention. Il a la physionomie triste et une expression sereine. A peine arrivé j'ai eu le temps de faire la conquête d'un homme qui me sera trèsprécieux, parcequ'il est une manière de confident de secrétaire de Goethe. Goethe a désiré que je logeasse là où loge ce monsieur; ainsi je me trouverai naturellement dans l'intimité du grand homme. Tout prend la tournure d'un séjour de deux ou trois semaines.


1827, vom 22. April bis 9. Mai. 

Mit Jean Jacques Ampère 


a.
Cher père, je suis ici très-agréablement; je vois souvent Goethe, j'ai dîné la semaine dernière trois fois chez lui en petit comité, faveur qu'il accorde très-rarement aux étrangers. J'ai pu pénétrer plus avant dans son âme, l'entendre parler plusieurs heures de suite, s'épancher avec une verve et une chaleur qui ont cinquante ans de moins que lui. Ce qu'il y a d'admirable, c'est qu'il est au courant de tout, s'intéresse à tout, est présent à tout; il raconte nos vaudevilles nouveaux comme s'il venait de les voir, sait par coeur les chansons de Béranger; il ne se fait rien en Allemagne sans qu'il y prenne part. Ses traits ressemblent beau coup au portrait qu'il a envoyé, à Mlle Cuvier, et que Mme de Goethe, sa belle-fille, m'a donné; mais il faut placer sur ses lèvres sévères, un peu dédaigneuses, le sourire de bonhomie qui y erre sans cesse, et dans ses yeux une flamme extraordinaire qui en jaillit par moments, pour avoir l'idée de Goethe quand il est lui-même, c'est-à-dire en famille. Avec du monde il est plus froid, mais sans raideur dans ses manières. Sa taille est droite comme un jonc; c'est véritablement une nature d'une force prodigieuse.


Je viens de lire ›Héléna‹, épisode de la Suite de ›Faust‹, qu'il a composé l'hiver passé, à soixante-dix-sept ans, et qui paraîtra dans quinze jours avec la première livraison de ses oeuvres complètes. C'est un ouvrage très – extraordinaire, on y trouve des passages d'une puissance d'une grâce incomparable.


b.


Goethe est un homme prodigieux; il est charmant pour moi. Il s'intéresse à tout, a des idées sur tout, de l'admiration pour tout ce qui en peu admettre; et avec sa robe de chambre bien blanche qui lui donne l'air d'un gros mouton blanc, entre son fils, sa belle-fille et ses deux petits enfants, qui jouent avec lui, parlant de Schiller, de leurs communs, de ce que celui-ci voulait faire, de ce qu'il aurait fait, de ses propres ouvrages, de ses intentions, de ses souvenirs, il est le plus intéressant et le plus aimable des hommes. Il a une conscience naïve de sa gloire qui ne peut déplaire, parce qu'il est occupé des autres talents et véritablement sensible à tout ce qui se fait de bon en tous genres.

A genoux devant Molière et La Fontaine, il admire ›Athalie‹ et goûte ›Bérénice‹. A propos du 
Tasse il prétend avoir fait de grandes recherches et dit que l'hi stoire se rapproche beaucoup de la manière dont il a traité son sujet. Il soutient que la prison est une conte, ce qui vous fera plaisir; il croit à l'amour du Tasse et à celui de la princesse, mais toujours à distance, toujours romanesque, et sans ces plates et absurdes propositions d'épouser de M. Alex Duval.J'ai lu en manuscrit un ouvrage très-extraordinaire de lui, qui va paraître; c'est une épisode ou plutôt un intermède destiné à trouver place dans la suite de ›Faust‹ qui n'est pas encore faite. C'est, comme il l'intitule lui même, une fantasmagorie à peu. près intraduisible; mais à travers beaucoup de bizarrerie et assez d'obscurité, pleine de profondeur, de poesie et de grâce. Depuis le siège de Troie jusqu'au siège de Missolonghi, la mythologie grecque, le moyen âge, le temps actuel, lord Byron, tout s'y trouve. C'est un rêve d'un grand sens, et cette conception, dans laquelle, bon ou mauvais, tout est créé, est sortie d'une tête presque octogénaire.



1827, 24. April.
Gesellschaft bei Goethe



August Wilhelm Schlegel ist hier. Goethe machte mit ihm vor Tische eine Spazierfahrt ums Webicht und gab ihm zu Ehren diesen Abend einen großen Thee, wobei auch Schlegel's Reisegefährte Herr Dr. Lassen gegenwärtig. Alles in Weimar, was irgend Namen und Rang hatte, war dazu eingeladen, sodaß das Getreibe in Goethes Zimmer groß war. Herr von Schlegel war ganz von Damen umringt, denen er aufgerollte schmale Streifen mit indischen Götterbildern vorzeigte sowie den ganzen Text von zwei großen indischen Gedichten, von denen außer ihm selbst und Dr. Lassen wahrscheinlich niemand etwas verstand. Schlegel war höchst sauber angezogen und höchst jugendlichen, blühenden Ansehens, sodaß einige der Anwesenden behaupten wollten, er scheine nicht unerfahren in Anwendung kosmetischer Mittel.

