> Gedichte und Zitate für alle: Woldemar von Biedermann : Gespräche Goethes 1815 (56)

2019-10-06

Woldemar von Biedermann : Gespräche Goethes 1815 (56)




1815

1815, 5. September. 
Mit Sulpiz Boisserée


Goethe besucht mich morgens mit Dr. Seebeck. Findet die Steinmetzordnung auf meinem Tisch; ich erzähle ihm davon. Nachmittags begegne ich Goethe auf der Zeil, spreche vom Graf Solms [der im Auftrag des Minister Freiherrn v. Stein mit Boisserée über die Unterstützung der Kunstbestrebungen der Brüder verhandelt hatte], da sagte er: »Ei! das ist gut, so macht sich ja Eure Sache von selbst, und Ihr braucht mich nicht einmal. Wenn Ihr mich aus dem Spiel lassen könnt, wäre mir's lieb.« Ich wehre sehr dagegen, sage, daß er selbst dem Grafen erst einen Anhalt gebe, daß dieser mir gezeigt, wie lieb ihm das sei. Mit Goethe bei Guaita. Der junge Maler Ludwig Grimm zeigt seine Zeichnungen, Frau von Savigny ist seine Beschützerin; übertriebenes Lob eines schönen Talents. Goethe sagt: »Jeden Sommer wachsen Rosen, die Talente sind immer da, wenn sie nur entwickelt würden. Ich als ein guter Jesuitenprovinzial würde dem jungen Mann aufgeben, ein Jahr lang keiner Frau seine Zeichnungen zu zeigen.« Goethe sagte mir, daß er ein Quartier in der Stadt wünsche. Ich sehe die Wohnung bei Lindheimer für ihn an. Nachmittag bin ich wieder auf der Mühle. Ich trage ihm die Sache wegen dem Quartier vor, und spreche mit Willemer, daß er es ihm in seinem Haus verschaffe. Wir haben eine weitläufige Unterhandlung darüber. Goethe ganz gerührt, freundlich.


1815, 8. September. 
Mit Sulpiz Boisserée


Den 8. ist Goethe in die Stadt in Willemers Haus gezogen; ich komme abends um sechs Uhr zu ihm. Er steht am Fenster, bewundert die Pracht brasilianischer Trockenhäute, er rief dabei aus: »was das für ein Glanz und eine Farbe ist!« Dadurch kommen wir auf die Farbenlehre. Goethe: »Es findet sich überall ein Haken, ein Kreuz in aller Expansion und Contradiktion, überall dasselbe, alles nur Metamorphose.« Ja in der Naturansicht lasse ich mir den Pantheismus schon gefallen; weiß wohl, daß man damit am weitsten ausreicht. Goethe: »die Natur ist so, daß die Dreieinigkeit sie nicht besser machen könnte. Es ist eine Orgel, auf der unser Herrgott spielt, und der Teufel tritt die Bälge dazu.«

1815, 10. September. 
Mit Sulpiz Boisserée

Sonntag den 10. abends bei Goethe. Feuerwerk in der Schwimmschule auf dem Main. Meine erste Kunstliebhaberei war Rubens in der Düsseldorfer Gallerie. Ich lese den Ardinghello. Gespräch über Heinse; Zügellosigkeit des Genies; über Stil; Wieland gerühmt. Ich äußere wieder den Wunsch, den Winter in Weimar zuzubringen, um mir bei meinen schriftstellerischen Versuchen Rath zu holen. Er räth abermals ab. Seine Heiden machen es ihm, der er doch selbst ein Heide sei, oft zu arg; das sei nichts für mich; ich würde bloß auf ihn reducirt sein, das sei zu wenig, weil er mich nicht oft genug in freier, vertraulicher Ruhe sehen könne. Er zeigt mir das Werklein, es ist schon fingerdick angewachsen, er hat dem Herzog schon davon geschrieben. Ich frage nach dem Titel, ob: Von Kunst und Bildung am Rhein; er meint: Von Kunst und Alterthum im südwestlichen Deutschland! Ich will gern den Rhein genannt haben, es ist bezeichnender, charakteristischer. Ja, meint er, da müsse auch der Meyer [Main?] nicht vergessen werden u.s.w. Er wünscht noch Zusätze zu meinem Entwurf. Goethe sagt, er habe sich oft gefragt, warum er sich mit so vielerlei Dingen abgegeben? Habe doch so entschiedene Anlage und Neigung zum Dichten, warum er nicht allein dabei geblieben? warum er sich auch in die Wissenschaften gewagt, und es ihm keine Ruhe gelassen, selbst in Italien nicht. Ich meinte, er habe seinem Zeitalter die Schuld und Buße bezahlen müssen; er stimmt ein.


1815, 11. September. 
Mit Sulpiz Boisserée

Begegnet mir Goethe in der Fahrgasse, maulaffend. Er nimmt mich mit, wir gehen in das Münster, ins Conklave u.s.w. Der üble geringe Eindruck des Gebäudes in der Jugend wird ihm begreiflich. Wir wandern durch die Messe am Main; alle Landschaften werden bedacht, die ihre Produkte und Waaren hieher senden. Freude, daß die Welt, das Leben für Bedürfnisse sich immer gleich bleiben. Ein Trost für die Seelenwanderer. Wir kamen endlich zum Krahnen. Goethe fragte nach allen Kisten und Fässern, was darin sei; wandte sich an einen jungen Schiffer, der war von Linz, sprach ganz kölnisch; wir wanderten unter die Bäume, wo der Wein gelegt zu werden pflegt, und dann nach Hause.

Es kommt die Rede auf die Zeichnungen von Cornelius, Overbeck und andern bei Wenner, die ich sehen soll, da fehle an allen etwas. Im jetzigen Zustand der Kunst sei bei vielem Verdienst und Vorzügen große Verkehrtheit; die Bilder von Maler Friedrich können eben so gut auf den Kopf gesehen wer den. Goethes Wuth gegen dergleichen; wie er sie ehemals ausgelassen, mit Zerschlagen der Bilder an der Tischecke, Zerschießen der Bücher u.s.w.; er habe sich da nicht erwehren können, mit einem Ingrimm zu rufen: das soll nicht aufkommen! und so habe er irgend eine Handlung daran üben müssen, um seinen Muth zu kühlen. Ich erinnere an Jakobi, Woldemar u.s.w. Goethe: »Ja deßwegen haben die Hamburger, die Reimarus und Consorten, mich nie leiden können, immer nur gesagt, ich sei ein scharfsinniger Mensch, habe dann und wann gute Einfälle.« Der Reimarus'sche Theetisch sei im Privatisiren ein Stichwort der Weimarer Heiden. Ich bemerke, es seien in Frankfurt viele Kunstsammlungen, mehr als ich gedacht, und bei so viel Leben, Handel und Bewegung ließe sich da wohl auch eine schöne Wirksamkeit für uns denken. Goethe meinte dagegen, wir müßten durchaus nach Köln, auch ließe sich in solchen Dingen allein mit einer monarchischen Regierung was rechtes ausrichten.

Er zeigt mir seine Ansicht der altdeutschen Kunst und Behandlung derselben, in einem Beispiel an der Darbringung im Tempel von Eyck. Hier ist die Tradition Unterlage, wirkt gleichsam als Folie, in dem Gemüthlichen, Natürlichen und Vernünftigen, welches alles mit der höchsten Fertigkeit und Talent in Nachahmung der Natur und Behandlung der Farbe verbunden ist. Das Bild befriedigt die Forderung des Natürlichen, Gemüthlichen, Vernünftigen; die Tradition tritt zurück und dient als bloße Folie.