Goethe zog mich [Eckermann] in ein Fenster. »Nun, wie gefällt er Ihnen?« – »Noch ganz so wie sonst,« erwiederte ich. – »Er ist freilich in vieler Hinsicht kein Mann,« fuhr Goethe fort, »aber doch kann man ihm seiner vielseitigen gelehrten Kenntnisse und seiner großen Verdienste wegen schon etwas zugute halten.«


1827, 25. April. 
Mit Johann Peter Eckermann u.a. 


Bei Goethe zu Tische mit Herrn Dr. Lassen. Schlegel war heute abermals an Hof zur Tafel gezogen. Herr Lassen entwickelte große Kenntnisse der indischen Poesie, die Goethen höchst willkommen zu sein schienen, um sein eigenes immerhin nur sehr lückenhaftes Wissen in diesen Dingen zu ergänzen.

Ich war abends wieder einige Augenblicke bei Goethe. Er erzählte mir, daß Schlegel in der Dämmerung bei ihm gewesen, und daß er mit ihm ein höchst bedeutendes Gespräch über literarische und historische Gegenstände geführt, das für ihn sehr belehrend gewesen. »Nur muß man,« fügte er hinzu, »keine Trauben von den Dornen und keine Feigen von den Disteln verlangen; übrigens ist alles ganz vortrefflich.«


1827, 28. oder 29. April.1
Mit Karl von Holtei u.a. 


Während ich nun mit mir selbst capitulirte, wie ich mich bei Goethe einführen und wie ich am besten vermeiden könnte, eine gar zu alberne Figur zu machen, erinnerte ich mich plötzlich, daß ich ihm schon früher einige meiner versificirten Versuche zugesendet, und daß er mir durch unsern Wolff, sein ehemaliges theatralisches Schooskind, einige majestätisch-huldreiche Floskeln über das kleine Versspiel »Die Farben« hatte zustellen lassen. Er hatte, von meinen Arbeiten mit jenem redend, den bezeichnenden Ausdruck gebraucht: »Dieser Mensch ist so eine Art von Improvisator auf dem Papiere; es scheint ihm sehr leicht zu werden, aber er sollte sich's nicht so leicht machen!« – Vielleicht, dacht' ich, giebt das den Anknüpfungspunkt für ein Gespräch; denn meine Angst, daß er nicht reden werde, (man hatte mir in Weimar zugeflüstert, er gäbe bisweilen, wenn er übler Laune sei, dergleichen stumme Audienzen!) war fürchterlich .....

Es schlug 11 Uhr, als ich [wie vorbeschieden] im Empfangzimmer stand, und ich blieb, nachdem der Diener mich hineingeschoben, einige Minuten mir selbst überlassen .....

»Nun, so ist es mir denn lieb, daß ich Sie auch einmal zu sehen bekomme!« Mit diesen Worten trat er ein und nahm, nachdem er mich zum Sitzen genöthigt, neben mir Platz. Verbindliche und möglichst schön gestellte Redensarten von meiner Seite schienen keinen Eindruck zu machen, wenigstens lockten sie keine Erwiederung hervor. Er führte den in Wohlgeruch gebadeten Zipfel seines weißen Tuches von Zeit zu Zeit an die Nase und ließ mich sprechen. Drei- oder viermal erneute ich den Angriff, immer prallt' ich wie von einer steinernen Mauer wieder ab. Je geistreicher ich zu sein mir Mühe gab, desto abgeschmackter mag ich ihm wohl geschienen haben; denn es dämmerte in mir selbst so etwas vom Bewußtsein eigener Gebrechlichkeit auf. Ein guter Geist gab mir die Erinnerung ein, daß ich in Paris den Duval'schen »Tasso« spielen sehen; den macht' ich zu meinem Zauberstabe, – und, siehe da! der Fels gab Wasser. »Aus Paris kommen Sie? Und was machen uns're Freunde, die Globisten?« (Mitarbeiter an dem Journal Le Globe.) Auf diese Frage wußt' ich freilich verzweifelt wenig zu antworten, aber da sie andere Fragen erzeugte, in deren Beantwortung ich besser bestand, so kam doch bald einiges Leben in die einsame Stunde. Ich fühlte wieder Grund und Boden unter meinen Füßen. Je mehr ich mich gehen ließ, meinem natürlichen Wesen getreu, ohne weitere Ansprüche auf zarten Ausdruck, desto lebendiger wurde der alte Herr. Einige Male that er, als ob er lachen wollte, und als ich ihm erzählte, daß ein französischer Kritiker nach Aufführung des Duval'schen »Tasso« geschrieben hätte: M. Alexandre Duval, en estropiant le »Tasse« de Schiller, da lachte er wirklich. So wurde denn aus den zehn Minuten, die ich mir als längste Audienzfrist geträumt hatte, eine rasch genug durchplauderte Stunde. Als es zwölf Uhr schlug, erhob er sich und sprach: »Wenn der Prophet nicht zum Berge kommt, so muß der Berg zum Propheten kommen: da ich nicht mehr zu Hofe gehe, so erweisen die höchsten Herrschaften mir die Gnade; also will es sich ziemen, dieselben zu empfangen.« Dabei gab er mir ein Entlassungszeichen, welches ich, da ich nun erst in Zug gekommen war, wahrscheinlich mit sehr unzufriedener oder betrübter Miene aufnahm. Als ich schon an der Ausgangsthüre stand, rief er, als ob er bemerkt hätte, wie schwer mir das Scheiden wurde, mich noch einmal zurück und sagte: »Wollen Sie mit uns speisen, so werden Sie um 2 Uhr willkommen sein.«

– – – – – – – – – – – – – – – –

Goethes Schwiegertochter Ottilie war unpäßlich; statt ihrer erschien deren Schwester Fräulein Ulrike v. Pogwisch bei Tafel. Außer August v. Goethe waren noch einpaar Herren zugegen – meines Bedünkens der Kanzler v. Müller und Professor Riemer. Der Alte sprach viel und trank nicht wenig. Die Unterhaltung war lebhaft, ungezwungen und ohne Prätension. Das Dessert stand noch nicht auf dem Tische, als ich mich schon vollkommen eingebürgert sah. Ich redete was mir in den Sinn kam, ohne Bedenken, ob es in Goethes Kram taugte oder nicht. Dies Ver fahren beobachtete ich bei späterem Aufenthalte, wo ich häufig auch in größerer Gesellschaft dort speisete, unerschütterlich und kam damit am besten fort; denn ob ich mir gleich bisweilen – wie man sich auszudrücken pflegt – das Maul verbrannte, entging ich doch dem Vorwurf der Ziererei, den so viele in ähnlicher Lage auf sich geladen haben. – Gegen Ende der Tafel traten die Enkel Walther und Wolf, zwei muntere Knaben, ein und gaben, vom Großvater aufgefordert, allerlei Schwänke zum besten. Unter andern fangen sie auch einige Lieder aus meinen auf der Bühne gegebenen Stücken. Der Alte sagte dann, indem er ihnen Näschereien reichte: »Nun, seht Euch einmal diesen Mann an! Das ist der, welcher das dumme Zeug gemacht hat.«

1 Nach Holtei's Erzählung in Verbindung mit Oppenheim's Brief im Goethe-Jahrbuch VI, 144 wäre der 4. Mai zu setzen; indessen stimmt dies nicht mit Ecker mann's wohl zuverlässigerer Angabe. Wiederum paßt jedoch Goethes Frage nach den »Globisten« nicht mit Ampère's damaliger Anwesenheit in Weimar. Vielleicht giebt einst Goethes Tagebuch, das zu benutzen mir versagt ist, zuverlässige Auskunft.


1827, Ende April oder Anfang Mai. 
Mit Jean Jacques Ampère und Albert Stapfer


Nous sommes arrivés à Weimar à deux heures. Nous avions, en cette ville, deux visites intéressantes à faire. On ne peut passer par Weimar sans aller présenter l'hommage de son admiration au célèbre Goethe, le Nestor de la littérature allemande, et sans chercher à entendre le pianiste admirable Hummel. Ce dernier, pour lequel nous avions aussi une lettre de recommandation, était parti pour enchanter les oreilles autrichiennes, et nous espérons bien le retrouver à Vienne. Nous avons été d'autant plus contrariés de cette absence, que nous comptions beaucoup sur M. Hummel, auquel nous étions recommandés d'une manière pressante, pour nous introduire, nous et notre lettre, près de l'auteur de Werther, qu'on dit très-défiant. Cependant, M. Goe the voulut bien répondre au domestique que j'envoyai chez lui pour savoir s'il consentait à nous recevoir, qu'il nous attendait à cinq heures. Sa maison est située derrière le parc du grand-duc. Un joli perron conduit à une vaste antichambre, d'où un large escalier, qui se divise après quelques marches, et aboutit d'abord à l'appartement de fille de M. Goethe et du mari de cette dame, vous laisse à la porte qui ouvre le logement de l'auteur de Werther. Sur le seuil de cette porte, une mosaïque fort bien travaillée présente d'abord aux visiteurs et aux amis le mot »Salve«; on traverse un cabinet garni d'un grand nombre de bustes et d'antiques, et, en suivant une assez longue galerie, on arrive dans la bibliotheque qui tient à la chambre à coucher du grand homme. Cette bibliothèque paraît lui servir de cabinet de travail; c'est là que nous avons été reçus avec une politesse germanique, c'est à dire peu démonstrative, mais qui ne manquait pas d'un certain air de cordialité et de bonté. M. Goethe a passé en revue un certain nombre de nos hommes de lettres les plus remarquables. Il nous a fait un grand éloge de l'ermite de la Chaussée-d'Antin [Jouy], »dont l'ermitage ne pouvait pas être une solitude, car il était connu et recherché de toute l'Europe.« En parlant de l'imitation française de quelques-uns de ses propres ouvrages, il nous a dit qu'il concevait peu comment M. Duval avait pu mettre au théâtre le drame du Tasse. Il nous a assuré qu'en écrivant la pièce allemande, il ne l'avait pas destinée a la représentation, ne la jugeant pas susceptible d'un effet dramatique, et que c'était par la faveur particulière qu'on attachait en Allemagne à ses ouvrages, qu'on avait voulu représenter celui-ci. Beaucoup d'éloges pour Casimir Delavigne, pour Scribe; une approbation marquée pour le vaudeville intitulé »La mère au bal et la fille à la maison«, ont terminé cette séance. Goethe, qui paraît âgé de soixante ans (il en a soixante-treize), ne semble pas trop éloigné de l'idée de venir un jour visiter la France; il se tient au courant de toutes les nouveautés de ce pays par la lecture du »Globe«, journal qu'il parait affectionner. »On dit ce journal un peu lourd; c'est peut-être à cause de cela que nous l'aimons, nous autres Germains, qu'on n'accuse pas d'être lègers.« Il a semblé surtout partager les opinions du rédacteur des articles de musique dans cette feuille. Goethe parle français avec un peu de difficulté, mais cependant avec correction; on ne s'aperçoit de cette difficulté que par l'intervalle qu'il met entre chaque mot; elle n'est d'ailleurs pas sans une espèce de charme, et donne même souvent de la valeur à ce qu'il dit. Sa taille est moyenne, plutôt grande que petite; sa figure est noble et parfois très-expressive, son habitude sérieuse; il a le nez prononcé, la bouche presque entièrement dégarnie de dents, mais sa complexion paraît robuste.