1815, 13. September. 
Mit Sulpiz Boisserée


Mittwoch den 13. morgens um sieben Uhr läßt mich Goethe wecken, und zu sich rufen. Er rief mir zu: »Ich muß Euch wecken aus Eurem Sündenschlaf, hab' Euch was zu sagen. Wir gehen nach Heidelberg, der Herzog kommt hin; er will am 20. in Karlsruhe, Freitag am 22. in Heidelberg sein. Wir gehen Montags ab, bleiben Dienstag in Darmstadt, sind Mittwoch in Heidelberg.« Er hatte eine rechte Freude, mir seinen Entschluß anzukündigen.


1815, 15. September. 
Mit Sulpiz Boisserée

Morgens war ich noch mit Goethe bei Serrand. Im Herausfahren war er dankbar dafür, daß ich ihn dahin geführt habe. Er sagte: so einzelne bedeutende Werke sind einem auf einmal mehr, als sonst hundert andere; es war ihm das liebste und lehrreichste in Frankfurt. In Hobbema, in Paul Veronese, in Rubens erscheint die Selbständigkeit der Kunst; wo der Kunst der Gegenstand gleichgültig, sie rein absolut wird, der Gegenstand nur der Träger ist, da ist die höchste Höhe; das erscheint auch im Wouvermann bei Brentano. Schon oft war dies Princip zwischen uns zur Sprache gekommen, zuerst und am auffallendsten am 7. draußen auf der Mühle; nachmittags als von der Beschreibung der Reise der drei Könige von Hemmelink die Rede war. Sie sei nicht recht; man müsse sie nicht mit der Verkündigung, sondern mit den drei Königen anfangen, welche auf den Bergen den Stern beobachten, und die andern Darstellungen episodisch mitnehmen. Sonst sei die ganze Art meiner Beschreibung gut, nur würde er sie nicht so machen, weil er eine ganz andere Ansicht der Kunst habe. Auf meine Frage, worin diese Verschiedenheit bestehe? wollte er anfangs nicht heraus. Es sei eine Antinomie der Vorstellungsart, da helfe alles nichts, sich darüber zu verstehen wäre vergebens. Wir hingen am Gegenstand, und müssen daran hängen, das sei recht, das gehöre zur ganzen Ansicht, aber es sei nicht das Höchste. Der Spielmann sei noch irgend anders begraben. Ich erwiderte, daß ich nicht begriffen, was er meine; ich glaube sehr, daß es einen Punkt gebe, worin wir zusammen kämen, und brauche das Gleichniß von einem Spitzbogen oder Parabel; einerseits setzte ich den Gegenstand, die Bedeutung, andererseits die Form, die Regel, das freie Spiel der Kunst, mit dem Gegenstand. Ich finde das Höchste nur in der Vereinigung von beiden; in Raphael zum Beispiel und in den schönsten antiken Werken. Er mußte sich damit zufrieden stellen, wollte aber nicht recht zugeben, daß es mir Ernst sei. Wir kamen wieder auf den Pantheismus, ich brachte es darauf mit einigen Neckereien, wegen dem Abstrahiren vom Gegenstand, und so waren wir bald im allgemeinen. Er sagte mir, in Beziehung auf meine Arbeiten, auf mein Treiben und Vorhaben, es gehe mir wie dem Seebeck; wir säßen im Fegefeuer, und dächten nicht, daß uns nur eine papierene Wand vom Himmel trenne. Hätten wir nur den Muth, diese durchzuschlagen, so wäre uns geholfen. Im vorigen Jahr hatte er mir gesagt, er hätte Freunde, die treffliche Arbeiten machten, er selbst hätte ihnen Vorschub gethan, ihnen seine Hefte gegeben u.s.w., aber sie könnten nie zur Ausführung kommen, da wäre immer etwas woran es fehle, sie würden nie fertig; das schien er diesmal zu verschiedenenmalen auch von Seebeck zu sagen. Merkwürdige Erfahrung, sagt Goethe, habe er gemacht an den Zeichnungen bei Wenner; keine behage ihm, und da sei doch der Gegenstand nicht Schuld, denn sie seien aus allen Zeiten. Er habe sich gefragt und gefunden, der Grund liege darin, daß sie alle nicht unmittelbar aus erster Quelle entstanden seien.

Goethe hatte der Frau Willemer ein Blatt des Gingko biloba als Sinnbild der Freundschaft aus der Stadt geschickt. Man weiß nicht, ob es eins ist, das sich in zwei Theile theilt, oder zwei, die sich in eins verbinden.


1815, 16. September. 
Mit Sulpiz Boisserée


Goethe liest mir, was er von den Steinmetzen geschrieben. Die Kölner Reise. Wallraf. Die Kapelle von Fuchs. Von uns. Vom Dom. Ausbau desselben. Kononikus Pick. Von Frankfurt hat er ein dickes Paket, will aber nichts lesen lassen; das müsse sich erst ordnen, liege noch zu wild durcheinander.

1815, 16. September. 
Abends bei Willemers

Abends singt Marianne Willemer mit ganz besonderem Affekt und Rührung: »der Gott und die Bajadere«. Dann: »kennst du das Land« und mehreres andere, ausdrucksvoller als ich es je von ihr gehört. Die kleine Frau bemerkte, und Goethe bestätigte, daß die Zeit während der Musik unendlich langsam gehe; die größten Compositionen drängten sich in einen kurzen Zeitraum zusammen, und scheine einem bei dem größten Interesse, eine lange Zeit verflossen. Nach Tisch liest Goethe den Siebenschläfer, den Todtentanz, das Sonett: »Am jüngsten Tag, wenn die Posaunen schallen.«


1815, 17. September. 
Bei von Willemers 


Sonntag den 18.1 zahlreicher Mittagstisch im großen Saal. Goethe erzählt von der schönen Müllerstochter in der Nonnenmühle bei Wiesbaden, mit der ihn Frau Pansa bekannt gemacht hat, als ein Gegenstück zu seiner Dorothea. Reinlichkeit, Wohlhabenheit, Schönheit, Derbheit. Sie spielt Klavier, die Brüder sind zugleich Fuhrleute, eine alte Mutter steht dem Haus vor. Eine alte Muhme ist der Apotheker aus »Hermann und Dorothea« und recht gut. Sie hat noch eine Zahl kleiner Geschwister. Nachmittags kömmt Herr Mieg, früherer Hofmeister der Familie. Goethe hatte eine Apprehension, schon als der Mann herein trat, und ihm als ein Freund des Hauses angekündigt wird. Abends Gesang. Marianne singt wieder »der Gott und die Bajadere«. Goethe wollte dies anfangs nicht; es bezog sich dieses auf ein Gespräch, das ich kurz vorher mit ihm geführt, daß es fast ihre eigene Geschichte sei, so daß er wünschte, sie sollte es nimmer singen. Nachher singt sie hübsche Volkslieder; dann aus »Don Juan«: »Gieb mir die Hand mein Leben«, als Arie. Goethe nennt sie einen kleinen Don Juan; wirklich war ihr Gesang so verführerisch gewesen, daß wir alle in lautes Lachen ausbrachen und sie, den Kopf in die Noten versteckt, sich nicht erholen konnte.

Die lustige Stimmung setzte sich auch beim Abendessen fort, die Frauen brachten allerlei Späße vor, wozu die Gegenwart des Herrn Mieg Anlaß gab; es waren meist Erinnerungen ihrer italienischen Reise. Dann wurde, weil wir auf der Mühle waren, viel Scherz getrieben mit der Anspielung auf die Müllerin, und auf den Müllersknecht: an dem ist nichts zu verderben. Man bat Goethe wegen Herrn Mieg darum, noch etwas zu lesen, und die kleine Müllerin schmückte sich mit ihrem Turban und einem türkischen Shawl, den Goethe ihr geschenkt hatte. Es wurde viel gelesen, auch viele Liebesgedichte an Jussuph und Suleika. Der Todtentanz wurde gesagt und anderes. Willemer schlief ein und wurde darum gefoppt. Wir blieben deßhalb desto länger zusammen, bis ein Uhr. Es war eine schöne Mondscheinnacht. Goethe will mich in seinem Zimmer noch bei sich behalten; wir schwatzen, dann fällt ihm ein, mir den Versuch mit den farbigen Schatten zu zeigen, wir treten mit einem Wachslicht auf den Balkon und werden am Fenster durch die kleine Frau belauscht.