1827, 3. Mai. 
Mit Johann Peter Eckermann


Die höchst gelungene Übersetzung der dramatischen Werke Goethes von Stapfer hat in dem zu Paris erscheinenden ›Globe‹ des vorigen Jahres durch Herrn J. J. Ampère eine Beurtheilung gefunden, die nicht weniger vortrefflich ist, und die Goethen so angenehm berührte, daß er sehr oft darauf zurückkam und sich sehr oft mit großer Anerkennung darüber ausließ.

»Der Standpunkt des Herrn Ampère,« sagte er, »ist ein sehr hoher. Wenn deutsche Recensenten bei ähnlichen Anlässen gern von der Philosophie ausgehen und bei Betrachtung und Besprechung eines dichterischen Erzeugnisses auf eine Weise verfahren, daß dasjenige, was sie zu dessen Aufklärung beibringen, nur Philosophen ihrer eigenen Schule zugänglich, für andere Leute aber weit dunkler ist als das Werk, das sie erläutern wollen, selber, so benimmt sich dagegen Herr Ampère durchaus praktisch und menschlich. Als einer, der das Metier aus dem Grunde kennt, zeigt er die Verwandtschaft des Erzeugten mit dem Erzeuger und beurtheilt die verschiedenen poetischen Productionen als verschiedene Früchte verschiedener Lebensepochen des Dichters.

Er hat den abwechselnden Gang meiner irdischen Laufbahn und meiner Seelenzustände im tiefsten studirt und sogar die Fähigkeit gehabt, das zu sehen, was ich nicht ausgesprochen und was sozusagen nur zwischen den Zeilen zu lesen war. Wie richtig hat er bemerkt, daß ich in den ersten zehn Jahren meines weimarischen Dienst- und Hoflebens so gut wie gar nichts gemacht, daß die Verzweiflung mich nach Italien getrieben, und daß ich dort, mit neuer Lust zum Schaffen, die Geschichte des Tasso ergriffen, um mich in Behandlung dieses angemessenen Stoffs von demjenigen freizumachen, was mir noch aus meinen weimarischen Eindrücken und Erinnerungen Schmerzliches und Lästiges anklebte. Sehr treffend nennt er daher auch den ›Tasso‹ einen gesteigerten ›Werther‹.

Sodann über den ›Faust‹ äußert er sich nicht weniger geistreich, indem er nicht bloß das düstere, unbefriedigte Streben der Hauptfigur, sondern auch den Hohn und die herbe Ironie des Mephistopheles als Theile meines eigenen Wesens bezeichnet.«

In dieser und ähnlicher anerkennender Weise sprach Goethe über Herrn Ampère sehr oft; wir faßten für ihn ein entschiedenes Interesse, wir suchten uns seine Persönlichkeit klar zu machen, und wenn uns dieses auch nicht gelingen konnte, so waren wir doch darüber einig, daß es ein Mann von mittlern Jahren sein müsse, um die Wechselwirkung von Leben und Dichten so aus dem Grunde zu verstehen.

Sehr überrascht waren wir daher, als Herr Ampère vor einigen Tagen in Weimar eintraf und sich uns als ein lebensfroher Jüngling von einigen zwanzig Jahren darstellte; und nicht weniger überrascht waren wir, als er gegen uns im Laufe eines weitern Verkehrs äußerte, daß sämmtliche Mitarbeiter des ›Globe‹, dessen Weisheit, Mäßigung und hohe Bildungsstufe wir oft bewundert, lauter junge Leute wären wie er.

»Ich begreife wohl,« sagte ich, »daß einer jung sein kann, um Bedeutendes zu produciren und, gleich Mérimée, im zwanzigsten Jahre treffliche Stücke zu schreiben; allein daß einem bei ähnlich jungen Jahren eine solche Übersicht und so tiefe Einblicke zu Gebote stehen, um eine solche Höhe des Urtheils zu besitzen wie die Herren des ›Globe‹, das ist mir durchaus etwas Neues.«

»Ihnen in Ihrer Heide,« erwiederte Goethe, »ist es freilich nicht so leicht geworden, und auch wir andern im mittlern Deutschland haben unser bischen Weisheit schwer genug erkaufen müssen. Denn wir führen doch im Grunde alle ein isolirtes armseliges Leben! Aus dem eigentlichen Volke kommt uns sehr wenig Cultur entgegen, und unsere sämmtliche Talente und guten Köpfe sind über ganz Deutschland ausgesäet. Da sitzt einer in Wien, ein anderer in Berlin, ein anderer in Königsberg, ein anderer in Bonn oder Düsseldorf, alle durch fünfzig bis hundert Meilen von einander getrennt, sodaß persönliche Berührun gen und ein persönlicher Austausch von Gedanken zu den Seltenheiten gehört. Was dies aber wäre, empfinde ich, wenn Männer wie Alexander von Humboldt hier durchkommen und mich in dem, was ich suche und mir zu wissen nöthig, in einem einzigen Tage weiter bringen, als ich sonst auf meinem einsamen Wege in Jahren nicht erreicht hätte.

Nun aber denken Sie sich eine Stadt wie Paris, wo die vorzüglichsten Köpfe eines großen Reichs auf einem einzigen Fleck beisammen sind und in täglichem Verkehr, Kampf und Wetteifer sich gegenseitig belehren und steigern, wo das Beste aus allen Reichen der Natur und Kunst des ganzen Erdbodens der täglichen Anschauung offen steht; diese Weltstadt denken Sie sich, wo jeder Gang über eine Brücke oder einen Platz an eine große Vergangenheit erinnert, und wo an jeder Straßenecke ein Stück Geschichte sich entwickelt hat! Und zu diesem allen denken Sie sich nicht das Paris einer dumpfen geistlosen Zeit, sondern das Paris des neunzehnten Jahrhunderts, in welchem seit drei Menschenaltern durch Männer wie Molière, Voltaire, Diderot und ihresgleichen eine solche Fülle von Geist in Curs gesetzt ist, wie sie sich auf der ganzen Erde auf einem einzigen Fleck nicht zum zweitenmale findet, und Sie werden begreifen, daß ein guter Kopf wie Ampère, in solcher Fülle ausgewachsen, in seinem vierundzwanzigsten Jahre wohl etwas sein kann.

Sie sagten doch vorhin,« fuhr Goethe fort, »Sie könnten sich sehr wohl denken, daß einer in seinem zwanzigsten Jahre so gute Stücke schreiben könne wie Mérimée. Ich habe gar nichts dawider, und bin auch imganzen recht wohl Ihrer Meinung, daß eine jugendlich-tüchtige Production leichter sei als ein jugendlich-tüchtiges Urtheil. Allein in Deutschland soll einer es wohl bleiben lassen, so jung wie Mérimée etwas so Reifes hervorzubringen, als er in den Stücken seiner ›Clara Gazul‹ gethan. Es ist wahr, Schiller war recht jung, als er seine ›Räuber‹, seine ›Cabale und Liebe‹ und seinen ›Fiesco‹ schrieb; allein wenn wir aufrichtig sein wollen, so sind doch alle diese Stücke mehr Äußerungen eines außergewöhnlichen Talents, als daß sie von großer Bildungsreife des Autors zeugten. Daran ist aber nicht Schiller schuld, sondern der Culturzustand seiner Nation und die große Schwierigkeit, die wir alle erfahren, uns auf einsamem Wege durchzuhelfen.

Nehmen Sie dagegen Béranger. Er ist der Sohn armer Ältern, der Abkömmling eines armen Schneiders, dann armer Buchdruckerlehrling, dann mit kleinem Gehalte angestellt in irgend einem Bureau, er hat nie eine gelehrte Schule, nie eine Universität besucht, und doch sind seine Lieder so voll reifer Bildung, so voll Grazie, so voll Geist und feinster Ironie und von einer solchen Kunstvollendung und meisterhaften Behandlung der Sprache, daß er nicht bloß die Bewunderung von Frankreich, sondern des ganzen gebildeten Europa ist.

Denken Sie sich aber diesen selben Béranger, anstatt in Paris geboren und in dieser Weltstadt herangekommen, als den Sohn eines armen Schneiders zu Jena oder Weimar, und lassen Sie ihn seine Laufbahn an gedachten kleinen Orten gleich kümmerlich fortsetzen, und fragen Sie sich, welche Früchte dieser selbe Baum, in einem solchen Boden und in einer solchen Atmosphäre aufgewachsen, wohl würde getragen haben.Also, mein Guter, ich wiederhole: es kommt darauf an, daß in einer Nation viel Geist und tüchtige Bildung in Curs sei, wenn ein Talent sich schnell und freudig entwickeln soll.