1 Irrig.

1815, 18. September. 
Mit Sulpiz Boisserée 


Nachmittags fuhr ich mit Goethe durch den Wald nach Darmstadt, schöne Lichter spielen an den Baumstämmen und auf dem Rasen. Wir kamen von dem Gesang der Willemer auf Musik, auf Mozart zu sprechen. Dann las er mir ein Lied eines Freiwilligen, sehr hübsch, naiv und ironisch zugleich, durch eine gewisse Selbstgefälligkeit. Es kommt in die neue Ausgabe, hinter »Vanitas Vanitatum« zu stehen.


1815, 19. September. 
Mit Sulpiz Boisserée und Georg Moller 


Den 20. September1 kommen wir nach Darmstadt, es ist hell und kalt. Am andern Morgen acht Uhr gehen wir ins Museum, Goethe zu den Naturalien, ich zu den Gemälden und Statuen; dann beschäftigten uns noch Smeathons Leuchtthürme bis halb zwei Uhr; da geht Goethe nach Hof. Als Goethe zurück kam, gingen wir zusammen zu Moller. Im Gehen erzählt er mir die Entstehung des Lingham. Es sei ein unendlicher Geist und Weisheit in den indischen Sagen; er verehre sie sehr hoch. Aber nur müßte er ihre Bilder nicht dabei sehen, die verdürben gleich die Phantasie bis zum Verfluchen! Bei Moller sahen wir den Straßburger und den Freiburger Münster und sein kleines Werk, sein Theater und seine Kirche. An dieser entwickelte Goethe seine Grundsätze über Architektur. Alles müsse in drei Theile fallen; das Gesetz der Säulenordnung auf das Ganze angewandt werden, denn es käme wesentlicher darauf an, daß das Ganze harmonisch, als daß das Einzelne immer streng nach der hergebrachten Schnur und Regel sei.

Beim Nachtessen war Primavesi, er sprach abgeschmacktes Zeug über Dekorationen, rühmte seinen Mondschein mit künstlichem Mond, und will auch eine künstliche Sonne auf's Theater bringen: eine Glaskugel mit altem Rheinwein gefüllt, weil keine gefärbte Flüssigkeit so prächtig, klar u.s.w. sei. Ironie half nichts gegen ihn. Goethe erzählte von Mondschein in Rom, ohne allen Mond, in einer sehr schönen Dekoration. Man wählt dazu Architektur mit krausem mannigfaltig verziertem Umriß, ganz dunkel auf dem Himmel abgeschnitten, davor eine Mauer und niedrige Gebäulichkeiten ganz hell wie von Mondschein beleuchtet.

1 Jedenfalls den 18.


1815, 20. September. 
Mit Sulpiz Boisserée und Anton Thibaut

Mittwoch den 21.1 fuhren wir nach Heidelberg. Unser Gespräch führte uns auf die Antike. Goethe wünschte sich in einem Statuensaal zu wohnen und zu schlafen, um unter den Göttergestalten zu erwachen. Ich habe mir zuerst die Büsten in physiognomischer Rücksicht angesehen, die der Götter, sowie der Personen; überall herrscht dieselbe Großheit der Naturansichten; ich meine, die Griechen hätten keine Anatomie getrieben in der Kunst, sondern bloß durch die Oberfläche mit ihrem glücklich scharfen Auge den ganzen Körperbau durchgesehen. Goethe sagte ausdrücklich das Gegentheil; es wäre auch ohne Anatomie nicht möglich. Ich sprach dann auch meine Verehrung aus über die Einheit und das glückliche Maßhalten in allen ihren Werken. Goethe sagte darauf: »Ja, in Allem, auch in ihrem Theater; nehmen wir Calderon, Shakespeare dagegen; diesem Letztern fehlt die Einheit; er war von seiner Zeit abhängig, so gut wie Jeder, die Schlegel mögen sagen was sie wollen. Shakespeare ist mehr episch und philosophisch als dramatisch.« Goethe hat »Romeo und Julie« für die Bühne abgeändert; er gibt mir eine weitläufige Beschreibung der Endscene; von dem Theatereffekt der Lampe in der Gruft über der Leiche u.s.w. Cornelius' Zeichnung hatte uns darauf gebracht, worin diese Handlung ganz verfehlt ist.

Dann kamen wir auf den »Faust« die Fortsetzung desselben. Über Goethes Werke überhaupt. Meisters Wanderungen. Novellen. Auf die bestimmte Zahl der verschiedenen möglichen Liebesverwicklungen. Ich brachte das Gespräch auf seine Naturansichten, auf die versprochene Formenlehre. Die Metamorphose ist in Allem, auch in den Thieren. Der Kopf ist nichts anderes, wie ein Wirbelbein. Diesen Gedanken hat ihm Oken gestohlen, als er denselben abends bei Fromanns aussprach, und ihn auf der Stelle in einer schon in der Druckerei befindlichen Abhandlung oder Programm eingerückt. – Goethe sprach den Wunsch aus: jetzt, da wir einmal auf dem Weg sind, sollten wir nur sofort nach München und Italien fahren. Wir kamen zu Mittag nach Heidelberg.

Thibaut bekennt, daß er Unrecht gehabt in Vertheidigung von Görres, im vorigen Jahr. Goethe erwidert uns darauf: »Ja, lehrt mich die Welt nicht kennen. Ich habe gleich, als der Enthusiasmus los ging, den Fluch des Bischofs Arnulphus über alles deutsche politische Gerede ausgesprochen, und mir dadurch die Qual vom Halse gehalten. Wie sie mir nur davon anfingen, hub ich gleich an: ich verfluche euch u.s.w. Da waren sie bald still und ließen mich ungeschoren.«

1 Mittwoch war der 20.


1815, 21. September. 
Mittag bei Sulpiz Boisserée 


Donnerstag den 22.1 mittags, waren Creuzer und Daub bei uns zum Essen. Goethe erzählte von den neugriechischen Dichtungen von etwa fünfzig Jahren her. Die Helden seien meist unabhängige Seeräuber und in den Gebirgen Landräuber, oder Familien auf kleinen Inseln, es seien meist dramatische Romanzen. Alle Elemente, lyrische, dramatisch-epische, seien in Einer Form. Der Geist derselben sei der nordische, schottische mit dem südlichen und altmythologischen verbunden. Das Gespräch eines Adlers mit dem abgeschlagenen Haupt eines Räuberanführers, welches er auf die Felshöhe getragen. Charon, ein ter, welcher die Seelen der Gestorbenen hinten an den Schweif seines Rosses bindet, die der Kinder an den Sattel hängt. Ein Pferd, welches seinen erschlagenen Herrn beklagt und mit der Hufe scharrt. Ein Bräutigam, der auf der Überfahrt zur Braut in einem siegreichen Gefecht mit den Türken bleibt, und wünscht, es solle der Braut verschwiegen werden.

1 Donnerstag war der 21.



1815, 23. (?) September. 
Mittag bei Sulpiz Boisserée


Mittags, als wir bei Tische saßen, kömmt Willemer unverhofft. Ich hatte ihm, weil der Herzog noch immer erwartet wurde, geschrieben, am Montag zu kommen. Nachdem wir eine kurze Weile gesessen und uns von der ersten Überraschung erholt hatten, sprang Goethe plötzlich auf, ich folgte ihm in sein Zimmer, er sagte: »Wir können doch nicht essen, während die Frauen im Gasthof warten. Das gibt ein Precipicio der ersten Sorte!« Ich ging zu den Frauen, und erst als ich sie brachte, setzte Goethe sich wieder zu Tische.