Wir bewundern die Tragödien der alten Griechen; allein recht besehen sollten wir mehr die Zeit und die Nation bewundern, in der sie möglich waren, als die einzelnen Verfasser; denn wenn auch diese Stücke unter sich ein wenig verschieden, und wenn auch der eine dieser Poeten ein wenig größer und vollendeter erscheint als der andere, so trägt doch, im Großen und Ganzen betrachtet, alles nur einen einzigen durchgehenden Character. Dies ist der Character des Großartigen, des Tüchtigen, des Gesunden, des Menschlich-Vollendeten, der hohen Lebensweisheit, der erhabenen Denkungsweise, der reinkräftigen Anschauung, und welche Eigenschaften man noch sonst aufzählen könnte. Finden sich nun aber alle diese Eigenschaften nicht bloß in den auf uns gekommenen dramatischen, sondern auch in den lyrischen und epischen Werken; finden wir sie ferner bei den Philosophen, Rhetoren und Geschichtschreibern, und in gleich hohem Grabe in den auf uns gekommenen Werken der bildenden Kunst, so muß man sich wohl überzeugen, daß solche Eigenschaften nicht bloß einzelnen Personen anhafteten, sondern daß sie der Nation und der ganzen Zeit angehörten und in ihr in Curs waren.

Nehmen Sie Burns. Wodurch ist er groß, als daß die alten Lieder seiner Vorfahren im Munde des Volks lebten, daß sie ihm sozusagen bei der Wiege gesungen wurden, daß er als Knabe unter ihnen heranwuchs und die hohe Vortrefflichkeit dieser Muster sich ihm so einlebte, daß er darin eine lebendige Basis hatte, worauf er weiter schreiten konnte. Und ferner, wodurch ist er groß, als daß seine eigenen Lieder in seinem Volke sogleich empfängliche Ohren fanden, daß sie ihm alsobald im Felde von Schnittern und Binderinnen entgegenklangen, und er in der Schenke von heitern Gesellen damit begrüßt wurde. Da konnte es freilich etwas werden!

Wie ärmlich sieht es dagegen bei uns Deutschen aus! Was lebte denn in meiner Jugend von unsern nicht weniger bedeutenden alten Liedern im eigentlichen Volke? Herder und seine Nachfolger mußten erst anfangen sie zu sammeln und der Vergessenheit zu entreißen, dann hatte man sie doch meistens gedruckt in Bibliotheken. Und später, was haben nicht Bürger und Voß für Lieder gedichtet! Wer wollte sagen, daß sie geringer und weniger volksthümlich wären als die des vortrefflichen Burns! Allein was ist davon lebendig geworden, sodaß es uns aus dem Volke wieder entgegenklänge? Sie sind geschrieben und gedruckt worden und stehen in Bibliotheken, ganz gemäß dem allgemeinen Lose deutscher Dichter. Von meinen eigenen Liedern was lebt denn? Es wird wohl eins und das andere einmal von einem hübschen Mädchen am Klaviere gesungen, allein im eigentlichen Volke ist alles stille. Mit welchen Empfindungen muß ich der Zeit gedenken, wo italienische Fischer mir Stellen des ›Tasso‹ sangen!

Wir Deutschen sind von gestern. Wir haben zwar seit einem Jahrhundert ganz tüchtig cultivirt, allein es können noch einpaar Jahrhunderte hingehen, ehe bei unsern Landsleuten so viel Geist und höhere Cultur eindringe und allgemein werde, daß sie gleich den Griechen der Schönheit huldigen, daß sie sich für ein hübsches Lied begeistern, und daß man von ihnen wird sagen können, es sei lange her, daß sie Barbaren gewesen.«


1827, 4. Mai.
Mittag bei Goethe und nachher


Zu Ehren Ampère's und seines Freundes Stapfer großes Diner bei Goethe. Die Unterhaltung war laut, heiter und bunt durcheinander. Ampère erzählte Goethen viel von Mérimée, Alfred de Vigny und andern bedeutenden Talenten. Auch ward sehr viel über Béranger gesprochen, dessen unvergleichliche Lieder Goethe täglich in Gedanken hat. Es kam zur Erwähnung, ob Béranger's heitere Liebeslieder vor seinen politischen den Vorzug verdienten, wobei Goethe seine Meinung dahin entwickelte, daß im allgemeinen ein rein poetischer Stoff einem politischen so sehr voranstehe als die reine ewige Naturwahrheit der Parteiansicht. »Übrigens«, fuhr er fort, »hat Béranger in seinen politischen Gedichten sich als Wohlthäter seiner Nation erwiesen. Nach der Invasion der Alliirten fanden die Franzosen in ihm das beste Organ ihrer gedrückten Gefühle. Er richtete sie auf durch vielfache Erinnerungen an den Ruhm der Waffen unter dem Kaiser, dessen Andenken noch in jeder Hütte lebendig, und dessen große Eigenschaften der Dichter liebt, ohne jedoch eine Fortsetzung seiner despotischen Herrschaft zu wünschen. Jetzt, unter den Bourbonen, scheint es ihm nicht zu behagen. Es ist freilich ein schwach gewordenes Geschlecht! Und der jetzige Franzose will auf dem Throne große Eigenschaften, obgleich er gern selber mitherrscht und selber gern ein Wort mitredet.«

Nach Tisch verbreitete sich die Gesellschaft im Garten, und Goethe winkte mir zu einer Spazierfahrt um das Gehölz auf dem Wege nach Tiefurt.

Er war im Wagen sehr gut und liebevoll. Er freute sich, daß mit Ampère ein so hübsches Verhältniß angeknüpft worden, wovon er sich für die Anerkennung und Verbreitung der deutschen Literatur in Frankreich die Schönsten Folgen verspreche.»Ampère,« fügte er hinzu, »steht freilich in seiner Bildung so hoch, daß die nationalen Vorurtheile, Apprehensionen und Bornirtheiten vieler seiner Landsleute weit hinter ihm liegen und er seinem Geiste nach weit mehr ein Weltbürger ist, als ein Bürger von Paris. Ich sehe übrigens die Zeit kommen, wo er in Frankreich Tausende haben wird, die ihm gleich denken.«


1827, 6. Mai. 
Mit Moritz Oppenheim 


Heute ließ er mich zum zweiten Male zu sich bitten, wobei ich ihm auch meine zwei Bilder vorstellte, denen er wirklich eine sehr lange Aufmerksamkeit schenkte, mir nur Schmeichelhaftes darüber sagte und sich dann ausbat, sie ein bischen bei ihm stehen zu lassen, weil – wie er sich ausdrückte – Sachen, über die man lange gedacht und gearbeitet hat, auch lange Zeit betrachtet werden müssen.




1827, 6. Mai. 
Mittag bei Goethe 


Abermalige Tischgesellschaft bei Goethe, wobei dieselbigen Personen zugegen sind wie vorgestern. Man sprach sehr viel über die ›Helena‹ und den ›Tasso‹. Goethe erzählte uns darauf, wie er im Jahre 1797 den Plan gehabt, die Sage vom Tell als episches Gedicht in Hexametern zu behandeln.

»Ich besuchte,« sagte er, »im gedachten Jahre noch einmal die kleinen Cantone um den Vierwaldstättersee, und diese reizende, herrliche und großartige Natur machte auf mich abermals einen solchen Eindruck, daß es mich anlockte, die Abwechselung und Fülle einer so unvergleichlichen Landschaft in einem Gedicht darzustellen. Um aber in meine Darstellung mehr Reiz, Interesse und Leben zu bringen, hielt ich es gut, den höchst bedeutenden Grund und Boden mit ebenso bedeutenden menschlichen Figuren zu staffiren, wo denn die Sage vom Tell mir als sehr erwünscht zustatten kam.

Den Tell dachte ich mir als einen urkräftigen, in sich selbst zufriedenen, kindlich-unbewußten Heldenmenschen, der als Lastträger die Cantone durchwandert, überall gekannt und geliebt ist, überall hülfreich, übrigens ruhig sein Gewerbe treibend, für Weib und Kind sorgend, und sich nicht kümmernd wer Herr oder Knecht sei.

Den Geßler dachte ich mir dagegen zwar als einen Tyrannen, aber als einen von der behaglichen Sorte, der gelegentlich Gutes thut, wenn es ihm Spaß macht, und gelegentlich Schlechtes thut, wenn es ihm Spaß macht, und dem übrigens das Volk und dessen Wohl und Wehe so völlig gleichgültige Dinge sind, als ob sie gar nicht existirten.

Das Höhere und Bessere der menschlichen Natur dagegen, die Liebe zum heimathlichen Boden, das Gefühl der Freiheit und Sicherheit unter dem Schutze vaterländischer Gesetze, das Gefühl ferner der Schmach, sich von einem fremden Wüstling unterjocht und gelegentlich mißhandelt zu sehen, und endlich die zum Entschluß reifende Willenskraft, ein so verhaßtes Joch abzuwerfen – alles dieses Höhere und Gute hatte ich den bekannten edlen Männern Walther Fürst, Stauffacher, Winkelried und andern zugetheilt, und dieses waren meine eigentlichen Helden, meine mit Bewußtsein handelnden höhern Kräfte, während der Tell und Geßler zwar auch gelegentlich handelnd auftraten, aber imganzen mehr Figuren passiver Natur waren.

Von diesem schönen Gegenstande war ich ganz voll, und ich summte dazu schon gelegentlich meine Hexameter. Ich sah den See im ruhigen Mondschein, erleuchtete Nebel in den Tiefen der Gebirge. Ich sah ihn im Glanze der lieblichsten Morgensonne, ein Jauchzen und Leben in Wald und Wiesen. Dann stellte ich einen Sturm dar, einen Gewittersturm, der sich aus den Schluchten auf den See wirft. Auch fehlte es nicht an nächtlicher Stille und an heimlichen Zusammenkünften über Brücken und Stegen.