1815, 29. September. 
Bei Boisserées Gemäldesammlung 


Als während des zweiten Aufenthaltes Goethes in Heidelberg der Großherzog von Weimar dorthin kam und zum Besuch der Sammlung bei den Boisserées sich melden ließ, sagte Goethe zu diesen: »den überlassen Sie nur mir! Haben Sie nicht ein recht altes aber merkwürdiges Bild?« Es wurde eins aus der Rumpelkammer herbeigeholt; das hing Goethe gerade über der Thür des Bildersaals auf. Als der Großherzog erschien, unterhielt sich Goethe mit ihm über die Sammlung, rühmte besonders die geschichtliche Folge und Übersicht und machte dann, um dies mit Beispielen zu belegen, zunächst auf das alte Bild über der Thür aufmerksam. Aber während er noch sprach, war der Großherzog mit einem Mal zur Thür hinaus, man wußte nicht wie. »Das Bild hat seine Wirkung gethan,« sagte Goethe, der dem Fürsten nachgeeilt war, als er zu den Freunden zurückkam.

[In S. Boisserée's Tagebuch steht am 29. September: »Ankunft des Herzoges von Weimar. Die Thurm risse werden in Goethes Zimmer aufgehängt.«]


1815, letztes Drittel im September. 
Mit Georg Friedrich Kreuzer


Eines Nachmittags begegneten wir [G. Parthey und Genossen] Creuzern oben auf dem Schlosse und begleiteten ihn durch einpaar Gänge. Er hielt ein Blatt des wunderbaren chinesischen oder japanischen Baumes Gingko biloba in der Hand, von dem ein Stämmchen im Schloßgarten steht. Dabei theilte er uns mit: er habe, als Goethe 1815 Heidelberg besuchte, mit diesem bei einem Spaziergange im Schlosse ein langes und interessantes Gespräch über die symbolische Deutung und Sinnigkeit der hellenischen mythologischen Personen und Erzählungen geführt; er habe versucht, Goethen auseinanderzusetzen, wie jede helle nische Gestalt doppelt anzusehen sei, weit hinter der bloßen Realität ein höheres Symbol verborgen liege. Die einfachen Fälle seien bekannt genug: Ares als Kriegsgott bedeute auch den Krieg, Hebe als die Jugendgöttin auch die Jugend; es gebe aber entferntere Anwendungen davon: der Fluß, in dem die Jungfrauen baden, empfange gewissermaßen ihre Erstlinge, so habe es geschehen können, daß ein verwegener Lieb haber als Flußgott die Sache in buchstäbliche Erfüllung gebracht. Dies dürfe aber nicht bloß als eine Personification der Zustände betrachtet werden, sondern Doppelsinn sei allen antiken Mythen immanent, wenngleich nicht immer leicht herauszufinden. Den Glaubenden genügte das stricte Wortverhältnis, den Wissenden ward der höhere Sinn in geheimen Weihen aufgeschlossen. – Goethe ging auf diese Erörterung mit dem Eifer ein, als sie gerade bei dem Gingko biloba stillstanden; er pflückte ein Blatt und sagte: »Also ungefähr wie dieses Blatt: eins und doppelt.«


1815, letztes Drittel im September. 
Mit Wilhelm Grimm


Goethe... wohnt bei Boisserées und schreibt über die Gemälde; außerdem gibt er sich mit persischen Sachen ab, hat ein Päckchen Gedichte in Hafi's Geschmack gemacht, liest und erklärt die [chinesische Erzählung] Haoh Kiöh Tschwen und lernt bei Paulus arabisch. Er war so gnädig einpaarmal dazusein, als wir die Bilder besahen und kam auf einmal zu mir und fragte nach unsern literarischen Arbeiten. Ich sagte ihm dann Verschiedenes, unter andern auch, daß das mannigfache Leben der Sagen, ihr Hin- und Herströmen, ihre Vereinigung und Trennung ein besonderes Augenmerk sei. »Ja!« antwortete er, »was kann die Kritik anders sein als die Beobachtung der verschiedenen Wirkungen der Zeit« – was ganz meine Meinung auch ist. Creuzer hat mir gesagt, daß ihn (Goethe) besonders die Prosaübersetzung der Edda gefreut; er redet noch immer von einer ähnlichen Arbeit beim Homer.


1815, letztes Drittel im September. 
Mit Louis [Ludwig] Grimm


Der Lui (Louis Grimm, jüngerer Bruder, Maler) hat es aus natürlichem Gefühl ebenso gemacht [d.h. sich gegen Goethe zurückhaltend benommen], und zu dem ist er [Goethe] auch gekommen, hat ihn über die Rheinreise gefragt und dergl., recht liebreich.

1815, 1. October. 
Mit Sulpiz Boisserée 


Goethe... klagte über die Vogelnestergewölbe in Henry VII. chapel in Salisbury Chathedral, und über den unsinnigen Bücherluxus in England. Ein botanisches Werk, bloß von Tannen handelnd, kostet achtzig Guineen.


1815, 2. October. 
Mit Sulpiz Boisserée


Goethe... sagte mir: »An Euerm Domriß ist mir ein Licht aufgegangen; ich habe aperçus gehabt. Ich glaube jetzt das ganze Geheimniß der Architektur heraus zu haben.«


1815, 3. October. 
Mit Sulpiz Boisserée

Dienstag morgens um sechs Uhr fuhr ich mit Goethe nach Karlsruhe. Goethe fing gleich damit an, er habe dem Domriß was abgesehen. Der Domriß habe ihm ganz neue Aufschlüsse über die Architektur gegeben. Er habe nie mit dieser Kunst recht fertig werden können. Mit den Farben sei es ihm auch so gegangen, bis er sie in physiologische, physische und chemische eingetheilt habe; jetzt hoffe er, mit der Architektur auch fertig zu werden; nur das Verhältniß zur Natur sei ihm noch nicht recht klar. Ich sprach meine Meinung aus, daß Naturnachahmung zu Grunde liege, aber nicht gerade unmittelbare, daß alle größere Architektur von den Höhlen ausgegangen, daß zu unterscheiden sei zwischen häuslicher und heiliger Architektur, zwischen Architektur des Bedürfnisses und der einer höhern Bestimmung. Goethe sagte, er begreife jetzt erst recht, warum ich den Dom von Köln so vorgezogen, da sehe er, wie alles Andere dagegen verschwinde, er finde Princip darin und mit der größten Consequenz durchgeführt. Ich frage vergebens, daß er es ausspreche. Es sei noch nicht Zeit, ich würde es schon erfahren. Ich äußerte, daß ich sehr begierig darauf sei, und ob es mit dem zusammen stimmte, was ich darüber dächte; verschweige aber auch mein Geheimniß, so sehr ich mich auch gedrungen fühlte, es ihm zu offenbaren. Doch ein Schweigen gebiert das andere. Er sagte, er habe den Herzog in Mannheim, im Hinblick auf den Dom, schön damit geschoren, bei den englischen Werken. Ich sprach von des Herzogs Anlage eines gothischen Orangeriehauses, und was mir der Baumeister Stieler dabei von des Herzogs eigener Erfindung gesagt; so kamen wir auf den Herzog und zur Rekapitulation der letzten Tage, wie sich alles gedrängt, daß der Herzog durchaus auf dieser Reise nach Karlsruhe bestanden habe. Dann kamen wir auf die Willemers. Er lobte die Frauen und bedauerte, daß Willemer mit seinem strebenden, unruhigen Geist sich nicht auf ein bestimmtes Fach, auf eine Liebhaberei geworfen habe. Die Verhältnisse mit Frauen allein können doch das Leben nicht ausfüllen, und führen zu gar zu viel Verwicklungen, Qualen und Leiden, die uns aufreiben, oder zur vollkommenen Leere. Doch sehr zu rühmen und zu ehren sei die Macht des sittlichen Princips bei diesem Mann, dieses allein habe ihn in der Höhe gehalten, in der Verwirrung von Verhältnissen, in die er sich gestürzt. So ist die Rettung der kleinen, liebenswürdigen Frau ein großes sittliches Gut. Wenn die Menschen bei so viel Verirrung edel bleiben und gut, so müssen wir uns schon Herbigkeit und Schroffigkeit gefallen lassen. Es ist ein Wunder, daß Willemer nach allem, was er getrieben und erlebt, noch ein solcher Mann ist und solch ein Haus hat. Gegen die gewöhnlichen, ja gemeinen kaufmännischen und Geldverhältnisse kämpfte sein unbezwingbares, edleres Wesen.

Alte Erinnerungen: wie oft Goethe den Pfad durch die Gerbermühle gegangen nach Offenbach zur Schönemann. Liebesgeschichte. Seine Lieder an Lilli. Braut und Bräutigam. Wie sie allmählich von einander entfernt worden durch einen Dritten, ohne es selbst zu wissen. Religionsverhältnisse waren erster Anlaß, sie ist reformirt, er lutherisch. Sie sind unglücklich, wie die Kinder, die ein Leid haben, und es sich wechselseitig klagen und nicht wissen warum. Dorville, ein Pfarrer, ist im Spiel. Sie hat ihm den größten Theil ihrer höhern Bildung zu danken. Vorher Gleichgültigkeit gegen die Welt, wie es sich bei Mädchen in einem reichen Kaufmannshaus, die alle Tage von Gesellschaft umgeben sind von frühester Jugend her, leicht einfinden muß, wenn sie nicht selbst flach und leer sind. – Er spricht von seiner Verlegenheit wegen dieser Geliebten, die Lebensbeschreibung fortzusetzen; ich suche sie ihm auszureden. Vor vierzig Jahren reiste er auch nach Karlsruhe; er werde da Jung Stilling wieder sehen, dem er seitdem nicht begegnete. Die Schönemann müßte auch da sein. – Lebensbeschreibung, Composition. – Ich erinnere an sein Gedicht von der Schöpfung, das er dieser Tage gemacht hat, worin nur ein Gedanke verkehrt war, und die ganze Composition gestört und verdorben hat. Er fand's nachher und warf ihn heraus. Er hatte mir versprochen, dies als ein merkwürdiges Beispiel ausführlich vorzulegen, wie es bei der Composition oft auf ein einzelnes Wort ankomme. Doch nun wollte er den falschen Vers nicht sagen, sondern hielt sich im Allgemeinen. Das Gedicht ist sehr dunkel und metaphysisch. Nach der Handlung der Schöpfung fühlt sich Gott zum erstenmal einsam! – Dies gibt mir dann Anlaß von seinen Naturansichten zu reden, und von seinem Vorhaben ein Naturgedicht zu schreiben. Er verwirft es jetzt. Man ist zu sehr gebunden. Besser einzelne Gedanken, wie die Gedichte des Divan, die man nach her in ein Ganzes ordnet. Ich muntere ihn dazu auf. Er geht darauf ein, und sagt: »Ja, einen Anlaß muß man doch zu Allem haben, und so wollen wir von Heidelberg gleich zwei Buch Baseler Papier mitnehmen, darauf schreibe ich so gerne, die lassen wir in einzelne Blätter schneiden.« Ich bitte mir aus, sie ihm schenken zu dürfen. Er erzählt mir von seiner philosophischen Entwicklung. Philosophisches Denken; ohne eigentliches philosophisches System. Spinoza hat zuerst großen und immer bleibenden Einfluß auf ihn geübt. Dann Baco's kleines Traktätchen, de Idolis; Eidôleis, von den Trugbildern und Gespenstern. Aller Irrthum in der Welt komme von solchen Eidôleis (ich glaube, er nimmt deren zwölf hauptsächliche an). Diese Ansicht half Goethe sehr, sagte ihm ganz besonders zu. Überall suchte er nun nach dem Eidolon, wenn er irgend Widersprüche fand, oder Verstockung der Menschen gegen die Wahrheit, und immer war ein Eidol da. War ihm etwas widerwärtig, stieß man gegen die allgemeine Meinung, so dachte er bald, das wird wieder ein Eidol sein, und kümmerte sich nicht weiter. So reiste er nach Italien; da besonders wurde er immer von philosophischen Gedanken verfolgt, und kam er auf die Idee der Metamorphose. Als er nachher Schiller in Jena sah, theilte er ihm diese Ansicht der Dinge mit, da rief Schiller gleich: Ei, das ist eine Idee! Goethe mit seiner naiven Sinnlichkeit sagte immer, ich weiß nicht, was eine Idee ist, ich sehe es wirklich in allen Pflanzen u.s.w. Nun wollte er sich doch auch mit der Sprache und dem System dieser Männer bekannt machen, so kam er durch Schiller an die Kantische Philosophie, die er sich von Reinhold in Privatstunden vortragen ließ u.s.w.

Ich erzählte dagegen von unserer philosophischen Bildung, überhaupt von unserer Bildung durch Schlegel; unsere Geschichte wieder von einer andern Seite, von der literarischen. Von der Architektur; meine Ansicht der Geschichte der christlichen Architektur von den ältesten Zeiten. Mosaik. Liturgie etc. etc. Dann breche ich ab oder bleibe stehen, weil ich mein Geheimniß nicht verrathen will, sondern verspreche nur, daß es sich schön und sehr einfach machen wird. So sind wir dann an den Wünschen für die Zukunft angelangt. Goethe meint, von Frankfurt aus müsse man immer den Rhein auf- und abwärts fahren und so sein Wesen treiben.

Wir kamen nach Karlsruhe. Mittags-Essen auf dem Zimmer. Vertraulichkeiten. Unwillkürliche Eröffnung von einem Herzensverhältniß von meiner Seite. Nachher gehen wir zum alten Jung Stilling; werden von der Frau nicht erkannt, und von ihm kalt aufgenommen. Er muß morgen mit Elberfeldern nach Baden fahren. Anstalten zum Thee sind gemacht, wir werden nur von der Frau dazu eingeladen, diese ist nun die theilnehmendere. Er stichelt auf den Geheimerath. Goethe auf den Bischof; der Alte wirft sein schwarzes Käppchen weg, Goethe zwingt's ihm wieder auf. Dann müssen wir in die Studierstube, wo noch alle Geburtstagskränze und Geschenke: kleine schlechte Zeichnungen, Kupferstiche, Porträte von Minister Stein, Kaiser Alexander, Lavater u.s.w., alles durcheinander lag. Goethe, der so herzlich und jugendlich wie möglich, war tief gekränkt durch diesen Empfang; am meisten aber durch die Äußerung Jungs: »Ei, die Vorsehung führt uns schon wieder zusammen!«


1815, 4. October. 
In Karlsruhe mit mehreren

Das Ausfallen einiger Gerichtstermine verschaffte mir eines Morgens eine freie Stunde. Ich [Ferdinand L. K. Freiherr v. Biedenfeld] eilte in das Museum, holte mir Lecture und setzte mich damit einsam in die Rotunde ..... Aus meiner Versunkenheit in Herber's ›Ideen‹ weckte mich plötzlich Weinbrenner's ausgiebige Stimme mit den Worten: »Da sitzt auch einer, der ein neuer Goethe werden will.« Ich blickte vom Buch auf und fuhr erschrocken empor: vor mir stand der Unverkennbare, Goethe in der vollen Majestät seiner göttlichen Kraft und Gesundheit, mit der Jupiterswürde auf seinem schönen Antlitz, mit der Magie seines mächtigen Auges und des Herrscherblickes. Hebel stellte mich ihm vor. Ein mildes Lächeln flog verklärend über seine Züge, und nach einigen freundlichen Worten fragte er: »Nun, und was haben wir jetzt in der Mache?« – »Ein Drama; ich habe es hier vollständig im Kopfe, und doch will es nicht recht heraus.« – »Das beruht wol auf einer Selbsttäuschung; was vollständig im Kopfe liegt, das kommt auch vollständig und leicht heraus.« – »Die ganze Intrigue, alle Situationen und Charaktere schweben klar vor meiner Phantasie, aber wenn ich sie zu Papier gebracht habe, erscheinen sie mir ganz anders, farbloser, bleicher, oft ganz entstellt.« – »Das mag manchem in seiner Jugend passiren: man strebt gern sogleich nach dem höchsten ohne sich erst ernsthaft zu fragen, ob man auch von der Natur das rechte Zeug dazu erhalten, und wenn man es besitzt, ob man hinlänglich zu dessen Verarbeitung sich vorbereitet und gerüstet habe. Nicht selten stürzt man sich auch mit Inbrunst und wahrer Verbissenheit auf Dinge, wofür man kein eigentliches Talent hat. Will das Drama nicht recht aus der Feder fließen, so legen Sie es getrost beiseite und sehen sich nach anderem um; wahrscheinlich finden Sie auf solchen Versuchswegen was Ihnen die Natur zugewiesen hat, und findet sich's nicht am Ende der Lehrlingsschaft, nun in Gottes Namen! so hat man tüchtig gewollt und gestrebt; man geht getrost an seinen Beruf und genießt um so reiner und freudiger, was andre hervorbringen.« – »Auch bei andern Versuchen will es nicht recht gehen, und trotz des lebendigen Dranges komme ich nur langsam vorwärts. Mir schwebt immer vor: was gebietet dabei die Kritik? Dann gedenke ich des nonum prematur in annum, ich lege die Feder beiseite, die Phantasie verstummt und das kritische Grübeln macht mich müde und ängstlich.« – »Da sind Sie freilich auch einer von denen, welche das alte und treffliche nonum prematur in annum mißverstehen. Damit ist nicht gesagt, daß sich bei einer Arbeit die Phantasie und die Kritik jahrelang beständig miteinander herumbalgen sollen; dabei ginge stets die beste verve des Dichters verloren. Das prematur bezieht sich auf die Arbeit vor und nach dem Dichten.« – »Bekennen muß ich, daß mir dieses nicht völlig klar geworden.« – »Und doch ist es so einfach, als natürlich. Die Prägnanz oder Unfruchtbarkeit eines oft plötzlich in uns entsprungenen Gedankens ergiebt sich erst mit der Zeit. Man trägt ihn mit sich herum, betrachtet und prüft ihn nach allen Seiten, Phantasie und Kritik formen und meißeln daran nach Ziel und Maaß so lange herum, bis ein gewisses inneres Fertigsein zur Arbeit drängt. Nun lasse man die Phantasie allein walten und schreibe, unbekümmert um alles Übrige, was sie dictirt. Ist auch hiernach das Werk fertig, so lege man es beiseite, nehme es nach einiger Zeit wieder zur Hand und lasse nun die eigene Kritik darüber zu Gericht sitzen. Damit wird man gewöhnlich Erträgliches zustande bringen.«

Hebel mahnte nun an den Besuch im Naturaliencabinet. Goethe lud mich freundlich zum Mitgehen ein: indem man in allen Gebieten der Natur immer wieder Neues und Erbauendes und Förderndes erblicke. So wanderten wir denn dahin: Goethe, Hebel, Gmelin, Boeckmann der Physiker, Weinbrenner und ich; unterwegs stießen noch Haldenwang und der Landschafter Hofmaler Kuntz zu uns. Am Eingang zum Naturaliencabinet fand sich noch eine der merkwürdigen Karlsruher Gestalten ein, der Hofmaler Iwan, ein Kalmücke, der vom Kaiser von Rußland der Markgräfin Amalie als Leibeigner geschenkt worden, hier natürlich der Freiheit und seinem Hange gemäß der Erziehung zum Zeichner genossen, als solcher in Italien und Deutschland sich einen recht hübschen Namen erworben hatte, halb deutsch, halb kalmückisch sich kleidete, gewöhnlich gutmüthig und jovial, aber wenn der Wein ihn belebte, was ihm häufig geschah, ein schroffer Geradeaus voll kaustischer Kritik und unsauberer Witze. Sein Auftreten verrieth einen solchen Zustand. Goethe... schien nicht sehr angenehm berührt durch dieses Zusammentreffen und erwiederte die überherzliche Begrüßung mit zugemessen majestätischer Höflichkeit. Wir alle besorgten eine Störung unseres Genusses durch den Aufgeregten, da kam glücklicherweise ein Hoflakai außer Athem mit dem Bescheide, daß er augenblicklich zum Großherzog kommen solle. Mit einpaar gesunden Flüchen machte sich der Vierschrötige auf den Weg und versprach sein baldiges Eintreffen im Naturaliencabinet. »Ausgestopft müßte er sich dort gut ausnehmen,« bemerkte Goethe lächelnd zu Gmelin.
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Sie [Goethe und Gmelin] standen vor der Gruppe der verfänglichsten Muscheln. Lachend hielt Gmelin eine davon hoch empor, nannte Goethen ihren Namen lateinisch, entwickelte lateinisch ihre Aehnlichkeit mit menschlichen Theilen und stellte darüber sehr erbauliche Betrachtungen an. Goethe hörte ihn behaglich an, lächelte wie Jupiter, wenn Frau Venus ihn streichelt, deutete auf eine andere Muschel und pries deren noch anschaulichere Ähnlichkeiten ebenfalls lateinisch, mit heiterer Emphase, wobei er freilich hin und wieder den rechten Ausdruck erst suchen mußte ..... Die beiden kamen an andere Gegenstände, Gmelin war wieder rein wissenschaftlich geworden, Goethe hatte ein andres Gesicht angezogen, beide sprachen unwillkührlich wieder deutsch. Die Beschauung und die Reflexionen dauerten noch ziemlich lange; endlich kam man zum Schluß. Goethe lud sehr freundlich zum Nachmittag in das physikalische Cabinet ein, wo Herr Hofrath Boeckmann einige interessante Experimente zu machen, die Güte haben würde.


1815, 4. October 
Bei Karl Christian Emelin


Gegen Abend besuchten wir [Goethe und Boisserée den Geheimen Hofrath] Emelin und fanden bei ihm die Vallisneria spiralis, das merkwürdige, gewissermaßen sich selbst bewegende Wasserpflänzchen, das er von Montpellier mitgebracht. Herr Sensburg kam, blieb aber nicht lang; dann Oberforsträthin Lattrop und andere Frauen, und Hebel. Dieser ward von der Lattrop, einer Niedersächsin, zum Hersagen von einem Gedichte genöthigt. Der freundliche Mann muß endlich nachgeben, und übersetzt jeden Vers ins Hochdeutsche. Goethe ward grimmig darüber; man sollte doch dem Dichter die Ehre anthun, seine che zu lernen. Die Niedersächsin wird, da sie noch wiederbellt, schön mit ihrem Niedersächsisch und dem Norden geschoren. Goethe lobt das Oberländische, sagt noch etwas, sich auf ein Liebchen beziehendes Elsaßisches her.


1815, 5. October.
Mit Boisserée,


Jungs lassen noch zum Abend einladen, als wir eben fort wollen. Wir freuen uns im Wagen zu sein und zu rekapituliren. Rühmen die Muschelsammlung und die ganz neue Anschauung, und lachen mitunter auch. Dann wachen bei Goethe alte Erinnerungen auf; gerade vor vierzig Jahren ließ ihn der Herzog von Heidelberg nach Frankfurt durch Stafette holen. Wenn er jetzt gerade vom Minister Stein zurück in Frankfurt wäre, und es ihm einfiele, wäre er im Stande, es zu wiederholen, da er ohnehin verlangt, Goethe solle nach Frankfurt kommen. Vor Tisch schon rühmte er, daß er wohl gethan nach Köln zu gehen, sich von dem Herzog influenziren zu lassen. Er lasse sich ohnehin leicht bestimmen, und vom Herzog gern; denn der bestimme ihn immer zu etwas Gutem und Glücklichem, aber einige Personen seien, die einen ganz unheilbringenden Einfluß auf ihn hätten. Lange habe er es nicht gemerkt; immer, wenn sie ihm erschienen, sei ihm auch ganz unabhängig von ihnen irgend etwas Trauriges oder Unglückliches begegnet. Alle entschiedenen Naturen seien ihm Glück bringend, so auch Napoleon. Ich drang näher in ihn, ob dergleichen Unglücksboten etwa in der Nähe waren? Nein, sagte er, aber, wenn es einmal der Fall sein würde, verspreche er mir's zu sagen. Ich spreche vom Aberglauben; wie man sich bei aller Anerkennung des Geheimnißvollen im Leben davor zu hüten habe. Und er war einig, daß man nur so viel darauf geben müsse, um Ehrfurcht vor der uns umgebenden geheimnißvollen Macht in allem zu haben und zu behalten, welches eine Hauptgrundlage wahrer Weisheit sei. Unterwegs kamen wir dann auf die »Wahlverwandtschaften« zu sprechen. Er legte Gewicht darauf, wie rasch und unaufhaltsam er die Katastrophe herbeigeführt. Die Sterne waren aufgegangen; er sprach von seinem Verhältniß zur Ottilie, wie er sie lieb gehabt, und wie sie ihn unglücklich gemacht. Er wurde zuletzt fast räthselhaft ahndungsvoll in seinen Reden.

Dazwischen sagte er dann wohl einen heitern Vers. So kamen wir müde, gereizt, halb ahndungsvoll, halb schläfrig, im schönsten Sternenlicht, bei scharfer Kälte nach Heidelberg.


1815, 6. October.
Mit Sulpiz Boisserée


Freitag den 6. morgens will Goethe plötzlich fort, er sagte mir: »Ich mache mein Testament.« Wir bereden ihn mit großer Mühe, noch einen Tag auszuruhen, und übermorgen zu reisen. Die Jagemann hat ihn mit den andern Damen gedrängt, er soll nach Mannheim kommen, zu Tableaux und Attituden. Er fürchtet den Herzog. Er ist sehr angegriffen, hat nicht gut geschlafen, muß flüchten. Er gibt mir einen Theil seiner Gedichte zum lesen für Melchior und Bertram.


1815, 7. October. 
Mit Sulpiz Boisserée 


Goethe ist früh morgens unruhig, fürchtet eine Krankheit, will schon zu Mittag fort. Ich biete mich ihm zur Begleitung an, und bereite mich vor, ihm bis Weimar zu folgen. Trauriger, schwerer Abschied.

Im Wagen erholt sich der Alte allmählich. Die Sicherheit nicht mehr vom Herzog oder der Jagemann erreicht zu werden, beruhigt ihn sichtbar. Gespräch darüber. Deutsche Politik, Verhältnisse; die Forderungen des Adels und der Bürger hält er nicht für gefährlich. Ständische Verfassung; es sei keine Umwälzung zu befürchten, wenn nur die Fürsten halbwegs ihren Vortheil kennen, und einigermaßen den gerechten Wünschen entgegen kommen wollten. Die heftigen Volksmänner seien nichts weniger als beliebt. Aristokratismus im eigentlichen Sinne sei das einzige und rechte. Er spricht seine Freude darüber aus, daß ich mich in nichts verwickelt habe, trotz der vielen Lockungen und Gelegenheiten.

Goethe hat immer eine Scheu vor allen politischen Dingen gehabt. War auch einmal in einer Art Verschwörung durch seinen Herrn, damals, als man die Übermacht Friedrichs des Großen fürchtete. Es bestand eine geheime Verbindung bei dem alten Fürsten von Dessau; der Kronprinz von Preußen war darin. Nachher wurde dieselbe Veranlassung zum Fürstenbund, obwohl es anfangs gegen Preußen ging. Herr von Dohm erhielt noch vor einiger Zeit, zur Geschichte des Fürstenbundes, Aufschlüsse hierüber von Goethe.

Neukatholiken. Spottgedicht auf sie. Kinderspiel. Messe. Katholiken und Protestanten friedlich durcheinander in einer Stadt. Auf einem Speicher hing ein Seil, das mußte statt der Glocke dienen, daran zogen sie um die Wette und schrieen: bim bam. Und so wiederholten sie ohne Schonen die sämmtlichen heiligen Funktionen.1 Soll in die neue Ausgabe der Gedichte kommen; ich billigte es, er schien noch Zweifel zu haben.

Abends in Neckarelz. Kaltes Zimmer. Goethe war munter, vergaß die Kälte, indem er mir von seinen orientalischen Liebesgedichten vorlas. Wir schliefen in einer Stube. Es ist ihm lieb, daß ich bei ihm bin, er hatte wirklich eine Krankheit befürchtet.

1 »Pfaffenspiel.«



1815, 8. October. 
Mit Sulpiz Boisserée

Sonntag morgens fuhren wir von Neckarelz die Höhe hinauf. Kalkgebirge. Goethe erkannte die fränkische Mainregion daran. Der Bediente fand Versteinerungen und Ammonshörner. Wir begegneten zwischen Oberschaflenz und Buchen dem Maler Jagemann, der zu seiner Schwester nach Mannheim reiste; er sagte, der junge Bertuch sei krank und von den Ärzten aufgegeben.

Noth, die der Herzog mit der Familie Jagemann hat. Die Schwester derselben, Frau von Dankelmann, mit ihren Kindern ist ihm auch auf dem Hals. Den Dankelmann hat man in Eisen ach einsperren müssen. Nun hat der Herzog, außer seinen eigenen Kindern, zugleich noch für diese zu sorgen, im Ganzen für acht. Gutes Benehmen des herzoglichen Hauses gegen die Jagemann und diese Kinder. Der Erbprinz besucht sie und spielt mit diesen kleinen Geschwistern. Doch ist die unvermeidliche Spannung eines solchen Verhältnisses fühlbar. Großfürstin Maria; Lob derselben; edle Weise sich zu beschäftigen. Goethe steht sehr gut mit ihr; Meyer ist ihr Vertrauter. Sie hat ihre Freude an der Kunst; ist sehr zart, nicht glücklich.

Die Großfürstin Catharina ist ganz anders; durchaus politisch in Allem. Sie sagte in Wiesbaden noch: die Kunst mache ihr keinen Eindruck, hätte kein Interesse für sie; am meisten noch die Architektur, weil man da eine Menge Menschen beschäftigen, und dem Staat Glanz und Würde geben könne. In Buchen begegneten wir Herrn v. Türk von Yverdun mit Familie und mehreren Kindern, wahrscheinlich auch Zöglingen, einen ganzen Schweizer Postwagen voll, neun oder zehn Personen. Er hatte in der Schweiz ein Erziehungshaus und wird nun von Preußen als Oberschulrath nach Frankfurt a. d. O. berufen.

Goethes Klagelieder über das heutige Erziehungswesen. Versuchen, Tasten und Wandern nach der wahren Erziehungsart! Liebesgeschichten wechselseitig. Deutsche mögen gern die naiven, ruhigen, nicht die leidenschaftlichen Frauen. In Hardtheim Mittagessen. Ein junges, frisches Mädchen bedient uns, ist nicht schön, hat aber verliebte Augen. Der Alte sieht sie immer an. Kuß. – Abends im Dunkel nach Würzburg. Im Pfälzischen Hof Verwirrung mit der Türk'schen Familie; man sondert uns wieder von ihr. Große gewaltige Räume, wie eine Abtei. Es ist das alte Schönborn'sche Haus.


1815, November (?). 
Mir Friedrich August Koethe

Es scheint alles [bei den Vorbereitungen zu den ›Zeitgenossen‹] vortrefflich zu gehen. Sie [Brockhaus] sehen aus den Beilagen, daß ich fast nirgends ohne Erfolg eingeladen habe. Und tüchtige Männer sind dafür gewonnen. Knebel liefert auch eine Selbstbiographie, zu der ich mit Goethe vereint ihn bewogen habe. Und selbst Goethe hat mir seine eifrigste Theilnahme fast unaufgefordert zugesagt und mich auf's freundlichste eingeladen, mich in dem Fall, daß ich seiner bedarf, seines Raths, seiner Unterstützung, an ihn zu wenden und seiner größten Bereitwilligkeit versichert zu sein. Es ist sonst nicht seine Art, sehr mend zu sein, aber sein besonderes Wohlwollen ehrt mich umsomehr. So hoffe ich, nun auch von ihm noch etwas zu den ›Zeitgenossen‹ zu erhalten, und rechne besonders auf eine einleitende Darstellung des französischen Theaters, wenn nur erst Beiträge dazu eingegangen sind.

Ich bemerke gleich, daß Goethe für den Fall, daß sein Bild noch den ersten Band zieren soll, (er meinte: »Ei, ei! In so vornehmer Gesellschaft!«) sehr empfohlen hat, ein kleines Bild, das im vorigen Jahr der Maler Rabe (in Berlin) in seinem Hause gemalt, zu dem Kupfer zu nehmen. 


Zwischen 1812 und 1815. 
Weihnachtsfeier bei Georg Wilhelm Lorsbach 


In Deutschland herrscht die Sitte, daß am Weihnachtsabend die Eltern den Kindern einen mit Bändern, Kerzen, Obst geschmückten Baum bescheeren. Einst war auch Goethe am Weihnachtsabend zu dieser Familienfeier bei Professor Lorsbach geladen, welcher eine einzige, schon erwachsene Tochter hatte und für diese im Nebenzimmer einen solchen schönen Weihnachtsbaum mit Äpfeln und andern Geschenken vorbereitet hielt. In einem andern Zimmer wurde indessen musicirt, gesungen, Karten gespielt, mit Goethe gesprochen, aber dabei stahlen sich zwei schelmische Kumpane durch eine andere Thüre in das verschlossene Nebenzimmer, beraubten den Baum aller seiner Äpfel und Nüsse, und kehrten, als wäre nichts geschehen, in die Gesellschaft zurück. Schlag 7 kam der Vater, die Tochter an seiner Seite führend, öffnete die Thür und lud die Gesellschaft zum Eintreten in jenes Zimmer mit dem Weihnachtsbaum ein. Wie stutzten und erstarrten alle, da der Baum kahl und leer mitten im Zimmer stand. Goethe blieb vor dem Baume mit auf der Brust verschränkten Händen sinnend stehen, und die ganze Gesellschaft wurde still und wartete, was Goethe dazu sagen würde. Der aber öffnete die Lippen und rief mit scherzhaft pathetischer Stimme:

»Eva, verziehen sei dir! es haben ja Söhne der Weisheit

Rein geplündert den Baum, welchen der Vater gepflanzt.«Freudiges Händeklatschen, Lachen und Scherze ertönten allseits bei diesen witzigen Versen und verschönerten den ganzen Abend bis in die späte Nacht.




1815 (?). 
Mit Friedrich Wilhelm Riemer.1



a. 


»Die Sittenlehrer irren sich, wenn sie in jedem Alter denselben Grad der Bescheidenheit verlangen. Anders der Jüngling, der in seine Kräfte gerechtes Mißtrauen setzt; anders der Mann, der sie geprüft und gezeigt hat.«

b.

»Die Neigung zu einer Sache, das ist ja eben der Sinn dafür.«

c. 

»Es giebt zwei Welten: wenn die eine zürnt, so fragt die andere nichts danach.« –

1 Die Datirung der Äußerungen a und b vom 15. Juli und vom 21. August 1815 ist falsch, dafern sie in Gegenwart von Riemer gefallen sein sollen; deshalb sind sie allgemein unter 1815 in Frage gestellt.


1815 (?). 
Mit Carl Ludwig von Knebel


Was meine von Ihnen [Böttiger] über Verdienst belobten Gedichte selbst betrifft, so darf ich Ihnen sagen, daß... ihnen von unserm Goethe, – der wahrlich nicht verschwenderisch in seinem Lobe gegen Dichter zu sein pflegt – das Zeugniß gegeben worden ist: meine Gedichte würden bleiben, da sie ein allgemeines menschliches Interesse hätten.


1815 (?). 
Mit Beate Lortzing, geb. Elsermann


Einstmals trat er [Goethe] herein und zeigte seiner Frau ein kleines Etui mit den Worten: »Sieh, liebes Kind, was mir meine liebe Freundin, die Geheimräthin Willemer, für eine allerliebste Neuigkeit zum Andenken übersandt hat.« Es war eine goldne Schnalle, woran seine Orden im kleinsten Format mit venetianischen Kettchen befestigt waren. Madame Lortzing, die neben der Geheimräthin saß und ein großer Liebling Goethes war, fragte ganz unbefangen, welcher ihm der liebste von alten Orden sei. Keinem andern hätte ich [F. Genast] solche Dreistigkeit rathen mögen; denn er liebte es gar nicht, um seine ken befragt zu werden und noch dazu in solchem difficilen Fall, aber bei ihr machte er eine Ausnahme und erwiderte: »Kleine Neugier! Doch den Kindern muß man zuweilen den Willen thun« – und wies auf die Ehrenlegion.


1815 (?). 
Über Dur und Moll


»Der Grund des sogenannten Moll liegt innerhalb der Tonmonade selbst. Dies ist mir aus der Seele gesprochen. Zur nähern Entwickelung bahnt vielleicht folgendes den nähern Weg: dehnt sich die Tonmonade aus, so entspringt das Dur; zieht sie sich zusammen, so entsteht das Moll. Diese Entstehung habe ich in der Tabelle, wo die Töne als eine Reihe betrachtet sind, durch Steigen und Fallen ausgedrückt. Beide Formeln lassen sich dadurch vereinigen, daß man den unvernehmlichen tiefsten Ton als innigstes Centrum der Monade, den unvernehmbaren höchsten als Peripherie derselben annimmt.«


1815 oder 1816. 
Bei Aufführung von »Des Epimenides Erwachen«

Für die Ausstattung hinsichtlich der Decoration, Maschinerie und Costüme war das Möglichste gethan. Neu Uniformen hatte man für die Armeen der Preußen, Russen und Engländer machen lassen .... Goethe überwachte das Ganze mit unermüdlichem Eifer und war bei den Proben äußerst sorgsam, besonders was die Gruppirung betraf. Alle Augenblicke donnerte er ein »Halt!« den Darstellenden zu; dann hieß es: »Madame Eberwein, gut!« – »Madame Unzelmann mehr vor!« – »Herr Wolff! den Kopf mehr lauernd nach rechts gebogen! sonst gut!« – »Herr Oels, sehr gut!« – »Der Darauffolgende schlecht!« und nun begann die Auseinandersetzung. Es war eine Eigenheit Goethes, den Schauspieler, mit dem er unzufrieden war, niemals bei seinem Namen zu nennen; man konnte dies nun nehmen, wie man wollte: als Rücksicht oder Kränkung.
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Bei dem Siegerzug trat zuerst Blücher mit der preußischen Armee auf, dann Schwarzenberg an der Spitze der Österreicher, dann Wittgenstein mit den Russen und endlich kam Wellington mit den Engländern. Jede dieser Armeen bestand außer den Feldmarschällen und einigen Adjutanten aus zehn Mann Statisten ..... Das Ganze war nach unsern Verhältnissen würdig in Scene gesetzt und machte sich gut. Goethes Ausspruch über Comparserie war: »Die Wirklichkeit, die aus Hunderttausenden besteht, kann auf einem so engen Raume, wie die Bühne bietet, doch nicht verkörpert werden; ob man da zehn oder hundert Mann erscheinen läßt, bleibt sich gleich; man möge sich die andern dazu denken!«



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