Von allem diesen erzählte ich Schillern, in dessen Seele sich meine Landschaften und meine handelnden Figuren zu einem Drama bildeten. Und da ich andere Dinge zu thun hatte und die Ausführung meines Vorsatzes sich immer weiter verschob, so trat ich meinen Gegenstand Schillern völlig ab, der denn darauf sein bewundernswürdiges Gedicht schrieb.«

Wir freuten uns dieser Mittheilung, die allen interessant zu hören war. Ich machte bemerklich, daß es mir vorkomme, als ob die in Terzinen geschriebene prächtige Beschreibung des Sonnenausgangs in der ersten Scene vom zweiten Theile des ›Faust‹ aus der Erinnerung jener Natureindrücke des Vierwaldstättersees entstanden sein möchte.

»Ich will es nicht leugnen,« sagte Goethe, »daß diese Anschauungen dort herrühren, ja ich hätte ohne die frischen Eindrücke jener wundervollen Natur den Inhalt der Terzinen gar nicht denken können. Das ist aber auch alles, was ich aus dem Golde meiner Tell-Localitäten mir gemünzt habe. Das übrige ließ ich Schillern, der denn auch davon, wie wir wissen, den schönsten Gebrauch gemacht.«

Das Gespräch wendete sich auf den ›Tasso‹, und welche Idee Goethe darin zur Anschauung zu bringen gesucht.»Idee?« sagte Goethe – »das ich nicht wüßte! Ich hatte das Leben Tasso's, ich hatte mein eigenes Leben, und indem ich zwei so wunderliche Figuren mit ihren Eigenheiten zusammenwarf, entstand mir das Bild des Tasso, dem ich als prosaischen Contrast den Antonio entgegenstellte, wozu es mir auch nicht an Vorbildern fehlte. Die weitern Hof-, Lebens- und Liebesverhältnisse waren übrigens in Weimar wie in Ferrara, und ich kann mit Recht von meiner Darstellung sagen: sie ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch.

Die Deutschen sind übrigens wunderliche Leute! Sie machen sich durch ihre tiefen Gedanken und Ideen, die sie überall suchen und überall hineinlegen, das Leben schwerer als billig. Ei, so habt doch endlich einmal die Courage, euch den Eindrücken hinzugeben, euch ergötzen zu lassen, euch rühren zu lassen, euch erheben zu lassen, ja euch belehren und zu etwas Großem entflammen und ermuthigen zu lassen; aber denkt nur nicht immer, es wäre alles eitel, wenn es nicht irgend abstracter Gedanke und Idee wäre! Da kommen sie und fragen, welche Idee ich in meinem ›Faust‹ zu verkörpern gesucht. Als ob ich das selber wüßte und aussprechen könnte! Vom Himmel durch die Welt zur Hölle, das wäre zur Noth etwas; aber das ist keine Idee, sondern Gang der Handlung. Und ferner, daß der Teufel die Wette verliert, und daß ein aus schweren Verirrungen immerfort zum Bessern aufstrebender Mensch zu erlösen sei, das ist zwar ein wirksamer, manches erklärender guter Gedanke, aber es ist keine Idee, die dem Ganzen und jeder einzelnen Scene im besondern zu Grunde liege. Es hätte auch in der That ein schönes Ding werden müssen, wenn ich ein so reiches, buntes und so höchst mannigfaltiges Leben, wie ich es im ›Faust‹ zur Anschauung gebracht, auf die magere Schnur einer einzigen durchgehenden Idee hätte reihen wollen!

Es war im ganzen,« fuhr Goethe fort, »nicht meine Art, als Poet nach Verkörperung von etwas Abstractem zu streben. Ich empfing in meinem Innern Eindrücke, und zwar Eindrücke sinnlicher, lebensvoller, lieblicher, bunter, hundertfältiger Art, wie eine rege Einbildungskraft es mir darbot, und ich hatte als Poet weiter nichts zu thun, als solche Anschauungen und Eindrücke in mir künstlerisch zu runden und auszubilden und durch eine lebendige Darstellung so zum Vorschein zu bringen, daß andere dieselbigen Eindrücke erhielten, wenn sie mein Dargestelltes hörten oder lasen.

Wollte ich jedoch einmal als Poet irgend eine Idee darstellen, so that ich es in kleinen Gedichten, wo eine entschiedene Einheit herrschen konnte und welches zu übersehen war, wie z.B. ›Die Metamorphose der Thiere‹, die ›der Pflanzen‹, das Gedicht ›Vermächtniß‹ [?], und viele andere. Das einzige Product von größerm Umfang, wo ich mir bewußt bin nach Darstellung einer durchgreifenden Idee gearbeitet zu haben, wären etwa meine ›Wahlverwandtschaften‹. Der Roman ist dadurch für den Verstand faßlich geworden, aber ich will nicht sagen, daß er dadurch besser geworden wäre! Vielmehr bin ich der Meinung: je incommensurabler und für den Verstand unfaßlicher eine poetische Production, desto besser.«

Keine Kommentare: