> Gedichte und Zitate für alle: Woldemar von Biedermann : Gespräche Goethes 1827-2 (69)

2019-10-08

Woldemar von Biedermann : Gespräche Goethes 1827-2 (69)







1827, Anfang Mai. 
Mit Moritz Oppenheim 


Oppenheim... erzählte mir [Rießer]: Am Schlusse seines Aufenthalts in Weimar habe Goethe ihn gefragt, ob er einen Titel oder einen Orden haben wolle; er habe geantwortet, daß er sich, offen gestanden, aus beiden nichts mache. Hierauf aber habe Goethe erwiedert: ›Sie thun unrecht, mein Lieber! Titel und Orden halten manchen Puff ab im Gedränge.‹




1827, 15. Mai. 
Mit Karl von Holtei 




Irgend ein unangenehmer Zufall, eine kleine Familienscene, machte ihn verdrüßlich, und er sprach diesen Verdruß zum höchsten Erstaunen des Hofes und der ganzen Stadt dadurch aus, daß er urplötzlich vom raschesten Entschlusse getrieben seine Wohnung mied und das kleine Gartenhaus am Park bezog. Mit diesem, seinen Verehrern völlig unerklärlichen Wechsel des gewohnten Aufenthaltes war denn auch der Wille, allein und ungestört zu bleiben, ausgesprochen, und ich würde Weimar verlassen haben, ohne ihn noch einmal zu sehen, wenn nicht Eckermann in seiner unerschöpflichen Gutmüthigkeit mir ein Abschiedsstündchen vermittelt hätte. Hab' ich mir's nur eingebildet, oder hatte der unerforschliche Greis im ländlichen Häus chen andere Formen angenommen, – mir erschien er, als ich mich dort einfand, zugänglicher, wie in den städtischen Räumen, milder, mittheilender. Als ich ihm das Erstaunen schilderte, in welches diese seine Übersiedelung Weimar versetzt habe, sagte er mit einem fast wehmüthigen Ausdrucke: »Wir haben hier in diesem Gartenhäuschen tüchtige Jahre verlebt, und weil es denn mit uns sich auch dem Abschlusse nähert, so mag sich die Schlange in den Schwanz beißen, damit es ende, wo es begonnen.«




1827, etwa 20. Mai. 
Mit Jean Jacques Ampère 


J'ai enfin quitté Weimar; Goethe m'a donné sa médaille, m'a embrassé et je suis parti tout attendri. La demière heare, que nous avons passé ensemble avait vraiment quelque chose de soleimel et de touchant. Nous étions assis sur le même banc, daas le jardin d'uae petite maison rustique d'ou l'on a la vue du parc, et ou il a écrit ›Iphigénie‹ il y a quarante ans. Tous les arbres ont été plantes par lui; c'est sous ces arbres que nous étions assis et que nous regardions le parc-, éclairé par la lumière du soir .... Il était serein, gai même, me parlant, avec beaucoup de finesse et cette legère ironie, qui lui va si bien, des moeurs de mes Chinois, à propos du roman de M. Abel Rémusat, racontaat d'autres romans chinois qu'il a lus il y a un demi-siècle, et dont les incidents lui sont présents.




1827, Ende Mai oder Anfang Juni (?). 
Mit Eduard Genast u.a.


Auf dem Rückwege [von Cassel] hielt ich mich einige Tage bei meinem Vater auf, dem Goethe bereits zu wissen gethan, daß wir bei ihm zu Mittag essen sollten. Ich hatte ihn fast zwei Jahre nicht gesehen und fand ihn sehr wohl auf; bei Tafel war er äußerst heiter. Er liebte es, mit Schauspielern über das Theater zu sprechen, und so mußte ich ihm von meinen jüngsten Kunstreisen alles erzählen, was ich Anerkennungswerthes bemerkt und getroffen. Außer diesem zog ihn mein Zusammensein in Breslau mit Baron Ferdinand v. L. an, den er... zu Anfang dieses Jahrhunderts hatte kennen lernen. Ich erzählte ihm viele Anecdoten, die L. geliefert, und namentlich das Selbstgespräch in und unter dem Bett [unter das er sich gelegt hatte, um sich selbst für Betrunkenheit zu bestrafen] setzte Goethes Lachmuskeln außerordentlich in Thätigkeit. Er erzählte nun auch seinerseits, auf welche Weise er in Lauchstädt die Bekanntschaft dieses Originals gemacht. Auf einem einsamen Spaziergange durch die Felder war ihm auf einem Rain ein langer Mann im Militärrock mit verschränkten Armen begegnet, dicht vor ihm stehen geblieben und hatte statt der üblichen Begrüßung eine Strophe aus dem Lied der Parzen nicht ohne Geschick recitirt. »Das ist unter allen Schöpfungen die schönste, womit Ew. Excellenz die Welt beglückt haben. Weder Tasso noch Ariost haben Ähnliches geschrieben, und selbst Schiller, den ich so hoch verehre, läßt öfter seiner Phantasie in seinen Dichtungen zu freien Spielraum, wodurch er die Wahrheit hier und da beeinträchtigt, aber Ew. Excellenz halten in beiden das richtige Maaß. Ich habe die Ehre, Ew. Excellenz in mir den Baron Ferdinand v. L. vorzustellen.« – »So sprach der Mann,« fuhr Goethe fort, »und ich wandelte längere Zeit mit ihm in der schattigen Lindenallee auf und ab, mich an seinem Urtheil über die alten und neuen Dichter ergötzend.«Beim Abschied drückte er mir die Hand und fügte hinzu: »Grüße herzlichst Dein liebes Weib, und mag Dich Dein Weg bald wieder über Weimar führen!«




1827, Mitte Juni. 
Mit Kaspar von Sternberg 


Freund Goethe hat mich mit gewohnter Freundlichkeit aufgenommen. Sein Geist ist noch wunderbar gesund und frisch und zwingt den etwas hinfälligen Körper durch geistige Gewalt noch festzuhalten. Er sprach mit mir gleich von unserem Monatsblatt [der Gesellschaft des vaterländischen Museums in Böhmen], lobt das Unternehmen und wünscht soviel wie möglich die älteren Hajek'schen Sagen, wie Horimir und Semir, in selbem erscheinen zu sehen, um uns an die serbische Literatur anzuschließen. Er hat sich hierüber im ersten Hefte des sechsten Bandes »Über Kunst und Alterthum« p. 197 ausgesprochen,welches er mir mit folgenden eingeschriebenen Worten zuschickte:

Wenn mit jugendlichen Schaaren
Wir beblümte Wege gehn,
Ist die Welt doch gar so schön;
Aber wenn bei hohen Jahren
Sich ein Edler uns gesellt,
O, wie herrlich ist die Welt!

Lasse die angezeigte Stelle Palacky lesen; sie wird ihm Vergnügen machen. Der Aufsatz von Dobrovsky, ›Was die guten Schriftsteller für Böhmen geleistet‹ hat ihn auch besonders angesprochen; er findet es sehr verständig, daß wir uns auf Böhmen einschließen, wodurch sich unsere Zeitschrift von allen unterscheidet, die alles aufnehmen und eben dadurch sich unter sich gar nicht unterscheiden, als insoferne sie bessere oder schlechtere Mitarbeiter haben; die Poesie aber sei weltbürgerlich und umsomehr interessant, als sie sich national zeigt.




1827, 20. Juni. 
Mittag bei Goethe 



a. 


Der Familientisch zu fünf Couverts stand gedeckt, die Zimmer waren leer und kühl, welches bei der großen Hitze sehr wohl that. Ich [Eckermann] trat in das geräumige an den Speisesaal angrenzende Zimmer, worin der gewirkte Fußteppich liegt und die kolossale Büste der Juno steht. Ich war nicht lange allein auf- und abgegangen, als Goethe, aus seinem Arbeitszimmer kommend, hereintrat und mich in seiner herzlichen Art liebevoll begrüßte und anredete. Er setzte sich auf einen Stuhl am Fenster. »Nehmen Sie sich auch ein Stühlchen,« sagte er, »und setzen Sie sich zu mir; wir wollen ein wenig reden, bis die übrigen kommen. Es ist mir lieb, daß Sie doch auch den Grafen Sternberg bei mir haben kennen gelernt; er ist wieder abgereist, und ich bin nun ganz wieder in der gewohnten Thätigkeit und Ruhe.«

»Die Persönlichkeit des Grafen,« sagte ich »ist mir sehr bedeutend erschienen, nicht weniger seine großen Kenntnisse; denn das Gespräch mochte sich lenken wohin es wollte, er war überall zu Hause und sprach über alles gründlich und umsichtig mit großer Leichtigkeit.«

»Ja,« sagte Goethe, »er ist ein höchst bedeutender Mann, und sein Wirkungskreis und seine Verbindungen in Deutschland sind groß. Als Botaniker ist er durch seine ›Flora subterranea‹ in ganz Europa bekannt; so auch ist er als Mineraloge von großer Bedeutung. Kennen Sie seine Geschichte?« – »Nein,« sagte ich, »aber ich möchte gern etwas über ihn erfahren. Ich sah ihn als Grafen und Weltmann, zugleich als vielseitigen tiefen Gelehrten: dieses ist mir ein Problem, das ich gern möchte gelöst sehen.« Goethe erzählte mir darauf, wie der Graf, als Jüngling zum geistlichen Stande bestimmt, in Rom seine Studien begon nen, darauf aber, nachdem Österreich gewisse Vergünstigungen zurückgenommen, nach Neapel gegangen sei. Und so erzählte Goethe weiter, gründlich, interessant und bedeutend, ein merkwürdiges Leben, der Art, daß es die ›Wanderjahre‹ zieren würde, das ich aber hier zu wiederholen mich nicht geschickt fühle. Ich war höchst glücklich, ihm zuzuhören, und dankte ihm mit meiner ganzen Seele. Das Gespräch lenkte sich nun auf die böhmischen Schulen und ihre großen Vorzüge, besonders in Bezug auf eine gründliche ästhetische Bildung.

Herr und Frau von Goethe und Fräulein Ulrike von Pogwisch waren indessen auch hereingekommen, und wir setzten uns zu Tische. Die Gespräche wechselten heiter und mannigfaltig, besonders aber waren die Frömmler einiger norddeutschen Städte ein oft wiederkehrender Gegenstand. Es ward bemerkt, daß diese pietistischen Absonderungen ganze Familien miteinander uneins gemacht und zersprengt hätten. Ich konnte einen ähnlichen Fall erzählen, wo ich fast einen trefflichen Freund verloren, weil es ihm nicht gelingen wollen, mich zu seiner Meinung zu bekehren. »Dieser,« sagte ich, »war ganz von dem Glauben durchdrungen, daß alles Verdienst und alle gute Werke nichts seien, und daß der Mensch bloß durch die Gnade Christi ein gutes Verhältniß zur Gottheit gewinnen könne.« – »Etwas Ähnliches,« sagte Frau von Goethe, »hat auch eine Freundin zu mir gesagt, aber ich weiß noch immer nicht, was es mit diesen guten Werken und dieser Gnade für eine Bewandtniß hat.«

»So wie alle diese Dinge,« sagte Goethe, »heutigentags in der Welt in Curs und Gespräch sind, ist es nichts als ein Mantsch, und vielleicht niemand von Euch weiß wo es herkommt. Ich will es Euch sagen. Die Lehre von den guten Werken, daß nämlich der Mensch durch Gutesthun, Vermächtnisse und milde Stiftungen eine Sünde abverdienen und sich überhaupt in der Gnade Gottes dadurch heben könne, ist katholisch. Die Reformatoren aber, aus Opposition, verwarfen diese Lehre und setzten dafür an die Stelle, daß der Mensch einzig und allein trachten müsse, die Verdienste Christi zu erkennen und sich seiner Gnaden theilhaftig zu machen, welches denn freilich auch zu guten Werken führe. So ist es; aber heutigentags wird alles durcheinandergemengt und verwechselt, und niemand weiß woher die Dinge kommen.«

Ich bemerkte mehr in Gedanken, als daß ich es aussprach, daß die verschiedene Meinung in Religionssachen doch von jeher die Menschen entzweit und zu Feinden gemacht habe, ja daß sogar der erste Mord durch eine Abweichung in der Verehrung Gottes herbeigeführt sei. Ich sagte, daß ich dieser Tage Byron's ›Kain‹ gelesen und besonders den dritten Act und die Motivirung des Todtschlags bewundert habe.

»Nicht wahr,« sagte Goethe, »das ist vortrefflich motivirt! Es ist von so einziger Schönheit, daß es in der Welt nicht zum zweitenmal vorhanden ist.«

»Der ›Kain‹,« sagte ich, »war doch anfänglich in England verboten, jetzt aber liest ihn jedermann, und die reisenden jungen Engländer führen gewöhnlich einen kompleten Byron mit sich.«

»Es ist auch Thorheit,« sagte Goethe; »denn im Grunde steht im ganzen ›Kain‹ doch nichts, als was die englischen Bischöfe selber lehren.«Der Kanzler ließ sich melden und trat herein und setzte sich zu uns an den Tisch. So kamen auch Goethes Enkel, Walter und Wolfgang, nacheinander gesprungen. Wolf schmiegte sich an den Kanzler. »Hole dem Herrn Kanzler,« sagte Goethe, »dein Stammbuch und zeige ihm deine Prinzeß und was Dir der Graf Sternberg geschrieben.« Wolf sprang hinauf und kam bald mit dem Buche zurück. Der Kanzler betrachtete das Portrait der Prinzeß [Marie Louise Alexandrine von Sachsen-Weimar] mit beigeschriebenen Versen von Goethe. Er durchblätterte das Buch ferner und traf auf Zelter's Inschrift und las laut heraus: Lerne gehorchen!

»Das ist doch das einzige vernünftige Wort,« sagte Goethe lachend, »was im ganzen Buche steht. Ja, Zelter ist immer grandios und tüchtig! Ich gehe jetzt mit Riemer seine Briefe durch, die ganz unschätzbare Sachen enthalten. Besonders sind die Briefe, die er mir auf Reisen geschrieben, von vorzüglichem Werth; denn da hat er als tüchtiger Baumeister und Musikus den Vortheil, daß es ihm nie an bedeutenden Gegenständen des Urtheils fehlt. Sowie er in eine Stadt eintritt, stehen die Gebäude vor ihm und sagen ihm, was sie Verdienstliches und Mangelhaftes an sich tragen. Sodann ziehen die Musikvereine ihn sogleich in ihre Mitte und zeigen sich dem Meister in ihren Tugenden und Schwächen. Wenn ein Geschwindschreiber seine Gespräche mit seinen musikalischen Schülern aufgeschrieben hätte, so besäßen wir etwas ganz Einziges in seiner Art. Denn in diesen Dingen ist Zelter genial und groß und trifft immer den Nagel auf den Kopf.«


b. 

Ich [v. Müller] traf ihn mit seinen Kindern und Enkeln auch Eckermann noch bei Tische, höchst milde und munter, vergnügt und mittheilend. Er erwähnte Gall's Verlangen nach einem Abguß seines Kopfes; verweigerte die Mittheilung seines Briefes an Gries [mit dein Danke des Großherzogs für die Widmung der Übersetzung von Ariost's ›Rasendem Roland‹]: nicht als ob vor mir Geheimes darin, sondern weil ihm so viel Unangeneh mes im langen Leben aus Mittheilung der Briefe entstanden sei, daß er sich solches wie eine übte Angewöhnung abzugewöhnen trachte.

Bei Durchsicht von Stammbuchs-Inschriften kam er auf Sternberg und dessen oft verhehlte Gemüthlichkeit. »Man kömmt mit ihm stets weiter.«

Schützen's Plattheit gegen Haug verglich Goethe mit der »Platitude in Ampère's Brief«. Ich vertheidigte Letztern gar sehr. »Das Übel kommt immer daher,« erwiederte Goethe, »daß die Leute, besonders die Fremden, das Naive des Augenblicks nicht zu würdigen wissen durch Wiedererzählung es zur Plattheit umprägen. Überhaupt ist es immer gefährlich zum Publicum von der Gegenwart zu sprechen.«

Dann kam das seltsame Schicksal von Goethes Gedicht1 an seines Enkels Walther Geburtstag im Jahr 1818 zur Sprache, das er anonym übergab und das sehr gescholten wurde.

Nachher durchblätterten wir viele Mappen mit Zeichnungen und Kupferstichen.»Freiheit,« sagte Goethe unter anderm, »ist nichts als die Möglichkeit, unter allen Bedingungen das Vernünftige zu thun. Das Absolute steht noch über dem Vernünftigen. Darum handeln Souveräns oft unvernünftig, um sich in der absoluten Freiheit zu erhalten.«

1 Wiegenlied dem jungen Mineralogen.



1827, 5. Juli.
Mit Johann Peter Eckermann u.a.



Heute gegen Abend begegnete Goethe mir am Park von einer Spazierfahrt zurückkommend. Im Vorbeifahren winkte er mir mit der Hand, daß ich ihn besuchen möchte. Ich wendete daher sogleich um nach seinem Hause, wo ich den Oberbaudirector Coudray fand. Goethe stieg aus, und wir gingen mit ihm die Treppen hinauf. Wir setzten uns in dem sogenannten Junozimmer um einen runden Tisch. Wir hatten nicht lange geredet, als auch der Kanzler hereintrat und sich zu uns gesellte. Das Gespräch wendete sich um politische Gegenstände: Wellington's Gesandtschaft nach Petersburg und deren wahrscheinliche Folgen, Kapodistrias, die verzögerte Befreiung Griechenlands, die Beschränkung der Türken auf Konstantinopel, und derglei chen. Auch frühere Zeiten unter Napoleon kamen zur Sprache, besonders aber über den Herzog von Enghien und sein unvorsichtiges revolutionäres Betragen ward viel geredet.

Sodann kam man auf friedlichere Dinge, und Wieland's Grab zu Osmannstedt war ein vielbesprochener Gegenstand unserer Unterhaltung. Oberbaudirector Coudray erzählte, daß er mit einer eisernen Einfassung des Grabes beschäftigt sei. Er gab uns von seiner Intention eine deutliche Idee, indem er die Form des eisernen Gitterwerks auf ein Stück Papier vor unsern Augen hinzeichnete.

Als der Kanzler und Coudray gingen, bat Goethe mich, noch ein wenig bei ihm zu bleiben. »Da ich in Jahrtausenden lebe,« sagte er, »so kommt es mir immer wunderlich vor, wenn ich von Statuen und Monumenten höre. Ich kann nicht an eine Bildsäule denken, die einem verdienten Manne gesetzt wird, ohne sie im Geiste schon von künftigen Kriegern umgeworfen und zerschlagen zu sehen. Coudray's Eisenstäbe um das Wieland'sche Grab sehe ich schon als Hufeisen unter den Pferdefüßen einer künftigen Cavallerie blinken, und ich kann noch dazu sagen, daß ich bereits einen ähnlichen Fall in Frankfurt erlebt habe. Das Wieland'sche Grab liegt überdies viel zu nahe an der Ilm; der Fluß braucht in seiner raschen Biegung kaum einhundert Jahre am Ufer fortzuzehren, und er wird die Toten erreicht haben.«

Wir scherzten mit gutem Humor über die entsetzliche Unbeständigkeit der irdischen Dinge und nahmen sodann Coudray's Zeichnung wieder zur Hand und freuten uns an den zarten und kräftigen Zügen der englischen Bleifeder, die dem Zeichner so zuwillen gewesen war, daß der Gedanke unmittelbar ohne den geringsten Verlust auf dem Papiere stand.

Dies führte das Gespräch auf Handzeichnungen, und Goethe zeigte mir eine ganz vortreffliche eines italienischen Meisters, den Knaben Jesus darstellend im Tempel unter den Schriftgelehrten. Daneben zeigte er mir einen Kupferstich, der nach dem ausgeführten Bilde gemacht war, und man konnte viele Betrachtungen anstellen, die alle zugunsten der Handzeichnung hinausliefen.»Ich bin in dieser Zeit so glücklich gewesen,« sagte Goethe, »viele treffliche Handzeichnungen berühmter Meister um ein Billiges zu kaufen. Solche Zeichnungen sind unschätzbar, nicht allein weil sie die rein geistige Intention des Künstlers geben, sondern auch weil sie uns unmittelbar in die Stimmung versetzen, in welcher der Künstler sich in dem Augenblick des Schaffens befand. Aus dieser Zeichnung des Jesusknaben im Tempel blickt aus allen Zügen große Klarheit und heitere stille Entschiedenheit im Gemüthe des Künstlers, welche wohlthätige Stimmung in uns übergeht, sowie wir das Bild betrachten. Zudem hat die bildende Kunst den großen Vortheil, daß sie rein objectiver Natur ist und uns zu sich herannöthigt, ohne unsere Empfindungen heftig anzuregen. Ein solches Werk steht da und spricht entweder gar nicht, oder auf eine ganz entschiedene Weise. Ein Gedicht dagegen macht einen weit vagern Eindruck: es erregt die Empfindungen, und bei jedem andere, nach der Natur und Fähigkeit des Hörers.«

»Ich habe,« sagte ich, »dieser Tage den trefflichen englischen Roman ›Roderik Random‹ von Smollet gelesen; dieser kam dem Eindruck einer guten Handzeichnung sehr nahe. Eine unmittelbare Darstellung, keine Spur von einer Hinneigung zum Sentimentalen, sondern das wirkliche Leben steht vor uns wie es ist, oft widerwärtig und abscheulich genug, aber im ganzen immer heitern Eindrucks wegen der ganz entschiedenen Realität.«

»Ich habe den ›Roderik Random‹ oft rühmen hören,« sagte Goethe, »und glaube was Sie mir von ihm erwähnen, doch ich habe ihn nie gelesen. Kennen Sie den ›Rasselas‹ von Johnson? Lesen Sie ihn doch auch einmal und sagen Sie mir, wie Sie ihn finden.« Ich versprach dieses zu thun.

»Auch in Lord Byron,« sagte ich, »finde ich häufig Darstellungen, die ganz unmittelbar dastehen und uns rein den Gegenstand geben, ohne unser inneres Sentiment auf eine andere Weise anzuregen, als es eine unmittelbare Handzeichnung eines guten Malers thut. Besonders der ›Don Juan‹ ist an solchen Stellen reich.« »Ja,« sagte Goethe, »darin ist Lord Byron groß; seine Darstellungen haben eine so leicht hingeworfene Realität, als wären sie improvisirt. Von ›Don Juan‹ kenne ich wenig; allein aus seinen andern Gedichten sind mir solche Stellen im Gedächtniß, besonders Seestücke, wo hin und wieder ein Segel hinausblickt, ganz unschätzbar, sodaß man sogar die Wasserlust mit zu empfinden glaubt.«

»In seinem ›Don Juan‹,« sagte ich, »habe ich besonders die Darstellung der Stadt London bewundert, die man aus seinen leichten Versen heraus mit Augen zu sehen wähnt. Und dabei macht er sich keineswegs viele Skrupel, ob ein Gegenstand poetisch sei oder nicht, sondern er ergreift und gebraucht alles wie es ihm vorkommt, bis auf die gekräuselten Perrücken vor den Fenstern der Haarschneider und bis auf die Männer, welche die Straßenlaternen mit Öl versehen.«

»Unsere deutschen Ästhetiker,« sagte Goethe, »reden zwar viel von poetischen und unpoetischen Gegenständen, und sie mögen auch in gewisser Hinsicht nicht ganz unrecht haben; allein im Grunde bleibt kein realer Gegenstand unpoetisch, sobald der Dichter ihn gehörig zu gebrauchen weiß.«

»Sehr wahr!« sagte ich, »und ich möchte wohl, daß diese Ansicht zur allgemeinen Maxime würde.«

Wir sprachen darauf aber die ›Beiden Foscari‹, wobei ich die Bemerkung machte, daß Byron ganz vortreffliche Frauen zeichne.

»Seine Frauen,« sagte Goethe, »sind gut. Es ist aber auch das einzige Gefäß, was uns Neuern noch geblieben ist, um unsere Idealität hineinzugießen. Mit den Männern ist nichts zu thun. Im Achill und Odysseus, dem Tapfersten und Klügsten, hat der Homer alles vorweggenommen.«

»Übrigens,« fuhr ich fort, »haben die ›Foscari‹ wegen der durchgehenden Folterqualen etwas Apprehensives, und man begreift kaum, wie Byron im Innern dieses peinlichen Gegenstandes so lange leben konnte, um das Stück zu machen.«

»Dergleichen war ganz Byron's Element,« sagte Goethe; »er war ein ewiger Selbstquäler, solche Gegenstände waren daher seine Lieblingsthemata, wie Sie aus allen seinen Sachen sehen, unter denen fast nicht ein einziges heiteres Sujet ist. Aber nicht wahr, die Darstellung ist auch bei den ›Foscari‹ zu loben?«

»Sie ist vortrefflich,« sagte ich; »jedes Wort ist stark, bedeutend und zum Ziele führend, sowie ich überhaupt bis jetzt in Byron noch keine matte Zeile gefunden habe. Es ist mir immer als sähe ich ihn aus den Meereswellen kommen, frisch und durchdrungen von schöpferischen Urkräften.« – »Sie haben ganz recht,« sagte Goethe, »es ist so.« – »Je mehr ich ihn lese,« fuhr ich fort, »je mehr bewundere ich die Größe seines Talents, und Sie haben ganz recht gethan, ihm in der ›Helena‹ das unsterbliche Denkmal der Liebe zu setzen.«

»Ich konnte als Repräsentanten der neuesten poetischen Zeit,« sagte Goethe, »niemand gebrauchen als ihn, der ohne Frage als das größte Talent des Jahrhunderts anzusehen ist. Und dann: Byron ist nicht antik und ist nicht romantisch, sondern er ist wie der gegenwärtige Tag selbst. Einen solchen mußte ich haben. Auch paßte er übrigens ganz wegen seines unbefriedigten Naturells und seiner kriegerischen Tendenz, woran er in Missolunghi zu Grunde ging. Eine Abhandlung über Byron zu schreiben, ist nicht bequem und räthlich, aber gelegentlich ihn zu ehren und auf ihn im einzelnen hinzuweisen, werde ich auch in der Folge nicht unterlassen.«

Da die ›Helena‹ einmal zu Sprache gebracht war, so redete Goethe darüber weiter. »Ich hatte den Schluß,« sagte er, »früher ganz anders im Sinne, ich hatte ihn mir auf verschiedene Weise ausgebildet und einmal auch recht gut; aber ich will es Euch nicht verrathen. Dann brachte mir die Zeit dieses mit Lord Byron und Missolunghi, und ich ließ gern alles übrige fahren. Aber haben Sie bemerkt, der Chor fällt bei dem Trauergesang ganz aus der Rolle? Er ist früher und durchgehends antik gehalten oder verleugnet doch nie seine Mädchennatur, hier aber wird er mit einem Mal ernst und hoch reflectirend und spricht Dinge aus, woran er nie gedacht hat und auch nie hat denken können.«

»Allerdings,« sagte ich, »habe ich dieses bemerkt; allein seitdem ich Rubens' Landschaft mit den doppelten Schatten gesehen, und seitdem der Begriff der Fictionen mir aufgegangen ist, kann mich dergleichen nicht irremachen. Solche kleine Widersprüche können bei einer dadurch erreichten höhern Schönheit nicht in Betracht kommen. Das Lied mußte nun einmal gesungen werden, und da kein anderer Chor gegenwärtig war, so mußten es die Mädchen singen.«

»Mich soll nur wundern,« sagte Goethe lachend, »was die deutschen Kritiker dazu sagen werden; ob sie werden Freiheit und Kühnheit genug haben, darüber hinwegzukommen. Den Franzosen wird der Verstand im Wege sein, und sie werden nicht bedenken, daß die Phantasie ihre eigenen Gesetze hat, denen der Verstand nicht beikommen kann und soll. Wenn durch die Phantasie nicht Dinge entständen, die für den Verstand ewig problematisch bleiben, so wäre überhaupt zu der Phantasie nicht viel. Dies ist es, wodurch sich die Poesie von der Prosa unterscheidet, bei welcher der Verstand immer zu Hause ist und sein mag und soll.«

Ich freute mich dieses bedeutenden Worts und merkte es mir. Darauf schickte ich mich an zum Gehen, denn es war gegen zehn Uhr geworden. Wir saßen ohne Licht, die helle Sommernacht leuchtete aus Norden über den Ettersberg herüber.


1827, 9. Juli. 
it Johann Peter Eckermann

Ich fand Goethe allein, in Betrachtung der Gipspasten nach dem Stosch'schen Kabinet. »Man ist in Berlin so freundlich gewesen,« sagte er, »mir diese ganze Sammlung zur Ansicht herzusenden; ich kenne die schönen Sachen schon dem größten Theile nach, hier aber sehe ich sie in der belehrenden Folge, wie Winckelmann sie geordnet hat; auch benutze ich seine Beschreibung und sehe seine Meinung nach in Fällen, wo ich selber zweifle.«

Wir hatten nicht lange geredet, als der Kanzler hereintrat und sich zu uns setzte. Er erzählte uns Nachrichten aus öffentlichen Blättern, unter andern von einem Wärter einer Menagerie, der aus Gelüste nach Löwenfleisch einen Löwen getödtet und sich ein gutes Stück davon zubereitet habe. »Mich wundert,« sagte Goethe, »daß er nicht einen Affen genommen hat, welches ein gar zarter schmackhafter Bissen sein soll.« Wir sprachen über die Häßlichkeit dieser Bestien, und daß sie desto unangenehmer, je ähnlicher die Rasse dem Menschen sei. »Ich begreife nicht,« sagte der Kanzler, »wie fürstliche Personen solche Thiere in ihrer Nähe dulden, ja vielleicht gar Gefallen daran finden können.«

– »Fürstliche Personen,« sagte Goethe, »werden so viel mit widerwärtigen Menschen geplagt, daß sie die widerwärtigen Thiere als ein Heilmittel gegen dergleichen unangenehme Eindrücke betrachten. Uns andern sind Affen und Geschrei der Papageien mit Recht widerwärtig, weil wir diese Thiere hier in einer Umgebung sehen, für die sie nicht gemacht sind; wären wir aber in dem Falle, auf Elefanten unter Palmen zu reiten, so würden wir in einem solchen Element Affen und Papageien ganz gehörig, ja vielleicht gar erfreulich finden. Aber, wie gesagt, die Fürsten haben recht, etwas Widerwärtiges mit etwas noch Widerwärtigerm zu vertreiben.« – »Hierbei,« sagte ich, »fällt mir ein Vers ein, den Sie vielleicht selber nicht mehr wissen:

›Wollen die Menschen Bestien sei,
So bringt nur Thiere zur Stube herein:
Das Wiederwärtige wird sich mindern;
Wir sind eben alle von Adams Kindern‹.«

Goethe lachte. »Ja,« sagte er, »es ist so. Eine Roheit kann nur durch eine andere ausgetrieben werden, die noch gewaltiger ist. Ich erinnere mich eines Falles aus meiner frühern Zeit, wo es unter den Adeligen hin und wieder noch recht bestialische Herren gab, daß bei Tafel in einer vorzüglichen Gesellschaft und in Anwesenheit von Frauen ein reicher Edelmann sehr massive Reden führte zur Unbequemlichkeit und zum Ärgerniß aller, die ihn hören mußten. Mit Worten war gegen ihn nichts auszurichten. Ein entschlossener ansehnlicher Herr, der ihm gegenübersaß, wählte daher ein anderes Mittel, indem er sehr laut eine grobe Unanständigkeit beging, worüber alle erschraken und jener Grobian mit, sodaß er sich gedämpft fühlte und nicht wieder den Mund aufthat. Das Gespräch nahm von diesem Augenblick an eine anmuthige heitere Wendung zur Freude aller Anwesenden, und man wußte jenem entschlossenen Herrn für seine unerhörte Kühnheit vielen Dank in Erwägung der trefflichen Wirkung, die sie gethan hatte.«

Nachdem wir uns an dieser heitern Anekdote ergötzt hatten, brachte der Kanzler das Gespräch auf die neuesten Zustände zwischen der Oppositions- und der ministeriellen Partei zu Paris, indem er eine kräftige Rede fast wörtlich recitirte, die ein äußerst kühner Demokrat zu seiner Vertheidigung vor Gericht gegen die Minister gehalten. Wir hatten Gelegenheit, das glückliche Gedächtniß des Kanzlers abermals zu bewundern. Über jene Angelegenheit und besonders das einschränkende Preßgesetz ward zwischen Goethe und dem Kanzler viel hin und wieder gesprochen; es war ein reichhaltiges Thema, wobei sich Goethe wie immer als milder Aristokrat erwies, jener Freund aber wie bisher scheinbar auf der Seite des Volks festhielt.»Mir ist für die Franzosen in keiner Hinsicht bange,« sagte Goethe; »sie stehen auf einer solchen Höhe welthistorischer Ansicht, daß der Geist auf keine Weise mehr zu unterdrücken ist. Das einschränkende Gesetz wird nur wohlthätig wirken, zumal da die Einschränkungen nichts Wesentliches betreffen, sondern nur gegen Persönlichkeiten gehen. Eine Opposition, die keine Grenzen hat, wird platt. Die Einschränkung aber nöthigt sie geistreich zu sein, und dies ist ein sehr großer Vortheil Direct und grob seine Meinung herauszusagen, mag nur entschuldigt werden können und gut sein, wenn man durchaus recht hat. Eine Partei aber hat nicht durchaus recht, eben weil sie Partei ist, und ihr steht daher die indirecte Weise wohl, worin die Franzosen von je große Muster waren. Zu meinem Diener sage ich geradezu: ›Hans, zieh mir die Stiefel aus!‹ Das versteht er. Bin ich aber mit einem Freunde und ich wünsche von ihm diesen Dienst, so kann ich mich nicht so direct ausdrücken, sondern ich muß auf eine anmuthige, freundliche Wendung sinnen, wodurch ich ihn zu diesem Liebesdienst bewege. Die Nöthigung regt den Geist auf, und aus diesem Grunde, wie gesagt, ist mir die Einschränkung der Preßfreiheit sogar lieb. Die Franzosen haben bisher immer den Ruhm gehabt, die geistreichste Nation zu sein, und sie verdienen es zu bleiben. Wir Deutschen fallen mit unserer Meinung gern gerade heraus und haben es im Indirecten noch nicht sehr weit gebracht.

Die Pariser Parteien,« fuhr Goethe fort, »könnten noch größer sein als sie sind, wenn sie noch liberaler und freier wären und sich gegenseitig noch mehr zugeständen als sie thun. Sie stehen auf einer höhern Stufe welthistorischer Ansicht als die Engländer, deren Parlament gegeneinanderwirkende gewaltige Kräfte sind, die sich paralysiren, und wo die große Einsicht eines einzelnen Mühe hat durchzudringen, wie wir an Canning und den vielen Quengeleien sehen, die man diesem großen Staatsmanne macht.«

Wir standen auf, um zu gehen. Goethe aber war so voller Leben, daß das Gespräch noch eine weile stehend fortgesetzt wurde. Dann entließ er uns liebevoll und ich begleitete den Kanzler nach seiner Wohnung. Es war ein schöner Abend, und wir sprachen im Gehen viel über Goethe. Besonders aber wiederholten wir uns gern jenes Wort, daß eine Opposition ohne Einschränkung platt werde.




1827, 15. Juli. 
Mit Johann Peter Eckermann 


Ich ging diesen Abend nach 8 Uhr zu Goethe, den ich soeben aus seinem Garten zurückgekehrt fand. »Sehen sie nur, was da liegt!« sagte er; »ein Roman in drei Bänden, und zwar von wem? von Manzoni!« Ich betrachtete die Bücher, die sehr schön eingebunden waren und eine Inschrift an Goethe enthielten. »Manzoni ist fleißig.« sagte ich. – »Ja, das regt sich,« sagte Goethe. – »Ich kenne nichts von Manzoni,« sagte ich, »als seine Ode auf Napoleon, die ich dieser Tage in Ihrer Übersetzung abermals gelesen und im hohen Grade bewundert habe. Jede Strophe ist ein Bild!« – »Sie haben recht,« sagte Goethe, »die Ode ist vortrefflich. Aber finden Sie, daß in Deutschland einer davon redet? Es ist so gut als ob sie gar nicht da wäre, und doch ist sie das beste Gedicht, was über diesen Gegenstand gemacht worden.«

Goethe fuhr fort die englischen Zeitungen zu lesen, in welcher Beschäftigung ich ihn beim Hereintreten gefunden. Ich nahm einen Band von Carlyle's Übersetzung deutscher Romane in die Hände, und zwar den Theil, welcher Musäus und Fouqué enthielt. Der mit unserer Literatur sehr vertraute Engländer hatte den übersetzten Werken selbst immer eine Einleitung, das Leben und eine Kritik des Dichters enthaltend, vorangehen lassen. Ich las die Einleitung zu Fouqué und konnte zu meiner Freude die Bemerkung machen, daß das Leben mit Geist und vieler Gründlichkeit geschrieben, und der kritische Standpunkt, aus welchem dieser beliebte Schriftsteller zu betrachten, mit großem Verstand und vieler ruhiger milder Einsicht in poetische Verdienste bezeichnet war. Bald vergleicht der geistreiche Engländer unsern Fouqué mit der Stimme eines Sängers, die zwar keinen großen Umfang habe und nur wenige Töne enthalte, aber die wenigen gut und vom schönsten Wohlklange; dann, um seine Meinung ferner auszudrücken, nimmt er ein Gleichniß aus kirchlichen Verhältnissen her, indem er sagt, daß Fouqué an der poetischen Kirche zwar nicht die Stelle eines Bischofs oder eines andern Geistlichen vom ersten Range bekleide, vielmehr mit den Functionen eines Kaplans sich begnüge, in diesem mittlern Amte aber sich sehr wohl ausnehme.

Während ich dieses gelesen, hatte Goethe sich in seine hintern Zimmer zurückgezogen. Er sendete mir seinen Bedienten mit der Einladung, ein wenig nachzukommen, welches ich that. »Setzen Sie sich noch ein wenig zu mir,« sagte er, »daß wir noch einige Worte miteinander reden. Da ist auch eine Übersetzung des Sophokles [von Thudichum] angekommen, sie liest sich gut und scheint sehr brav zu sein; ich will sie doch einmal mit Solger vergleichen. Nun, was sagen Sie zu Carlyle?« Ich erzählte ihm, was ich über Fouqué gelesen. »Ist das nicht sehr artig?« sagte Goethe; »ja, überm Meere giebt es auch gescheite Leute, die uns kennen und zu würdigen wissen.

Indessen,« fuhr Goethe fort, »fehlt es in andern Fächern uns Deutschen auch nicht an guten Köpfen. Ich habe in den ›Berliner Jahrbüchern‹ die Recension eines Historikers über Schlosser gelesen, die sehr groß ist. Sie ist Heinrich Leo unterschrieben, von welchem ich noch nichts gehört habe und nach welchem wir uns doch erkundigen müssen. Er steht höher als die Franzosen, welches in geschichtlicher Hinsicht doch etwas heißen will. Jene haften zu sehr am Realen und können das Ideelle nicht zu Kopf bringen, dieses aber besitzt der Deutsche in ganzer Freiheit. Über das indische Kastenwesen hat er die trefflichsten Ansichten. Man spricht immer viel von Aristokratie und Demokratie, die Sache ist ganz einfach diese: In der Jugend, wo wir nichts besitzen ober doch den ruhigen Besitz nicht zu schätzen wissen, sind wir Demokraten; sind wir aber in einem langen Leben zu Eigenthum gekommen, so wünschen wir dieses nicht allein gesichert, sondern wir wünschen auch, daß unsere Kinder und Enkel das Erworbene ruhig genießen mögen. Deshalb sind wir im Alter immer Aristokraten ohne Ausnahme, wenn wir auch in der Jugend uns zu andern Gesinnungen hinneigten. Leo spricht über diesen Punkt mit großem Geiste.

Im ästhetischen Fache sieht es freilich bei uns am schwächsten aus, und wir können lange warten, bis wir auf einen Mann wie Carlyle stoßen. Es ist aber sehr artig, daß wir jetzt, bei dem engen Verkehr zwischen Franzosen, Engländern und Deutschen, in den Fall kommen, uns einander zu corrigiren. Das ist der große Nutzen, der bei einer Weltliteratur herauskommt und der sich immer mehr zeigen wird. Carlyle hat das Leben von Schiller geschrieben und ihn überall so beurtheilt, wie ihn nicht leicht ein Deutscher beurtheilen wird. Dagegen sind wir über Shakespeare und Byron im Klaren und wissen deren Verdienste vielleicht besser zu schätzen als die Engländer selber.«




1827, 16. Juli. 
Mit Friedrich von Müller

a. 


Erst diesen Abend fand ich die rechte Stunde, Goethen nach einem langen Zweigespräch über »Helena« Ihre [der Freifrau v. Beaulieu] inhaltsreichen, geist-vollen Worte1 zu zeigen. Er war ungemein davon erbaut, überrascht, ergriffen. »Curios! Diese Analyse fängt genial genug von hinten an, überspringt keck und frei den ganzen ersten Theil, trifft geradezu den wichtigsten Punkt und schafft sich im Analysiren und Reproduciren alsobald ein neues, höchst dichterisches und erhabenes Wesen. Curios, curios! aber sehr geistreich, sehr liebenswürdig. Besonders ist das ›Greifen des Feuers als Spielzeug‹ und die Andeu tung, ›das Gewand bleibt in den Händen der Kraft,‹ höchst originell und zart ausgesprochen. – Nun, ein solcher Leser entschädigt für tausend alberne Dunst- und Plattköpfe. Aber sie ist auch aus unserer guten Zeit, hat unsere ganze Bildungsperiode mit durchgemacht, und da müßte es schlimm sein, wenn Kraft und Schönheit in einem solchen Individuum vereint nicht ein besseres und höheres Urtheil als alle Immermanne, Tiecke und Raupachs unserer neuen Zeit haben wollte. Ja, wenn diese Frau sich nicht so sehr in der Welt verschlossen hätte – da hättet Ihr erst sehen sollen, zu welchem Gipfel weibliche Kraft aufzusteigen vermag.«

b. 


Goethe bemerkte: der letzte Chor in der Helena sei bloß darum weit ausgeführter als die übrigen, weil ja jede Symphonie mit einem Uni aller Instrumente brillant zu endigen strebe. Auf Faust zu reden kommend, sagte er: bei aller Muße und Abtrennung von der Welt getrau' er sich noch jetzt denselben in drei Monaten zu beenden.

Dann sprachen wir von Immermann's Recension der Kleist'schen Schriften, die er sehr tadelte. »Die Herren schaffen und künsteln sich neue Theorien, um ihre Mittelmäßigkeit für bedeutend ausgeben zu können. Wir wollen sie gewähren lassen, unsern Weg still fortgehen und nach einigen Jahrhunderten noch von uns reden lassen.

Von der Hegel'schen Philosophie mag ich gar nichts wissen, wiewohl Hegel selbst mir ziemlich zusagt. So viel Philosophie als ich bis zu meinem seligen Ende brauche, habe ich noch allenfalls, eigentlich brauche ich gar keine. Cousin hat mir nichts Widerstrebendes, aber er begreift nicht, daß es wohl eklektische Philosophen, aber keine eklektische Philosophie geben kann. Die Sache ist so gewaltig schwer, sonst hätten die guten Menschen sich nicht seit Jahrtausenden so damit abgequält. Und sie werden es nie ganz treffen. Gott hat das nicht gewollt, sonst müßte er sie anders machen. Jeder muß selbst zusehen, wie er sich durchhilft.

Es wird viel über die Methode des Zeitgebrauchs gesprochen. Sonst hatte ich einen gewissen Cyclus von fünf oder sieben Tagen, worin ich die Beschäftigungen vertheilte; da konnte ich unglaublich viel leisten.«

Von Klopstock sagte er: »er war klein, beleibt, zierlich, sehr diplomatischen Anstandes, von noblen Sitten, etwas ans Pedantische streifend, aber geistreichern Blickes, als alle seine Bilder.«

1 Nicht aufzufinden.



1827, 18. Juli. 
Mit Johann Peter Eckermann


»Ich habe Ihnen zu verkündigen,« war heute Goethes erstes Wort bei Tische, »daß Manzoni's Roman [I promessi sposi] alles überflügelt, was wir in dieser Art kennen. Ich brauche Ihnen nichts weiter zu sagen, als daß das Innere, alles was aus der Seele des Dichters kommt, durchaus vollkommen ist, und daß das Äußere, alle Zeichnung von Localitäten und dergleichen, gegen die großen innern Eigenschaften um kein Haar zurücksteht. Das will etwas heißen.« Ich war verwundert und erfreut, dieses zu hören. »Der Eindruck beim Lesen,« fuhr Goethe fort, »ist der Art, daß man immer von der Rührung in die Bewunderung fällt und von der Bewunderung wieder in die Rührung, sodaß man aus einer von diesen beiden großen Wirkungen gar nicht herauskommt. Ich dächte, höher könnte man es nicht treiben. In diesem Roman sieht man erst recht, was Manzoni ist. Hier kommt sein vollendetes Inneres zum Vorschein, welches er bei seinen dramatischen Sachen zu entwickeln keine Gelegenheit hatte. Ich will nun gleich hinterher den besten Roman von Walter Scott lesen, etwa den ›Waverley‹, den ich noch nicht kenne, und ich werde sehen, wie Manzoni sich gegen diesen großen englischen Schriftsteller ausnehmen wird. Manzoni's innere Bildung erscheint hier auf einer solchen Höhe, daß ihm schwerlich etwas gleichkommen kann; sie beglückt uns als eine durchaus reife Frucht. Und eine Klarheit in der Behandlung und Darstellung des Einzelnen wie der italienische Himmel selber!« – »Sind auch Spuren von Sentimentalität in ihm?« fragte ich. – »Durchaus nicht,« antwortete Goethe. »Er hat Sentiment, aber er ist ohne alle Sentimentalität; die Zustände sind männlich und rein empfunden. Ich will heute nichts weiter sagen, ich bin noch im ersten Bande, bald aber sollen Sie mehr hören.«




1827, 21. Juli. 
Mit Johann Peter Eckermann 


Als ich diesen Abend zu Goethe ins Zimmer trat, fand ich ihn im Lesen von Manzoni's Roman. »Ich bin schon im dritten Bande,« sagte er, indem er das Buch an die Seite legte, »und komme dabei zu vielen neuen Gedanken. Sie wissen, Aristoteles sagt vom Trauerstiele, es müsse Furcht erregen, wenn es gut sein solle. Es gilt dieses jedoch nicht bloß von der Tragödie, sondern auch von mancher andern Dichtung. Sie finden es in meinem ›Gott und die Bajadere‹, Sie finden es in jedem guten Lustspiele und zwar bei der Verwickelung, ja Sie finden es sogar in den ›Sieben Mädchen in Uniform‹ [von Angely], indem wir doch immer nicht wissen können, wie der Spaß für die guten Dinger abläuft. Diese Furcht nun kann doppelter Art sein: sie kann bestehen in Angst, oder sie kann auch bestehen in Bangigkeit. Diese letztere Empfindung wird in uns rege, wenn wir ein moralisches Übel auf die handelnden Personen heranrücken und sich über sie verbreiten sehen, wie z. B. in den ›Wahlverwandtschaften‹. Die Angst aber entsteht im Leser oder Zuschauer, wenn die handelnden Personen von einer physischen Gefahr bedroht werden, z. B. in den ›Galeerensclaven‹ [von Th. Hell] und im ›Freischütz‹; ja in der Scene der Wolfsschlucht bleibt es nicht einmal bei der Angst, sondern es erfolgt eine totale Vernichtung in allen, die es sehen.

Von dieser Angst nun macht Manzoni Gebrauch und zwar mit wunderbarem Glück, indem er sie in Rührung auflöst und uns durch diese Empfindung zur Bewunderung führt. Das Gefühl der Angst ist stoffartig und wird in jedem Leser entstehen; die Bewunderung aber entspringt aus der Einsicht, wie vortrefflich der Autor sich in jedem Falle benahm, und nur der Kenner wird mit dieser Empfindung beglückt werben. Was sagen sie zu dieser Ästhetik? Wäre ich jünger, so würde ich nach dieser Theorie etwas schreiben, wenn auch nicht ein Werk von solchem Umfange wie dieses von Manzoni.

Ich bin nun wirklich sehr begierig, was die Herren vom ›Globe‹ zu diesem Roman sagen werden; sie sind gescheidt genug, um das Vortreffliche daran zu erkennen; auch ist die ganze Tendenz des Werks ein rechtes Wasser auf die Mühle dieser Liberalen, wiewohl sich Manzoni sehr mäßig gehalten hat. Doch nehmen die Franzosen selten ein Werk mit so reiner Neigung auf wie wir; sie bequemen sich nicht gern zu dem Standpunkte des Autors, sondern sie finden selbst bei dem Besten immer leicht etwas, das nicht nach ihrem Sinne ist und das der Autor hätte sollen anders machen.«

Goethe erzählte mir sodann einige Stellen des Romans, um mir eine Probe zu geben, mit welchem Geiste er geschrieben. »Es kommen,« fuhr er sodann fort, »Manzoni vorzüglich vier Dinge zu statten, die zu der großen Vortrefflichkeit seines Werks beitragen. Zunächst, daß er ein ausgezeichneter Historiker ist, wodurch denn seine Dichtung die große Würde und Tüchtigkeit bekommen hat, die sie über alles dasjenige weit hinaushebt, was man gewöhnlich sich unter Roman vorstellt. Zweitens ist ihm die katholische Religion vortheilhaft, aus der viele Verhältnisse poetischer Art hervorgehen, die er als Protestant nicht gehabt haben würde; sowie es drittens seinem Werke zugute kommt, daß der Autor in revolutionären Reibungen viel gelitten, die, wenn er auch persönlich nicht darin verflochten gewesen, doch seine Freunde getroffen und theils zu Grunde gerichtet haben. Und endlich viertens ist es diesem Romane günstig, daß die Handlung in der reizenden Gegend am Comersee vorgeht, deren Eindrücke sich dem Dichter von Jugend auf eingeprägt haben und die er also in- und auswendig kennt. Daher entspringt nun auch ein großes Hauptverdienst des Werks, nämlich die Deutlichkeit und das bewundernswürdige Detail in Zeichnung der Localität.«



1827, 25. Juli. 
Mit Johann Peter Eckermann

Goethe hat in diesen Tagen einen Brief von Walter Scott erhalten, der ihm große Freude machte. Er zeigte ihn mir heute, und da ihm die englische Handschrift etwas sehr unleserlich vorkam, so bat er mich, ihm den Inhalt zu übersetzen. Es scheint, daß Goethe dem berühmten englischen Dichter zuerst geschrieben hatte und daß dieser Brief darauf eine Erwiederung ist.

Goethe hatte, wie gesagt, über diesen Brief große Freude. Er war übrigens der Meinung, als enthalte er zu viel Ehrenvolles für ihn, als daß er nicht sehr vieles davon auf Rechnung der Höflichkeit eines Mannes von Rang und hoher Weltbildung zu setzen habe.Er erwähnte sodann die gute und herzliche Art, womit Walter Scott seine Familienverhältnisse zur Sprache bringe, welche ihn als Zeichen eines brüderlichen Vertrauens im hohen Grade beglücke.

»Ich bin nun wirklich,« fuhr er fort, »auf sein Leben Napoleons' begierig, welches er mir ankündigt. Ich höre so viel Widersprechendes und Leidenschaftliches über das Buch, daß ich im voraus gewiß bin, es wird auf jeden Fall sehr bedeutend sein.«

Ich fragte nach Lockhart, und ob er sich seiner noch erinnere.

»Noch sehr wohl,« erwiederte Goethe. »seine Persönlichkeit macht einen entschiedenen Eindruck, sodaß man ihn so bald nicht wieder vergißt. Er soll, wie ich von reisenden Engländern und meiner Schwiegertochter höre, ein junger Mann sein, von dem man in der Literatur gute Dinge erwartet.

Übrigens wundere ich mich fast, daß Walter Scott kein Wort über Carlyle sagt, der doch eine so entschiedene Richtung auf das Deutsche hat, daß er ihm sicher bekannt sein muß. An Carlyle ist es bewundernswürdig, daß er bei Beurtheilung unserer deutschen Schriftsteller besonders den geistigen und sittlichen Kern als das eigentlich Wirksame im Auge hat. Carlyle ist eine moralische Macht von großer Bedeutung. Es ist in ihm viel Zukunft vorhanden, und es ist gar nicht abzusehen, was er alles leisten und wirken wird.«


1827, 31. Juli. 
Mit Friedrich von Müller u.a. 


Den 31. Juli war ich mit Pölchau von Berlin bei Goethe, der sein großes Interesse an der Logierschen Erfindung1 einer neuen einfachern Musiklehre zu erkennen gab. Die Maler, sagte er, bedürften auch einer Logik.

1 Logier, Joh. Bernh., System der Musikwissenschaft. Berlin 1822.




1827, 8. August. 
Mit Friedrich von Müller 


Abends traf ich Goethen zu Bett, an Erkältung kränkelnd, doch munter. Ich erzählte ihm vom Staatsrath Turgeniew, er viel vom Globe. »Was ist die Feindseligkeit anders als ein Herausheben der schwachen Seiten?«




1827, 9. August. 
Mit Friedrich von Müller


Heute fand ich ihn wohler. Als wir über Duelle sprachen, äußerte er: »Was kommt auf ein Menschenleben an? Eine einzige Schlacht rafft Tausende weg. Es ist wichtiger, daß das Princip des Ehrenpunkts, eine gewisse Garantie gegen rohe Thätlichkeiten, lebendig erhalten werde.

Die Gesetze verjähren ja alle in mehr oder weniger Jahren, das ist bekannt. Der praktische Jurist muß sich über die einzelnen Fälle geschickt und mit Wohlwollen hinauszuhelfen suchen.«



1827, 12. August. 
Mit Friedrich von Müller 



Zwischen dem Hof war ich lange bei ihm. Er sprach heute viel über Farbenlehre und Naturstudium. Lehren, überliefern lasse sich jene gar nicht, man müsse sie selbst machen, durch unmittelbares Anschauen und Reflectiren. Es gelte ein Thun, kein Theoretisiren.

Sodann sprach er viel über Canning's Tod. »Man heftet sich klügelnd bei solchen großen, folgereichen Vorfällen an die Einzelnheiten vermeintlicher Ursachen. Darin liegt es nicht; es mußte so kommen, wenn auch das Einzelne anders geschehen wäre.« Dieser Glaube an eine specielle Vorsehung trat auch schon einst in seinem Parkgarten klar hervor, als er mir des Hofraths Vogel ärztliche Hülfe zu suchen anrieth. »Unser Leben kann sicherlich durch die Ärzte um keinen Tag verlängert werden, wir leben so lange es Gott bestimmt hat; aber es ist ein großer Unterschied, ob wir jämmerlich, wie arme Hunde leben, oder wohl und frisch, und darauf vermag ein kluger Arzt viel.



1827, 12. August.
Mit Friedrich von Müller

Von Bernhard's [Prinz von S.-Weimar] Reise sagte er: »Sie quält sich zu lange am Anfang an den englischen Küsten herum; ich hätte gleich in media re mit Boston angefangen.«


1827, 23. August.
Mit Friedrich von Müller u.a.

Ich traf ihn mit seinem Sohn und Töpfern bei Tische. Tagebücher der Jenaischen Bibliotheksmänner wurden vorgezeigt und deren ausnehmender Nutzen, wie überhaupt der Tagebücher und Agenda, gepriesen. »Wir schätzen ohnehin die Gegenwart zu wenig,« sagte er, »thun die meisten Dinge nur frohnweise ab, um ihrer los zu werden. Eine tägliche Übersicht des Geleisteten und Erlebten macht erst, daß man seines Thuns gewahr und froh werde, sie führt zur Gewissenhaftigkeit. Was ist die Tugend anderes als das wahrhaft Passende in jedem Zustande? Fehler und Irrthümer treten bei solcher täglichen Buchführung von selbst hervor, die Beleuchtung des Vergangenen wuchert für die Zukunft. Wir lernen den Moment würdigen, wenn wir ihn alsobald zu einem historischen machen.«

Das Gespräch kam auf die Sängerin Sonntag und nahm die heiterste und humoristischste Wendung. Er sprach von seinem Gedicht auf sie, das ihr noch verborgen, nur durch ein zweites könne es producibel werden. Sie besitze ein wahrhaft characteristisches Profil, eigensinnige Selbstständigkeit und grandiose Festhaltung an Ideen ausdrückend, fast Proserpinenartig; aber nur einmal, bei einer raschen Wendung des Gesichts, als sie etwas widersprechen zu müssen glaubte, sei dieses Profil hervorgetreten. »Und gerade deßhalb achte und liebe ich sie,« versicherte er, »nicht der sentimentalen oder graziös-naiven Mienen wegen, die sie sich antrillirt.«

Witz auf Witz entquoll den beredten Lippen, heiterste und pikanteste Ausfälle nach allen Seiten. »Ich wirke nun 50 Jahre in meinen öffentlichen Geschäften nach meiner Weise, als Mensch, nicht kanzleimäßig, nicht so direct und folglich etwas minder platt. Ich suche jeden Untergebenen frei im gemessenen Kreise sich bewegen zu lassen, damit er auch fühle, daß er ein Mensch sei. Es kommt Alles auf den Geist an, den man einem öffentlichen Wesen einhaucht und auf Folge.«

Dann sprach er von Zelter's herrlichem Bilde von Vegas und wir fuhren aus.

Gelegentlich des Eckendahl'schen Namens, bemerkte er: »die Sachsen, vornehmlich die Ostfriesen, hatten von jeher mehr Cultur als die südlichern Deutschen. Was ist Cultur anderes als ein höherer Begriff von politischen und militärischen Verhältnissen? Auf die Kunst sich in der Welt zu betragen und nach Erfordern dreinzuschlagen, kommt es bei den Nationen an.«

Als er auf die Frau Großfürstin zu sprechen kam, äußerte er, wie er sie ganz vorzüglich wegen ihrer entschiedenen praktischen Richtung, großen Aufmerksamkeit auf alles und vorurtheilsfreien Auffassung der menschlichen Zustände verehre. Immer sei sie gegen ihn dieselbe, gerade da wieder anknüpfend, wo sie zuletzt mit ihm zu irgend einem Punkte gelangt sei.


1827, 23. August. 
Mit Friedrich von Müller


»Nichts ist mir fataler,« – äußerte er auch – »als wenn die Leute sagen: Sie sehen wohl aus, oder besser wie das vorige Mal. Welch' alberne Anmaßung, sofort abnehmen zu wollen, wie es einem zumuthe ist.«


1827, 25. August. 
Mit Gustav Parthey 


Nach einem beträchtlichen Umwege gelangte ich endlich an das Haus und stieg die flachen Treppen, die ich aus Zelter's Beschreibung schon kannte, nicht ohne Herzklopfen hinan. Oben fand ich einen Diener, der mich in einen geräumigen Saal führte und Zelter's Brief nebst meiner Karte nach Goethes Zimmer trug. Nicht lange war ich allein, da öffnete sich die Thür und er trat mit freundlich ernster Miene herein. Wir setzten uns und er begann: »Mein Freund Zelter schreibt mir, daß Sie den Orient besucht haben; von wo aus haben Sie die Reise begonnen?« – Zunächst von Malta aus, nachdem ich vorher Italien und Sicilien gesehn. – »Bleiben wir vorläufig bei Malta stehn. Dieser dürre Kalkfelsen zwischen Sicilien und Afrika muß einen eigenthümlichen Character haben.«

Hierüber konnte ich nun ausführlich berichten, da ich in Malta zwei Monate auf eine Schiffsgelegenheit nach Alexandrien warten mußte. Die merkwürdig feste Lage von Lavaletta mit ihren vielen trefflichen Häfen, die seltene Fruchtbarkeit im Innern, die eigent hümliche Seesalzbereitung, die Mischung der Sprache aus italienischen und arabischen Elementen, der klägliche Fall des Malteserordens im Jahre 1798 – das alles wurde mit größtem Bedachte, aber in der eingehendsten Weise besprochen. Überall trafen seine Fragen den Punkt, worauf es ankam, und eine große, ruhige Weltanschauung leuchtete aus den einzelnen Bemerkungen. Wohl hatte ich mir aus Zelter's Gesprächen einen gewaltigen Goethe construirt, aber die Wirklichkeit übertraf alles Gedachte und Eingebildete. Der sonore Baß seiner Stimme hatte noch mit 78 Jahren eine ungemeine Weichheit und war der feinsten Modulationen fähig. Bei aller innerlichen Freude über mein Glück ließ ich mich nicht von unnöthiger Redseligkeit hinreißen... Auch wußte ich wohl, daß es für das größte Laster gilt, einen Besuch, und besonders einen ersten Besuch, über die Gebühr zu verlängern. Daher wartete ich bei jedem schicklichen Abschnitte auf ein Zeichen zum Aufbruche und auf den vornehmen Entlassungsbückling. Aber es kam ganz anders und über alle meine Erwartung.

Das Gespräch über Malta ging seinen ununterbrochenen Gang; manchmal kam es mir wie ein Examen vor. In Lavaletta hatte ich täglich mehrere Stunden auf der öffentlichen Bibliothek zugebracht und mich etwas in der Literatur umgesehn. Der gelehrte Bibliothekar Dr. Bellanti war mein erster Lehrer im Arabischen und machte mich auf die wichtigsten Werke aufmerksam; daher konnte ich über das meiste guten Bescheid geben und bestrebte mich, der klaren Präcision der Fragen auch in den Antworten nahe zu kommen. – Endlich erhob sich Goethe und ich schickte mich zum Abschiede an. »Wir haben« – sagte er mit der größten Freundlichkeit – »noch so viel über Ihre orientalische Reise zu sprechen, daß ich Sie bitte, solange Sie bei uns verweilen, alle Tage bei mir zu Mittag zu essen. Wenn Sie heute um 2 Uhr sich einfinden wollen, so wird mir dies sehr angenehm sein.«

.... Ich .... war zur bestimmten Zeit wieder bei Goethe; ich fand seinen Sohn, den Kammerjunker, und dessen Frau, den Kunst-Meyer und Dr. Eckermann, die.. Räthe Töpfer und Conta. Frau v. Goethe machte die angenehmste Wirthin und wies mir meinen Platz zwischen ihrem Manne und ihrem Schwiegervater an. Anfangs drehte sich das Gespräch um Tagesneuigkeiten und Alltagsgeschichten, die der Kammerjunker mit großer Emphase vortrug. Der alte Herr hielt sich still, und wenn er zuweilen einen Brocken mit hineinwarf, so zeigte sich immer der richtigste gesunde Menschenverstand und die praktische Lebensweisheit einer ruhigen Überlegung. Er fragte mich nach den Berliner Zuständen, nach seinem Freunde Zelter, nach dem Theater und andern gleichgültigen Dingen.

Gegen das Ende der Mahlzeit sagte er mir: »Mit welchem Schiffe haben Sie Ihre Reise von Malta fortgesetzt?« Ich erwiederte, daß im Anfange des Herbstes die dalmatinischen Fahrzeuge, welche nach Ägypten gehn, um Korn zu holen, gern in Malta anlegen, um englische Manufacturwaaren einzunehmen, die nicht bloß nach Ägypten, sondern auch nach den ostindischen Besitzungen der Engländer verführt werden. Auf einer solchen Brigg aus Ragusa hätte ich die Fahrt in zehn Tagen zurückgelegt. – Nun war das Reisegespräch wieder in Gang gebracht und wurde von ihm im Flusse erhalten. Man sah, daß er sich vorgesetzt hatte, von den Ereignissen meiner levantinischen Wanderung ganz nach der Reihe und Schritt vor Schritt Kenntniß zu nehmen. Einzelne desultorische Fragen seines Sohnes, der bald von den Moscheen in Konstantinopel, bald von den Pyramiden bei Memphis etwas wissen wollte, machten den alten Herrn gar nicht irre, und da ich seine Absicht bald merkte, so kehrte ich immer gleich in die rechte Ordnung, zurück .....

Die großartigen Unternehmungen des Pascha Mehmed Ali, des kühnen Regenerators von Ägypten, fanden Goethes vollste Anerkennung, wogegen der Kammerjunker sich an der mörderischen Vertilgung der Mamlucken: auf der Citadelle von Kairo ergötzte. – Dann ging es in bequemer Nilfahrt bis zur Katarakte von Wadi-Halfa und auf Kameelen bis nach Dongola, wo das südliche Kreuz hochaufgerichtet am nächtlichen Firmamente leuchtet, und wo die von.. Ehrenberg erbaute Citadelle der südlichste Punkt (+ 18º N. Br.) meiner Wanderung war.

Das Mahl verlängerte sich auf diese Weise bis 6 Uhr, wo wir nilabwärts bis zur reizenden windstillen Nilinsel Philä mit ihren zierlichen Tempeln und der unvergleichlichen Pracht ihres Abendhimmels zurückgekehrt waren. Beim Abschied bat ich um die Vergunst, morgen und übermorgen nicht kommen zu dürfen, weil ich nach Jena hinüberfahren wollte, um die dortige Bibliothek kennen zu lernen, aber am 28sten würde ich nicht verfehlen, meinen Glückwunsch zu dem festlichen Tage darzubringen. .....

Der alte Herr trug mir einen herzlichen Gruß an seinen Freund Knebel auf, an dem ich »einen ganz jungen Mann von 83 Jahren« finden werde, der zwar schon von 1763-73 in Potsdam als Officier gestanden, aber kürzlich erst sich verheirathet habe und Vater von zwei muntern Knaben sei.


1827, 25. August. 
Bei Goethe zu Tisch


Nach Tisch bei Goethe, wo ich [v. Müller], Parthey, Conta, Vogel und Eckermann noch bei Tisch traf .... Goethe machte artige Späße über das Abfüttern seiner Enkel, denen er stets den Magen zu verderben beschuldigt werde.


1827, 28. August. 
Mit Eduard Gans

[Gans war am Vormittage in Goethes Haus gekommen, als gerade König Ludwig I. von Bayern eingetroffen war, um selbst Goethen das Großkreuz des Michaelsordens zu überbringen, und hatte sich bei der dadurch entstandenen Aufregung und bei der großen Zahl zum Geburtstage aufwartender Personen unbemerkt wieder entfernt, war aber auf Veranlassung v. Müller's nachher nochmals zu Goethe gegangen.]

Ich wurde ohne die geringste Schwierigkeit angenommen, und da alle Gratulanten sich bereits entfernt hatten, so wurde mir das Glück zutheil, mich mit Goethe ungefähr eine halbe Stunde lang in einem kleinen Cabinette unterhalten zu dürfen. Das Gespräch betraf die Berliner Universität, die Neigung für philosophische Studien auf derselben, die Wirksamkeit, welche Hegel fortwährend daselbst ausübe, und endlich die ›Jahrbücher [für wissenschaftliche Kritik]‹, welche Goethe zu interessiren schienen. Er meinte, wenn die Philosophie es sich zur Pflicht mache, auch auf die Sachen und Gegenstände, welche sie behandeln, Rücksicht zu nehmen, so dürfte sie um so wirksamer werden, je mehr sie freilich auch mit den Empirikern zu thun bekomme; nur werde immer die Frage entstehen, ob es zugleich möglich sei, ein großer Forscher und Beobachter und auch ein bedeutender Verallgemeinerer und Zusammenfasser zu sein. Es zeige sich namentlich jetzt an Cuvier und Geoffroy de St. Hilaire, daß diese Eigenschaften in der Regel ganz verschiedenen Menschen zutheil würden. Er traue Hegel zwar sehr viele Kenntnisse in der Natur wie in der Geschichte zu, ob aber seine philosophischen Gedanken sich nicht immer nach den neuen Entdeckungen, die man doch stets machen würde, modificiren müßten, und dadurch selber ihr Kategorisches verlören, könne er zu fragen doch nicht unterlassen. Ich erwiederte, daß eine Philosophie ja gar nicht darauf Anspruch mache, für alle Zeiten eine Gedankenpresse zu sein, daß sie nur ihre Zeit vorstellen und daß mit den neuen Schritten, welche die Geschichte und die mit ihr gehenden Entdeckungen machen würden, sie auch bereit sei, ihr Typisches in flüssige Entwickelung zu verwandeln. Diese Bescheidenheit des philosophischen Bewußtseins schien Goethe zu gefallen, und er kam nunmehr auf die ›Jahrbücher‹. Ihm mißfiel eine gewisse Schwerfälligkeit und Weitläuftigkeit, welche in den einzelnen Abhandlungen läge; er tadelte meine Recension über Savigny's ›Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter‹ aus dem Gesichtspunkte, daß ich den Autor nöthigen wollte, etwas anderes zu thun, als er im Sinne habe, aber mit dem Brechen der Anonymität war er ganz einverstanden und hoffte, indem er mich entließ, die ›Jahrbücher‹ würden realisiren, was die ›Jenaer Literaturzeitung‹ einmal versprochen habe. »Was mich betrifft,« sagte er, »so will ich sehr gern den Antheil nehmen, den meine Beschäftigungen mir gestatten.« Vor meinem Weggehn lud er mich für alle folgenden Tage, die ich noch in Weimar sein würde, zum Mittagessen ein.

1827, 28. August. 
Mit Gustav Parthey 


Ich hatte versprochen, den Kanzler v. Müller gegen 2 Uhr von Goethes Hause zu dem großen Festmahle abzuholen. Da ich ... etwas zu früh kam, so fand ich Goethen allein. Er knüpfte gleich ein Gespräch an, nicht über meine Reisen, sondern erkundigte sich nach der Stellung, die Hegel in Berlin einnähme. Ich ... erwiederte in möglichster Kürze, daß Hegel persönlich der höchsten Achtung genieße, daß die Schwerfälligkeit seines Vortrags anfangs viele abgeschreckt, daß man sich aber bald überzeugt habe, die Verworrenheit sei nur an der Oberfläche, und unter der herben Schale liege der süße Kern eines ganz fertigen, in seiner Consequenz staunenswerthen philosophischen Gebäudes. Er erging sich nun im Allgemeinen über die Philosophie und sagte: »Kant ist der erste gewesen, der ein ordentliches Fundament gelegt. Auf diesem Grunde hat man denn in verschiedenen Richtungen weiter gebaut: Schelling hat das Object, die unendliche Breite der Natur, vorangestellt. Fichte faßte vorzugsweise das Subject auf: daher stammt sein Ich und Nicht-Ich, womit man in speculativer Hinsicht nicht viel anfangen kann. Seine Subjectivität kömmt aber auf einer andern Seite herrlich zum Vorschein, nämlich in seinem Patriotismus. Wie groß sind die Reden an die deutsche Nation! Da war es an der Stelle, das Subject hervorzuheben. Wo Object und Subject sich berühren, da ist Leben; wenn Hegel mit seiner Identitätsphilosophie sich mitten zwischen Object und Subject hineinstellt und diesen Platz behauptet, so wollen wir ihn loben.« Inzwischen hatten Müller, der Kammerjunker v. Goethe und Hofrath Riemer sich eingefunden. .... Meine freudige Überraschung war nicht gering, als Goethe mir beim Abschiede sagte: »Wir sind mit Ihrer Reise noch lange nicht fertig; Sie kommen doch morgen Mittag?«


1827, 28. August. 
Mit Ludwig I. König von Bayern


Ein schnelles Beförderungsmittel ist die Eisenbahn, – schreibt er [der König] am 8. Juni 1864 an Martin Wagner – um von einem Ort an einen andern versetzt zu werden, aber das Innere der Städte umgeht sie, als wenn sie nicht beständen, und vom Genuß der schönen Natur nicht mehr die Rede kann sein,... einer eingepackten, willenlosen Waare gleich schießt durch die schönsten Naturschönheiten der Mensch; Länder lernt er keine mehr kennen. »Der Duft der Pflaume ist weg!« äußerte mir bereits 1827 Goethe, und doch gab es damalen in Deutschland keine Eisenbahnen.


1827, 29. August. 
Mittag bei Goethe

a. 


Ich [Gans] fand alle Gäste schon versammelt; es waren meist diejenigen, die an dem vorigen Tage als Dichter und Anordner des Festes aufgetreten waren. Goethe war im großen Costume, mit allen seinen Orden angethan, und von Frauen nur seine Schwiegertochter und ihre Schwester Fräulein v. Pogwisch gegenwärtig. Als man zu Tisch gehen wollte, nahm Goethe Herrn Dr. Parthey aus Berlin und mich bei der Hand, führte uns zur Tafel, setzte sich zwischen uns und meinte, daß er sich mit Absicht den Platz zwischen den Berlinern vorbehalten habe, die so gütig gewesen wären, gestern an seinem Feste zu erscheinen. In der Nähe eines solchen monumentalen Riesenwerks, wie mein Nachbar war, bedürfte es erst einiger Zeit, um mich von Erstaunen, Befangenheit und anderen erstarrenden Momenten und Einflüssen zu erholen; nach und nach thaute ich auf, endlich fühlte ich mich warm und heimisch, und glaubte nun nicht allein Bescheid auf die an mich gethanen Fragen geben zu müssen, sondern wohl auch bisweilen, freilich verschämt und nicht recht sicher, mit etwas mir Angehörigem hervorzutreten. Das Gespräch wandte sich an diesem Tage auf Personen, namentlich auf solche, die Goethe nahe befreundet waren. Er sprach mit höchster Anerkennung und Liebe von Zelter, dessen Portrait er vor wenigen Tagen erhalten hatte; er fragte nach dessen Schüler Felix Mendelssohn-Bartholdy und prophezeite diesem große Erfolge; endlich redete er auch von Schiller und namentlich von dessen Stücke ›Maria Stuart‹. Auf meine Bemerkung, daß ich die Rolle des Leicester eigentlich niemals hätte gut spielen sehen, und daß sie selbst Wolff, den ich als Schauspieler sonst sehr verehrte, nur mittelmäßig gegeben, erwiederte Goethe, daß diese Rolle ein vorzüglich gut durchdachter Character sei, daß überhaupt ›Maria Stuart‹ zu den besten Schiller'schen Arbeiten gehöre, und daß ihm wohl mancher Schauspieler vorgekommen wäre, der die Rolle des Leicester recht treffend gespielt habe.

Als einige Anwesende die Rede auf das gestrige Erscheinen des Königs von Bayern und auf das Erhebende eines solchen Besuches brachten, meinte Goethe sich zu mir wendend: »Nun, wenn ich mich auch rücksichtlich Preußens nicht einer solchen Ehre zu erfreuen habe, so bin ich doch Ihrem Vaterlande den größten Dank für den Schutz schuldig, den es mir in Beziehung auf mein Eigenthum, daß heißt auf die Herausgabe meiner Werke, gewährt hat.« Er forderte nunmehr seinen Sohn auf, die Urkunde zu holen, in welcher das förmliche Privilegium ausgefertigt sich befand, und die von Sr. Majestät dem Könige und dem Generalpostmeister v. Nagler unterschrieben war. Er hielt dieses Privilegium in einer prächtigen Rolle verwahrt und sagte uns, indem er sie öffnete: »Sehen Sie, das ist der beste Orden!« – Hierauf wurde noch mancherlei über Nachdruck verhandelt, wie wünschenswerth ein allgemeines Gesetz gegen diese offene Wunde aller Autoren sei, und woher es käme, daß nur bestimmte Länder, wie z. B. Preußen, der Ehre theilhaftig seien, ihn in der Gesetzgebung als Unrecht bezeichnet zu haben. – Nachdem die Tafel aufgehoben war, sagte mir Goethe im Weggehen: »Wenn Sie morgen1 noch in Weimar sind, so kommen Sie und essen Sie mit uns en famille!«

b. 


Bei Goethe hatte sich zu Mittag eine zahlreichere Gesellschaft eingefunden, die auf die anmuthigste Weise durch Frau v. Goethe und ihre jüngere Schwester, Fräulein Ulrike v. Pogwisch belebt wurde. .... Außerdem waren anwesend: Consistorialdirector Peucer, Baurath Coudray, Professor Gans aus Berlin, Hofrath Riemer, Regierungsrath Töpfer, Dr. Eckermann. Goethe gab uns beiden Berlinern, dem Professor Gans und mir [Parthey], die Ehrenplätze an seiner Seite und zeigte sich überaus heiter.

Es war viel von dem französischen Journal Le Globe die Rede, in welchem einige jüngere französische Talente den schwachen Versuch machten, der deutschen Literatur, die sie meist nur aus Übersetzungen kannten, gerecht zu werden und besonders Goethes Verdienste zu würdigen. Gans that sich ein wenig darauf zugute, daß er der erste gewesen, der auf den Globe in Deutschland aufmerksam gemacht. Goethe sprach einige goldne Worte über Literatur im Allgemeinen: wie jeder Schriftsteller unbewußt und unbeirrt seinen Stein zu dem Gebäude herbeischleppe; wenn man es dann im Ganzen beschaue, so käme jeder nur insofern zur Geltung, als er seinen Platz richtig ausfülle.

Das Gespräch war stets ein allgemein belebtes, sodaß von meinen Reisen nicht noch besonders die Rede sein konnte. Dies war mir auch recht lieb; denn so glücklich es mich machte, Goethen allein oder auch einem kleinen Kreise die Bilder des fernen Ostens vorzuführen, so widerstand es meinem Gefühle, an einer großen Tafel die wohlfeile Rolle des amüsanten Erzählers zu spielen. – Gar zu artig war es, daß, als Eckermann wegen seines häufigen Theaterbesuches und wegen seiner Neigung zu einer jungen Schauspielerin aufgezogen wurde, Goethe selbst an diesen Neckereien in der gutmüthigsten Weise theilnahm.

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Goethe fragte, ob ich zu Wasser von Ägypten nach Syrien gegangen, oder zu Lande den Spuren des neuen Alexander gefolgt sei. Ich erwiederte, daß eine ruhige Meerfahrt von drei Tagen mich von Damiette nach Akre gebracht. Die Lage von Jerusalem auf zerschnittenem Hügellande, mit der ernsten Bergkette am Todten Meere als Hintergrund, erregte Goethes ganze Aufmerksamkeit. Ich bedauerte nun in meinem Herzen, den Plan von Jerusalem in Halle bei Gesenius gelassen zu haben, indessen war mir die Sache so gegenwärtig, daß ich auf Goethes klare und präcise Fragen gute Auskunft geben konnte und zuletzt hoffen durfte, ihm ein anschauliches Bild jener welthistorischen Örtlichkeit gegeben zu haben. An die von mir besuchten syrischen Küstenstädte Jaffa, Akre, Tyrus, Sidon, Beirut knüpften sich überall die schönsten historischen Erinnerungen, und im Innern des Landes waren Tiberias, Bethlehem, Nazareth, endlich das grüne Damaskus in der gelben Wüste nicht weniger merkwürdig.

Dies Gespräch zog sich wieder bis gegen 6 Uhr hin; die Gesellschaft bewegte sich ungezwungen im Saale auf und ab; ich wartete auf einen schicklichen Moment, um mit dankerfülltem Herzen Abschied zu nehmen; aber wer beschreibt mein freudiges Erstaunen, als Goethe auf mich zu kam und mich auch zu morgen Mittag einlud, »weil wir ja noch so manches zu besprechen haben.«
1 Sieh jedoch die Fußanmerkung zu Nr. 1119.


1827, 30. August. 
Mittag bei Goethe 

a. 


Der Mittag bei Goethe wurde ganz en famille zugebracht; denn außer seinem Sohne, seiner Schwiegertochter und Fräulein v. Pogwisch war nur noch der Kanzler v. Müller zugegen, dessen freie offene Natur, große Geistesschärfe und eminente Geschäftsthätigkeit bei Goethe die vollste Anerkennung fanden. Der ehrwürdige Patriarch war in der heitersten Laune und strahlte wie eine Sonne Behagen aus.

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Meine orientalische Reise wurde nun in Beirut wieder aufgenommen; wir segelten nach Larneka in Cypern hinüber, dann bei Rhodus, Samos, Chios vorbei, an Kleinasien entlang bis Smyrna. Goethe verweilte lange bei den weitläufigen Ruinen von Ephesus in der einst so fruchtbaren, jetzt versumpften und menschenleeren Ebene des Kaystros. Daß Konstantinopel an Schönheit der Lage mit Neapel wetteifere, ist bekannt; es schien ihm zu gefallen, daß ich für Neapel wegen des Vesuv und des offenen Meeres den Vorzug in Anspruch nahm. Sehr wunderbar kam es ihm vor, daß ich auf der Rückfahrt von Konstantinopel nach Smyrna an der Küste von Troja neun Tage lang in Frost und Schneegestöber vor Anker gelegen. Aber es mochte im Alterthume manchmal nicht anders gewesen sein: glaubte doch Odysseus selbst in einer stürmischen Nacht unter den Mauern von Ilion zu erfrieren. (Odyss. XIV, 462-506.)

Inzwischen ging das Tischgespräch hin und her, aber Goethe kam immer wieder auf meine Reise zurück und ließ nicht eher ab, als bis ich nach einer sehr stürmischen Winterfahrt von sechsundzwanzig Tagen aus dem Hafen von Smyrna durch den Archipel um das Kap Matapan herum endlich in den Hafen von Triest glücklich eingelaufen war. Später erkundigte er sich nach Nicolai: wann er gestorben und wie ich mit ihm verwandt sei? Ich erwiederte: Nicolai sei 1811 im 77. Jahre gestorben; daß er in solchem Alter seine sieben Geschwister überlebt, sei nicht zu verwundern, daß ihm aber auch seine Frau und acht Kinder vorangegangen, aus denen nur meine Schwester und ich, als die Kinder seiner ältesten Tochter übrig geblieben, das sei wohl ein hartes Loos zu nennen.

Walter Scott's Romane standen in jenen Jahren in ihrer höchsten Blüthe und wurden vom Lesepublicum verschlungen. Der Kammerjunker äußerte sich sehr energisch gegen diesen Autor, daß er doch gar zu viel schreibe und dafür von dem Verleger ein ganz übermäßiges Honorar erhalte. »Lieber Sohn!« sagte Goethe, »wenn Du ihm seine Vielschreiberei vorhalten wolltest, die denn doch mehr Kern hat, als unsere modernen deutschen Romane, so würde er Dir ganz ruhig seine mit Banknoten gefüllte Brieftasche vorhalten.«

Müller machte der Frau v. Goethe scherzhaft den Krieg, daß sie ihre beiden Söhne nach der damaligen medicinischen Theorie allzumäßig erzöge, und Goethe schien ihm in seiner Ansicht beizupflichten. »Da ist neulich der Wolfgang zu mir gekommen, nachdem er eben gefrühstückt hatte; ich fragte ihn, ob er noch ein Stück Brod wolle, und das hat der Knabe denn auch mit einer wahren Andacht verzehrt.«

Nach Tische wurde im ungezwungensten Gespräche beim Kaffee auf- und abspazirt. .... Bei dieser Gelegenheit wurde des unerschrockenen Benehmens der Herzogin Amalie1 gedacht. Müller erzählte darüber, daß sie nach der unglücklichen Schlacht von Jena furchtlos in Weimar geblieben sei und Napoleon's Besuch abgewartet habe. Dieser kam denn auch und fuhr sie mit den Worten an: »Wie konnte Ihr Sohn2 so toll sein, mir den Krieg machen zu wollen?« – Sire, entgegnete sie ruhig, ich bin überzeugt, daß Sie ihn verachten würden, wenn er anders gehandelt hätte. Das wirkte, und von nun an behandelte Napoleon sie mit der höchsten Auszeichnung. – Goethe hörte dieser Erzählung mit großer Aufmerksamkeit zu, sodaß man aus seinen Mienen schließen durfte, sie sei ihm noch nicht bekannt gewesen; aber er sagte nichts.

Das Gespräch hatte sich wie gewöhnlich bis 6 Uhr fortgesponnen. Endlich mußte doch Abschied genommen werden, bei dem es mir unmöglich war, die Überfülle freudiger Gefühle in die geeigneten Worte zu fassen. Als Goethe vernahm, daß ich über Dresden nach Berlin zurückginge, gab er mir die herzlichsten Grüße an Frau v. d. Recke und an seinen alten Freund Zelter mit.

b. 


Ich [v. Müller] hatte mich selbst heute bei Goethe zu Mittag eingeladen und fand noch Parthey von Berlin, den Enkel Nicolai's. Dieser erzählte uns seine Audienz beim Pascha von Ägypten, dem er ein besseres Zeugniß gab als andere Berichterstatter. Goethe war damit sehr einverstanden, da er den Pascha immer aus freierem Gesichtspunkte betrachtet hatte. Ich referirte darauf wie Se. M. der König von Bayern mich gestern Abend vor dem Theater zu einem Besuch im Schiller'schen Hause mitgenommen habe, wie er über die engen Räume, die Schiller bewohnt, gewehklagt und geäußert habe: hätte ich nur damals schon freie Hand gehabt, ich hätte ihm Villa di Malta in Rom eingeräumt und dort, dem Capitol gegenüber, hätte er die Geschichte des Untergangs von Rom schreiben sollen.

Allein Goethe meinte, Italien würde Schillern nicht zugesagt, ihn eher erdrückt, als gehoben haben. Seine Individualität sei durchaus nicht nach außen, nicht realistisch gewesen. Habe er doch nicht einmal die Schweiz besucht.

Goethe kam sodann auf die vielerlei Fragen und Singularitäten, die der König ihm vorgelegt, zu sprechen. Auf manche derselben habe er ausweichend, zweideutig antworten zu müssen geglaubt und geradezu erklärt, er mache es wie in der Normandie, wo, wenn man den Geistlichen frage, ob er in die Kirche gehe? immer erwiedert werde: »C'en est le chemin.«Auch darüber, warum man Goethen den letzten Heiden genannt, habe der König gesprochen, worauf Goethe geäußert: man müsse sich doch den Rücken frei halten und so lehne er sich an die Griechen. Übrigens sei es ihm unschätzbar den König persönlich gesehen zu haben; denn nun erst könne er sich dies merkwürdige, viel bewegliche Individuum auf dem Throne allmälich erklären und construiren. In derselben Zeit zu leben und diese Individualität, die mit aller Energie seines Willens so mächtig auf die Zeitgestaltung einwirke, nicht durchschaut zu haben, würde unersetzlicher Verlust gewesen sein.

Über des Königs Abschiedsworte an die junge Mad. Ridel »Gesunde Kinder, leichte Wochen« wurde viel gestritten. Goethe meinte, das sei ein Majestätsrecht von natürlichen Dingen natürlich zu sprechen.

Nach Tische wurde Goethe immer aufgeregter und herzlicher; es sei nichts Kleines, sagte er, einen so großen Eindruck, wie die Erscheinung des Königs, zu verarbeiten, ihn innerlich auszugleichen. Es koste Mühe dabei aufrecht zu bleiben und nicht zu schwindeln. Und es komme ja doch darauf an, sich diese Erscheinung innerlich anzubilden, das Bedeutende davon klar und rein sich zu entwickeln. Auch sinne er noch auf etwas, wie er dem König sich dankbar erweisen möge. Das sei aber sehr schwer, ja direct ganz unthunlich. Ich möge dazu helfen, erfinden, combiniren. Darauf schlug ich eine neue römische Elegie vor. Er lobte den Gedanken, meinte aber, er werde ihn nicht auszuführen vermögen; habe er doch auch beim Abschied der Prinzeß Marie3 nichts hervorbringen können, wie immer, wenn sein Gefühl zu mächtig aufgeregt sei. »Aus Norden« setzte er hinzu, »habe ich kürzlich die schönsten und zartesten Äußerungen über meine ›Trilogie‹ und über ›Helena‹ vernommen. Jene hat man ›mit der Perlenschrift der Thränen geschrieben‹ genannt.«

Wir sprachen dann über des Großherzogs Äußerungen über ›Helena.‹ »Wie schade,« äußerte Goethe, »daß dieser großsinnige Fürst auf der Stufe französischer materieller Bildung in Rücksicht auf Poesie stehen geblieben ist.«

1 Irrig : Louise
2 Also: Gemahl

3 Prinzessin v. S. – Weimar, verm. 1827 26. Mai mit Prinz Karl von Preußen.


1827, 31. August (?).1
Mittag bei Goethe

Den andern Tag erschien [Gans] ich ebenfalls zur gehörigen Zeit und fand dieses Mal Goethe in einem Überrocke, wie er von Rauch dargestellt worden ist, auf einem Kanapee seines größeren Zimmers sitzend, und ihm gegenüber den Hofrath Meyer aus Stäfa, der der weimarischen Kunstakademie vorstand und als Künstler wie als Archäolog hinreichend bekannt ist. Beide saßen lange, ohne ein Wort mit einander zu wechseln und auch ich wagte es nicht, sie zum Gespräche zu bewegen. Einige Töne wurden zwar von der einen wie von der andern Seite vorgebracht, aber ohne daß diese die Bedeutung gehabt hätten, eine Unterredung zu eröffnen. Endlich fragte Meyer nach den Fortschritten, den der Bau des Museums in Berlin mache und rechnete nunmehr Goethen weitläufig vor, was wir in Sculpturen und in Gemälden besäßen. Es kann was recht Ordentliches werden, sagte er, und die Anordnung und Aufstellung, die man vorhat, gefällt mir auch. Jetzt erschien Goethes Sohn, die Schwiegertochter, Fräulein v. Pogwisch und Herr Eckermann. Der Umstand, daß mehrere Male bei Tische Engländer angemeldet wurden, die im »Erbprinzen« abgestiegen waren, und Frau v. Goethe die Aufwartung machen wollten, brachte das Hauptgespräch auf England. Ich mußte von meinem Aufenthalt daselbst erzählen; Sitten und Eigenthümlichkeiten der Engländer wurden geschildert, und da Canning gerade vor einem halben Monat gestorben war, so gab sein Leben und sein Ende Veranlassung, ihn mit Pitt und dessen Vater, Lord Chatham, zu vergleichen. Goethe sprach von dem älteren Pitt mit Bewunderung und meinte, es sei doch in diesen alten englischen Staatsmännern mehr Lebenskraft und Ausdauer, wie in den jetzigen gewesen. Ob dieses nun in den Personen, oder eigentlicher in den Verhältnissen liege, wurde jetzt besprochen, und ich war der Meinung, daß die Leitung der heutigen Angelegenheiten ungleich schwieriger und verwickelter, als zur Zeit des amerikanischen Freiheitskrieges war, daß es also nicht wunderbar erscheinen dürfe, wenn Canning's Lebenskraft durch gebieterische Umstände und durch nicht zu vermeidende Intriguen gebrochen worden sei. Obgleich Goethe selbst mir nicht uneingeschränkt eingenommen für die Engländer zu sein schien, so lobte er doch die Zartheit ihrer Formen, namentlich in ihrem Umgange... So habe z. B. ein Engländer seinen »Torquato Tasso« ins Englische übersetzt, und weil er ihm nicht zumuthen wollte, ein Manuscript durchzusehen, so habe er dasselbe in Einem Exemplare drucken lassen und ihm, damit er seine Bemerkung machen könne, überreicht. – Auch Lord Byron's wurde Erwähnung gethan und über ihn dasjenige gesagt, was schon aus andern Berichten hinreichend bekannt ist. 

Die Tafel wurde rasch aufgehoben, und ich fuhr, nachdem ich mich bei Goethe beurlaubt hatte, nach Jena zurück.

1 Nach Gansens Darstellung wäre der 30. August zu setzen, was aber mit den Berichten Parthey's und v. Müller's in Widerspruch stehen würde. Vielleicht giebt Goethes Tagebuch – das für ›Goethes Gespräche‹ jetzt unzugänglich ist – einmal Aufschluß.


1827, Ende August 
Mit Johanna Elkan 


Für den persönlichen Verkehr [Goethes mit dem Juden Elkan] spricht die Notiz im Goethe-Zelter'schen Biefwechsel IV, 360:... »Die kleine artige Elkan aus Weimar will gerne etwas für Dich mitnehmen. Im Register des Briefwechsels werden beide stellen irrthümlich auf Madame Elkan bezogen, während sie sich in Wirklichkeit auf Fräulein Elkan beziehen. Die Betreffende, die jetzt [1887] noch als würdige Greisin – Frau Dr. Johanna Veit, Wittwe von Dr. Moritz Veit –« in Berlin lebt, hatte selbst die Güte, mich [Ludwig Geiger] auf diesen Irrthum aufmerksam zu machen. Sie besuchte, wie sie mir... erzählte, mit jenem Zelter'schen Briefe Goethe und wurde von ihm freundlich aufgenommen. Sie mußte viel von Berlin berichten und wurde durch Goethes Fragen und Aufforderungen zu immer weiteren zutraulichen Berichten ermuntert. Von Goethes Bemerkungen sind der Erzählerin besonders zwei in Erinnerung geblieben: die eine, angeregt durch ihre Erzählung von dem Bau des alten Museums und der infolgedessen stattgehabten Veränderung des Lustgartens, der Niederwerfung vieler alter Bäume, daß nämlich die Architekten, wenn sie ihre Pläne ausführen wollten, nicht auf die Umgebung Rücksicht nehmen könnten; die andere, ein Urtheil über zwei junge Berliner, deren Besuch Goethe damals gehabt, Parthey und Gans:... Beide seien sehr tüchtig, Gans ein bedeutender Jurist.

1827, 5. September.
Mit Wassily Schukowsky,
Gerhard von Reutern
und Friedrich von Müller 


Diesen Morgen war Goethe durch Schukowsky's und v. Reuter's Besuch so freundlich bewegt, daß ich ihn fast nie liebenswürdiger, milder und mittheilender gesehen. Was er diesen Freunden nur irgend Angenehmes, Inniges, Förderndes an Urtheil, Wink, Beifall, Liebe zuwenden konnte, holte er hervor oder sprach es aus. Reuter's Zeichnungen hatten wir schon vorher durchgesehen. Er bewunderte besonders die Schärfe seiner Auffassung und Umrisse. Er schien sich wie in einer neuen, lang ersehnten, frischen Lebensatmosphäre zu befinden, während er mit Reuter von Kunst- und Natur-Darstellung sprach. Froh, daß ich die werthen Freunde zu längerem Hierbleiben beredet hatte, äußerte er: »Meine Zeit ist so eingerichtet, daß für Freunde immer genug da ist.«




1827, 6. September. 
Mit Wassily Schukowsky,
Gerhard von Reutern
und Friedrich von Müller


Als Schukowsky, Reuter und ich Goethen gegen Abend besuchten, fanden wir ihn abgespannt, matt und leidend, so daß wir nicht lange verweilten. Doch äußerte er launig, als von der Sucht mancher sein wollenden Kenner, alle Bilder für Copien zu erklären, gesprochen wurde: »So haben sie uns ja auch manche alte Pergamente wie mit dem Besen ausgekehrt und weggefegt. Ich will immer lieber eine Copie für ein Original gelten lassen, als umgekehrt. Bilde ich mich doch in jenem Glauben an dem Bilde herauf. Nun laßt sie immerhin gewähren; Sonne, Mond und Sterne müssen sie uns doch lassen und können sie nicht zu Copien machen. Und daran haben wir im Nothfalle genug. Wer es ernst und fleißig treibt, wird daran genug finden. Man lasse sich nur nicht irren, suche vielmehr das eigne Urtheil immer mehr zu bestätigen, in sich zu befestigen.«


1827, 7. September. 
Mit Friedrich von Müller 

Viel zu kalt meiner Meinung nach, nahm Goethe Schukowsky's herrliches Abschiedsgedicht auf, wiewohl er etwas Orientalisches, Tiefes, Priesterliches darin anerkannte. Er war heute ein ganz anderer wie vorgestern. Meyer's Nähe mochte einwirken, vor dem er sich gleichsam scheut, Gefühl zu zeigen. Dieser kam mir heute recht mephistophelisch vor, so kalt, so weltverachtend, so lieblos. Das Gedicht1 über Weimar, welches der König von Bayern mir aus Fulda überschickt hatte, schalt Goethe als zu subjectiv; es sei gar nicht poetisch, die Vergangenheit so tragisch zu behandeln, statt reinen Genusses und Anerkennung der Gegenwart, und jene erst todtzuschlagen, um sie besingen zu können. Vielmehr müsse man die Vergangenheit, so wie in den römischen Elegien, behandeln. Graf Löben habe auch einmal ihm, Goethen, zum Geburtstag vorgesungen, wie er ihn erst nach seinem Tode recht loben wolle. Weil die Menschen die Gegenwart nicht zu würdigen, zu beleben wüßten, schmachteten sie so nach einer bessern Zukunft, coquettirten sie so mit der Vergangenheit. Auch Schukowky hätte weit mehr aufs Object hingewiesen werden müssen.

Darauf las ich ihm meine Antwort an den König vor, mit der der Großherzog und die Großherzogin sehr zufrieden gewesen waren. Sie schien ihm jedoch nicht ganz zu behagen; doch wollte er in kein Detail eingehen, entschuldigend, daß er heut zu müd' und schlaff zur Kritik sei. »Ihr macht schöne Verse ohne die Verskunst; ihr haltet passende Reden ohne die Rhetorik studirt zu haben. Das geht wohl recht gut eine Zeit lang, aber zuletzt reicht es doch nicht aus.«

Er versprach, ein andermal sich näher auszusprechen. Träume her aus einem schönern Leben u. s. w. unter dem 3. Sept. an Müller gesandt.


1827, 7. September. 
Mit Friedrich von Müller 


[Ergänzung zu Nr. 1122. Im Anschluß an »hingewiesen werden müssen.«:]
Viel über den Plan des Gedichtes, das ich an den König machen mußte, und über den Brief, der vorhergehen sollte. In jenem keine Reflexion, keine Sentiments: reine, glanzvolle Schilderung der Persönlichkeiten, der Orte, Zustände.



1827, 8. (?) September. 
Mit Wilhelm Zahn 



Es war am 7. September 1827 und ich noch ein junger unbekannter Mann, als ich auf der Reise nach Berlin durch Weimar kam. Mein ganzes Denken drehte sich um Goethe, und ich beschloß, dem Gefeierten meine Aufwartung zu machen. Aber es war nicht ganz leicht, zu ihm zu gelangen. Tag für Tag von Besuchen bestürmt, hielt er sich etwas abgeschlossen. Der Maler und Dichter August Kopisch, der Entdecker der blauen Grotte zu Capri, erzählte mir, wie er dem Dichterfürsten einen langen Brief geschrieben und darin um eine Audienz gebeten, aber keine Antwort erhalten habe. Ein anderer meiner Bekannten – mir fällt der Name nicht gleich bei – hatte sich bis ins Haus gewagt und war dann schüchtern auf den Hof geschlichen, um nach einem dienstbaren Geiste zu spähen; aber er traf nur zwei Knaben, die Enkel des Dichters, die wild umherrannten und einen großen Lärm trieben. Da öffnete sich plötzlich ein Fenster und der Ersehnte lehnte heraus. Mit blitzenden Augen und einer Löwenstimme, rief er herunter: »Wollt ihr Lümmel [!?] endlich Ruhe halten!« Schrie's und warf klirrend das Fenster zu. Die Knaben wurden still, und mein Freund rannte erschreckt davon. – Diese unglücklichen Geschichtchen konnten mich nicht abschrecken und ich machte mich getrost auf den Weg, obwohl ich weder einen Namen noch die geringste Empfehlung aufzuweisen hatte. .... Auf dem Flure trat mir ein Diener entgegen, dem ich meinen Namen nannte: »Zahn, Maler und Architekt.« »Maler und Architekt,« wiederholte mechanisch der Diener, indem er mich zweifelhaft musterte. »Sagen Sie Sr. Excellenz: Aus Italien kommend.« »Aus Italien kommend,« wiederholte jener und entfernte sich, worauf er alsbald zurückkehrte und mich bat, ihm zu folgen .... Wir stiegen eine schöne breite Treppe hinan; ... mein Führer öffnete, ließ mich eintreten und ich befand mich in einem stattlichen Empfangzimmer. ....Nach wenigen Augenblicken trat Goethe ein. Es ist eine tausendmal gebrauchte Phrase, daß der Dichter an Erscheinung und Wesen dem griechischen Götterkönig geglichen, aber niemand konnte leugnen, daß der Mann, der jetzt vor mir stand, seines Gleichen suchte. Das Alter ließ die hohe, kräftige, Ehrfurcht gebietende Gestalt nur noch herrlicher erscheinen. Unter der gewaltigen Stirn blitzten zwei große braune Augen, und das bronzefarbige Antlitz trug den Stempel der Hoheit und Genialität. Er hieß mich ihm gegenüber Platz nehmen und fragte mit seiner ausdrucksvollen, volltönenden Stimme, die jedoch zuweilen den Frankfurter Dialekt anklingen ließ: »Waren also in Italien?« »Drei Jahre, Excellenz.« »Haben vielleicht auch die unterirdischen Stätten bei Neapel besucht?« »Das war der eigentliche Zweck meiner Reise. Ich hatte mich in einem antiken Hause zu Pompeji behaglich eingerichtet, und während zweier Sommer geschahen alle Ausgrabungen unter meinen Augen.« »Freut mich! Höre das gern« – sagte Goethe, der eine gedrungene Redeweise liebte und gern die Pronomina wegließ. Er rückte mit seinem Stuhle mir näher und fuhr dann lebhaft fort: »Habe den Akademien zu Wien und Berlin mehrere Male gerathen, junge Künstler zum Studium der antiken Malereien nach jenen unterirdischen Herrlichkeiten zu schicken; um so schöner, wenn Sie das auf eigene Hand gethan. Ja, ja! das Antike muß jedem Künstler das Vorbild bleiben. – Doch vergessen wir das Beste nicht! Haben wohl einige Zeichnungen in Ihrem Reisekoffer?« »Ich habe die schönsten der antiken Wandgemälde meist gleich nach der Entdeckung durchgezeichnet und farbig nachzubilden gesucht. Wünschen Excellenz vielleicht einige davon zu sehen?« »O gewiß, gewiß!« fiel Goethe ein; »mit freudigem Danke. – Kommen Sie nur zum Essen wieder. Speise gegen zwei Uhr. Werden noch einige Kunstfreunde finden. Sehne mich ordentlich nach Ihren Bildern. Auf Wiedersehen, mein junger Freund!« Und er bot mir seine Hand, während er die meinige freundlich drückte.

Als ich mich zur bestimmten Stunde wieder einstellte, durchschritt ich eine Reihe von Zimmern, die alle mit demselben Kunstgeschmack ausgestattet waren, und trat in den Speisesalon, wo ich Goethe und seine anderen Gäste schon anwesend fand. Da war der Oberbaudirector Coudray, der Kanzler von Müller und der Leibarzt Vogel ..... Ferner sah ich den Professor Riemer, Eckermann und Hofrath Meyer. Alle Gäste und Goethe selber waren im Frack. .... Ich saß zwischen Goethe und Fräulein Ulrike v. Pogwisch, einem Liebling des Dichters; denn er richtete häufig das Wort an sie und nahm ihre Gegenreden mit offenbarem Wohlgefallen auf. Uns gegenüber saß Frau Ottilie, die Schwiegertochter des Dichters und die Schwester von Ulrike. Ich fand die Speisen äußerst wohlschmeckend und den Wein mindestens ebenso gut. Vor jedem Gaste stand eine Flasche Roth- oder Weißwein. Ich wollte mir einen klaren Kopf für den Nachtisch erhalten, weshalb ich Wasser unter meinen Wein goß. Goethe bemerkte es und äußerte tadelnd: »Wo haben Sie denn diese üble Sitte gelernt?« Die Unterhaltung war eine allgemeine, lebendige und nie stockende. Goethe leitete sie meisterhaft ohne aber jemanden zu beschränken. Um ihn saßen seine leben den Lexika, die er bei Gelegenheit aufrief; denn er mochte sich nicht selber mit dem Ballast der bloßen Stubengelehrsamkeit beschweren. Riemer vertrat die Philologie, Meyer die Kunstgeschichte und Eckermann entrollte sich als ein endloser Citatenknäuel für jedes beliebige Fach. Dazwischen lauschte er mit eingezogenem Athem den Worten des Meisters, die er wie Orakelsprüche sofort auswendig zu lernen schien. Meyer dagegen, den man wegen seiner schweizerischen Mundart den »Kunschtmeyer« nannte, verweilte auf dem Antlitze seines alten Jugendfreundes mit rührenden Blicken, die ebensoviel Zärtlichkeit wie Bewunderung ausdrückten ..... Das Gespräch verweilte besonders bei Italien und seinen Kunstschätzen. Goethe wußte auch mir die schüchterne ungelenke Zunge zu lösen und veranlaßte mich, von meinen Studien im Vatican zu erzählen. Alle erinnerten sich mit Entzücken an Rom und priesen mit Begeisterung seine Herrlichkeit. Nur Fräulein Ulrike glaubte ihrer protestantischen Entrüstung gegen den Papst und seine Regierung Luft machen zu müssen. Der alte Goethe schmunzelte überlegen und reichte der Eiferin einen Zahnstocher hinüber. »Räche Dich, meine Tochter, mit diesem hier!« sprach er launig, wobei ich nicht weiß, ob er bei Überreichung dieser seltsamen Waffe eine Anspielung auf meinen Namen im Sinne hatte. Goethe hatte eine ganze Flasche geleert und schenkte sich noch aus der zweiten ein Glas ein, während man uns schon den Kaffee reichte. Dann erhoben wir uns. Es wurden Tische zusammengeschoben und darüber weiße Tücher gebreitet, worauf ich meine Zeichnungen entrollte und erklärte. Namentlich gefielen: Leda mit dem Nest, daraus Kastor, Pollux und Helena herausgucken; Achilles und Briseïs; die Vermählung der Pasithea mit dem Gotte des Schlafs; der thronende Jupiter und der thronende Bacchus – lauter farbige Durchzeichnungen von Pompejanischen Wandgemälden, die man unter einer 30 Fuß tiefen Asche wieder an die Oberwelt gezogen hatte. Goethe betrachtete jedes Gemälde mit Liebe und Inbrunst und machte dazu die feinsinnigsten, schlagendsten Bemerkungen. Sie waren mir Beweis, wie tief dieser Genius in das Wesen der Kunst und in die Geheimnisse des Hellenischen Geistes eingedrungen. Plötzlich erklangen hinter uns straffe Schritte und als ich mich wandte, erblickte ich einen untersetzten Mann in Feldmütze und kurzem, grünsammtnem Jagdrock mit goldenen Schnüren besetzt. Es war der Großherzog, wie ihn Schwerdgeburth in diesem Costüm und in einem Wagen fahrend so trefflich abgebildet hat. Er war durch den Garten gekommen und durch die Hinterthür eingetreten, von der er stets den Schlüssel hatte. Goethe begrüßte ihn mit den characteristischen Worten: »Kommen recht zum Gastmahl, königliche Hoheit!« Karl August hatte eine kurze Meerschaumpfeife in der Hand, aus der er, wo's irgend anging, beständig paffte, aber jetzt ließ er sie ausgehen; denn Goethe verabscheute den Tabak. Auch gab er seinem alten Duzbruder heute das Höflichkeits-Sie. .....

Es war meine Absicht, am nächsten Tage abzureisen, aber Goethe drang in mich, mindestens noch vierzehn Tage zu verweilen und ihn täglich zu besuchen. Der Großherzog lud mich für den folgenden Tag zum Essen, doch Goethe erklärte statt meiner: »Nein, Mittags gehört Zahn mir!« Und Karl August widersprach nicht. Die meisten der Anwesenden hatten sich schon empfohlen bis auf Coudray, Eckermann und Frau Ottilie. Auch ich wollte gehen, aber Goethe hielt mich zurück und meinte: »Habe noch Appetit. Sollen uns noch ein paar Bilder zeigen.« Er hatte sich inzwischen des Fracks entledigt und den bequemen Hausrock hervorgesucht. Dann setzte er sich in einen Armstuhl, die andern umstanden ihn, und die unterdeß hereingekommenen Enkel Walther und Wolfgang schmiegten sich an den Großpapa, während ich die Zeichnungen wies. Goethes Bewunderung erregten vorzugsweise: »Das Opfer der Iphigenia« und »Hercules, von einem Genius geführt, findet seinen Sohn Telephos wieder, wie ihn eine Hirschkuh säugt.« Er versank in stille Andacht und brach dann in die Worte aus: »Ja, die Alten sind auf jedem Gebiete der heiligen Kunst unerreichbar! Sehen Sie, meine Herren, ich glaube auch etwas geleistet zu haben, aber gegen einen der großen Attischen Dichter, wie Äschylos und Sophokles, bin ich doch gar nichts.«



1827, 11. September. 
Mit Friedrich von Müller
und Wilhelm Zahn


Nachmittag traf ich den Künstler Zahn, der eben aus Pompeji kam, bei Goethe an. Seine Durchzeichnungen Pompejanischer Wandgemälde lagen auf dem Fußboden des Salons ausgebreitet. Goethe schwelgte in ihrem Anschauen. »Ich erbaue mich daran,« sagte er; »denn ich nenn' es erbauen, wenn man zu dem, was man für das Rechte hält, die Bestätigung und die Belege findet.«



1827, 13. September. 
Beim Armbrustschützenverein


Heute war Dejeuner im Armbrust-Schützenverein. Goethe ließ seinen Dankestoast durch seinen Sohn ausbringen, welcher auch seine silberne Medaille von Bovy zum Geschenk übergeben mußte und späterhin durch Stiftung einer schönen Armbrust von 1731 ein gar passendes gemüthliches Impromptu machte.

Ich [v. Müller] saß neben dem alten Herrn. »Ich bin eben im Mittelalter,« sagte er, »indem ich Luden Geschichte desselben lese, und so kommt mir die lebendige Anschauung einer solchen Tradition der Vorzeit, wie dieses Armbrustschießen eben recht. Ihr Neuern mit Eurem Centralisiren, wie wäret Ihr wohl im Stande, einem Institut so viel Lebenskraft einzuhauchen, wie diese Corporation seit Jahrhunderten bewährt hat?«

Auf der sinnreich verzierten Torte stand:
»Ein ewiger Frühling bist Du uns beglückend,
Ringsum die Welt mit Deinen Gaben schmückend.«

Bei Tische, zu dem auch ich wieder geladen war, blieb Goethe fortwährend sehr munter. Als Zahn erzählte, daß man erst etwa den achten Theil vom Pompeji ausgegraben und noch reiche Ernte, aber erst nach vielen Jahren zu gewärtigen habe, meinte Goethe: »Ei nun, um verständig und klug zu werden, haben wir schon jetzt genug, wenn wir nur wollten.«

Unter die ihm verhaßte Jean Paul'sche Einschrift der Frau von Spiegel in Walther's Stammbuch: »Der Mensch hat eine1 Minute zum Lächeln, eine zum Seufzen, eine halbe nur zum Lieben; denn in Mitte2 derselben stirbt er,« schrieb er persiflirend: »

Ihrer sechzig hat die Stunde,
Mehr3 als tausend hat der Tag;
Söhnchen, werde dir die Kunde,
Was man alles leisten mag.«

1 Ungenau; es heißt dritthalb.
2 Goethe Werke: in dieser Minute.

3 Goethes Werke XV. 103: Über tausend.



1827, 15. September. 
Mit Salomo Munk


Eine geraume Zeit ging ich vor Goethe's Hause auf und ab, um ihn vielleicht am Fenster zu sehen; da es aber nicht gelingen wollte, so ließ ich mich nachmittags um fünf Uhr bei ihm melden mit der Bitte, ihn einige Augenblicke sprechen zu dürfen. Ich hatte das seltene Glück, sogleich vorgelassen zu werden, und Goethe unterhielt sich eine Zeit lang mit mir über meine [orientalischen] Studien, sprach mit vieler Freundlichkeit und Aufmunterung und entließ mich mit vielen Wünschen für den glücklichen Erfolg meiner Bemühungen.


1827, 8. bis 18. September. 
Mit Wilhelm Zahn 


Nach dem ausdrücklichen Willen Goethes kam ich an den folgenden Tagen wieder, und jedesmal mußte ich nach dem Essen meine Zeichnungen zum besten geben. Als ich dies am vierten Tage unterließ, fragte Goethe: »Wo bleiben denn Ihre Bilder?« »Excellenz haben jetzt alles gesehen, was ich besitze, und bereits zu wiederholten Malen.« »Ach!« entgegnete er, »was man alle Tage sehen sollte, kann man doch wenigstens zwei- oder dreimal sehen;« worauf ich meine Mappe von neuem öffnen mußte.
An einem Tage, als ich wieder bei Goethe speiste, erschien eine Armbrustschützengilde, welche schon seit dreihundert Jahren in Weimar besteht, und lud die Excellenz, wie sie's alljähr lich zu thun pflegte, feierlichst zu ihrem Feste ein. Goethe hatte diese Einladung bisher immer ausgeschlagen, aber diesmal nahm er sie nach einigem Besinnen an, was allgemein überraschte. »Gut!« erklärte er: »werde kommen, aber Zahn muß mit.« Goethe war immer ein Glückskind; auch bei diesem Feste traf er mit der Armbrust das Centrum, worauf wir uns auf dem Schützenplatze zu einem brillanten Frühstück niedersetzten. Goethe war überaus heiter und lud zu einem solennen Diner ein. Eine große Gesellschaft war versammelt, und der edle Wein floß in Strömen. Mit innigem Behagen sah er einen nach dem andern matt werden und kläglich abfallen. Ihm allein konnte der Wein nichts anhaben. ....

[Folgen ein paar ganz unwahrscheinliche Geschichten über Goethes Trinken.]
Die schönsten Stunden, die ich mit Goethe verlebte, waren einige Abende, an denen wir ganz allein waren. Dann führte er mich in das Allerheiligste, in sein überaus schlicht meublirtes Arbeitszimmer, das aber eine gewählte Handbibliothek enthielt. Eine größere war in einem besonderen Saale aufgestellt. Dann sah ich den großen Mann auch im Schlafrock. Wir aßen kalten Braten, tranken dazu eine Flasche nach der andern und zuweilen wurde es Mitternacht und darüber, ehe Goethe mich entließ, obwohl er sonst zwischen 9 und 10 Uhr zu Bett zu gehen pflegte. Er war unerschöpflich in Fragen und wußte das Beste und Geheimste aus mir herauszulocken, sodaß ich oft über mich selbst in Verwunderung gerieth. In diesen kostbaren Stunden versenkte er sich in die goldenen Erinnerungen seines goldenen Lebens und ließ mich ganz in sein großes, schönes Herz blicken. Dieses Herz war ebenso groß wie sein Geist. Es kannte nicht den Schatten von Neid, sondern es umfaßte die ganze Menschheit mit warmem Wohlwollen, und es hat Hunderten mit Rath und That ausgeholfen, aber immer in der Stille, im Verborgenen.



1827, 24. September. 
Mit Johann Peter Eckermann

Mit Goethe nach Berka. Bald nach acht Uhr fuhren wir ab; der Morgen war sehr schön. Die Straße geht anfänglich bergan, und da wir in der Natur nichts zu betrachten fanden, so sprach Goethe von literarischen Dingen. Ein bekannter deutscher Dichter [Streckfuß?] war dieser Tage durch Weimar gegangen und hatte Goethen sein Stammbuch gegeben. »Was darin für schwaches Zeug steht, glauben Sie nicht,« sagte Goethe. »Die Poeten schreiben alle, als wären sie krank und die ganze Welt ein Lazareth. Alle sprechen sie von den Leiden und dem Jammer der Erde und von den Freuden des Jenseits, und unzufrieden wie schon alle sind, hetzt einer den andern in noch größere Unzufriedenheit hinein. Das ist ein wahrer Mißbrauch der Poesie, die uns doch eigentlich dazu gegeben ist, um die kleinen Zwiste des Lebens auszugleichen und den Menschen mit der Welt und seinem Zustande zufrieden zu machen. Aber die jetzige Generation fürchtet sich vor aller ächten Kraft, und nur bei der Schwäche ist es ihr gemüthlich und poetisch zu Sinne.

Ich habe ein gutes Wort gefunden,« fuhr Goethe fort, »um diese Herren zu ärgern. Ich will ihre Poesie die Lazareth-Poesie nennen, dagegen die ächt tyrtäische diejenige, die nicht bloß Schlachtlieder singt, sondern auch den Menschen mit Muth ausrüstet, die Kämpfe des Lebens zu bestehen.«

Goethes Worte erhielten meine ganze Zustimmung.

Im Wagen zu unsern Füßen lag ein aus Binsen geflochtener Korb mit zwei Handgriffen, der meine Aufmerksamkeit erregte. »Ich habe ihn,« sagte Goethe, »aus Marienbad mitgebracht, wo man solche Körbe in allen Größen hat, und ich bin so an ihn gewöhnt, daß ich nicht reisen kann, ohne ihn bei mir zu führen. Sie sehen, wenn er leer ist, legt er sich zusammen und nimmt wenig Raum ein; gefüllt dehnt er sich nach allen Seiten aus und faßt mehr als man denken sollte. Er ist weich und biegsam, und dabei so zähe und stark, daß man die schwersten Sachen darin fortbringen kann.«

»Er sieht sehr malerisch und sogar antik aus,« sagte ich.

»Sie haben recht,« sagte Goethe, »er kommt der Antike nahe, denn er ist nicht allein so vernünftig und zweckmäßig als möglich, sondern er hat auch dabei die einfachste, gefälligste Form, sodaß man also sagen kann: er steht auf dem höchsten Punkt der Vollendung. Auf meinen mineralogischen Excursionen in den böhmischen Gebirgen ist er mir besonders zu statten gekommen. Jetzt enthält er unser Frühstück. Hätte ich einen Hammer mit, so möchte es auch heute nicht an Gelegenheit fehlen, hin und wieder ein Stückchen abzuschlagen und ihn mit Steinen gefüllt zurückzubringen.«

Wir waren auf die Höhe gekommen und hatten die freie Aussicht auf die Hügel, hinter denen Berka liegt. Ein wenig links sahen wir in das Thal, das nach Hetschburg führt und wo auf der andern Seite der Ilm ein Berg vorliegt, der uns seine Schattenseite zukehrte und wegen der vorschwebenden Dünste des Ilmthals meinen Augen blau erschien. Ich blickte durch mein Glas auf dieselbige Stelle, und das Blau verringerte sich auffallend. Ich machte Goethen diese Bemerkung. »Da sieht man doch,« sagte ich, »wie auch bei den rein objectiven Farben das Subject eine große Rolle spielt. Ein schwaches Auge befördert die Trübe, dagegen ein geschärftes treibt sie fort oder macht sie wenigstens geringer.«

»Ihre Bemerkung ist vollkommen richtig,« sagte Goethe; »durch ein gutes Fernrohr kann man sogar das Blau der fernsten Gebirge verschwinden machen. Ja, das Subject ist bei allen Erscheinungen wichtiger als man denkt. Schon Wieland wußte dieses sehr gut, denn er pflegte gewöhnlich zu sagen: Man könnte die Leute wohl amusiren, wenn sie nur amusabel wären.« Wir lachten über den heitern Geist dieser Worte.

Wir waren indes das kleine Thal hinabgefahren, wo die Straße über eine hölzerne mit einem Dach überbaute Brücke geht, unter welcher das nach Hetschburg hinabfließende Regenwetter sich ein Bette gebildet hat, das jetzt trocken lag. Chausseearbeiter waren beschäftigt, an den Seiten der Brücke einige aus röthlichem Sandstein gehauene Steine zu errichten, die Goethes Aufmerksamkeit auf sich zogen. Etwa eine Wurfsweite über die Brücke hinaus, wo die Straße sich sacht an den Hügel hinanhebt, der den Reisenden von Berka trennt, ließ Goethe halten. »Wir wollen hier ein wenig aussteigen,« sagte er, »und sehen, ob ein kleines Frühstück in freier Luft uns schmecken wird.« Wir stiegen aus und sahen uns um. Der Bediente breitete eine Serviette über einen viereckigen Steinhaufen, wie sie an den Chausseen zu liegen pflegen, und holte aus dem Wagen den aus Binsen geflochtenen Korb, aus welchem er neben frischen Semmeln gebratene Rebhühner und sauere Gurken auftischte. Goethe schnitt ein Rebhuhn durch und gab mir die eine Hälfte. Ich aß indem ich stand und herumging; Goethe hatte sich dabei auf die Ecke eines Steinhaufens gesetzt. Die Kälte der Steine, woran noch der nächtliche Thau hängt, kann ihm unmöglich gut sein, dachte ich und machte eine Besorgniß bemerklich; Goethe aber versicherte, daß es ihm durch aus nicht schade, wodurch ich mich denn beruhigt fühlte und es als ein neues Zeichen ansah, wie kräftig er sich in seinem Innern empfinden müsse. Der Bediente hatte indes auch eine Flasche Wein aus dem Wagen geholt, wovon er uns einschenkte. »Unser Freund Schütze,« sagte Goethe, »hat nicht unrecht, wenn er jede Woche eine Ausflucht aufs Land macht; wir wollen ihn uns zum Muster nehmen, und wenn das Wetter sich nur einigermaßen hält, so soll dies auch unsere letzte Partie nicht gewesen sein.« Ich freute mich dieser Versicherung.

Ich verlebte darauf mit Goethe, theils in Berka, theils in Tonndorf, einen höchst merkwürdigen Tag. Er war in den geistreichsten Mittheilungen unerschöpflich; auch über den zweiten Theil des ›Faust‹, woran er damals ernstlich zu arbeiten anfing, äußerte er viele Gedanken, und ich bedauere deshalb um so mehr, daß in meinem Tagebuche sich nichts weiter notirt findet als diese Einleitung.




1827, 26. September. 
Mit Johann Peter Eckermann


Goethe hatte mich auf diesen Morgen zu einer Spazierfahrt nach der Hottelstedter Ecke, der westlichsten Höhe des Ettersbergs, und von da nach dem Jagdschloß Ettersburg einladen lassen. Der Tag war überaus schön, und wir fuhren zeitig zum Jakobsthore hinaus. Hinter Lützendorf, wo es stark bergan geht und wir nur Schritt fahren konnten, hatten wir zu allerlei Beobachtungen Gelegenheit. Goethe bemerkte rechts in den Hecken hinter dem Kammergut eine Menge Vögel und fragte mich, ob es Lerchen wären. – Du Großer und Lieber, dachte ich, der du die ganze Natur wie wenig andere durchforscht hast, in der Ornithologie scheinst du ein Kind zu sein!»Es sind Ammern und Sperlinge,« erwiederte ich, »auch wohl einige verspätete Grasmücken, die nach abgewarteter Mauser aus dem Dickicht des Ettersbergs herab in die Gärten und Felder kommen und sich zum Fortzuge anschicken, aber Lerchen sind es nicht. Es ist nicht in der Natur der Lerche, sich auf Büsche zu setzen. Die Feld- oder Himmelslerche steigt in die Luft aufwärts und geht wieder zur Erde herab, zieht auch wohl im Herbst schaarenweise durch die Luft hin und wirft sich wiederum auf irgend ein Stoppelfeld nieder, aber sie geht nicht auf Hecken und Gebüsche. Die Baumlerche dagegen liebt den Gipfel hoher Bäume, von wo aus sie singend in die Luft steigt und wieder auf ihren Baumgipfel herabfällt. Dann giebt es noch eine andere Lerche, die man in einsamen Gegenden an der Mittagsseite von Waldblößen antrifft und die einen sehr weichen, flötenartigen, doch etwas melancholischen Gesang hat; sie hält sich nicht am Ettersberge auf, der ihr zu lebhaft und zu nahe von Menschen umwohnt ist; aber auch sie geht nicht in Gebüsche.«»Hm!« sagte Goethe, »Sie scheinen in diesen Dingen nicht eben ein Neuling zu sein.«

»Ich habe das Fach von Jugend auf mit Liebe getrieben,« erwiederte ich, »und immer Augen und Ohren dafür offen gehabt. Der ganze Wald des Ettersbergs hat wenige Stellen, die ich nicht zu wiederholten malen durchstreift bin. Wenn ich jetzt einen einzigen Ton höre, so getraue ich mir zu sagen, von welchem Vogel er kommt. Auch bin ich so weit, daß wenn man mir irgend einen Vogel bringt, der in der Gefangenschaft durch verkehrte Behandlung das Gefieder verloren hat, ich mir getraue, ihn sehr bald vollkommen gesund und wohlbefiedert wiederherzustellen.«

»Das zeigt allerdings,« erwiederte Goethe, »daß Sie in diesen Dingen bereits vieles durchgemacht haben. Ich möchte Ihnen rathen, das Studium ernstlich fortzutreiben; es muß bei Ihrer entschiedenen Richtung zu sehr guten Resultaten führen. Aber sagen Sie mir etwas über die Mauser. Sie sprachen vorhin von verspäteten Grasmücken, die nach vollendeter Mauser aus dem Dickicht des Ettersbergs in die Felder herabgekommen. Ist denn die Mauser an eine gewisse Epoche gebunden, und mausern sich alle Vögel zugleich?«

»Bei den meisten Vögeln,« erwiederte ich, »tritt sie sogleich nach vollendeter Brütezeit ein, das heißt, sobald die Jungen des letzten Geheckes so weit sind, daß sie sich selber helfen können. Nun fragt es sich aber, ob der Vogel von diesem Zeitpunkte des fertigen letzten Geheckes bis zu dem seines Wegzugs zur Mauser noch den gehörigen Raum hat. Hat er ihn, so mausert er sich hier und zieht mit frischem Gefieder fort. Hat er ihn nicht, so zieht er mit seinem alten Gefieder fort und mausert sich später im warmen Süden. Denn die Vögel kommen im Frühling nicht zu gleicher Zeit zu uns, auch ziehen sie im Herbst nicht zu gleicher Zeit fort. Und dieses rührt daher, daß die eine Art sich aus einiger Kälte und rauhem Wetter weniger macht und sie mehr ertragen kann als die andere. Ein Vogel aber, der früh bei uns ankommt, zieht spät weg, und ein Vogel, der spät bei uns ankommt, zieht früh weg.

So ist schon unter den Grasmücken, die doch zu einem Geschlecht gehören, ein großer Unterschied. Die klappernde Grasmücke, oder das Müllerchen, läßt sich schon Ende März bei uns hören; vierzehn Tage später kommt die schwarzköpfige, oder der Mönch; sodann etwa nach einer Woche die Nachtigall; und erst ganz zu Ende April oder Anfang Mai die graue. Alle diese Vögel mausern sich im August bei uns, so auch die Jungen ihres ersten Geheckes; weshalb man denn Ende August junge Mönche fängt, die schon das schwarze Köpfchen haben. Die Jungen des letzten Geheckes aber ziehen mit ihrem ersten Gefieder fort und mausern sich später in südlichen Ländern; aus welchem Grunde man denn Anfang September junge Mönche fangen kann, und zwar junge Männchen, die noch das rothe Köpfchen haben wie ihre Mutter.«

»Ist denn die graue Grasmücke,« fragte Goethe, »der späteste bei uns ankommende Vogel, oder kommen andere noch später?«

»Der sogenannte gelbe Spottvogel und der prächtige goldgelbe Pirol,« erwiederte ich, »kommen erst gegen Pfingsten. Beide ziehen nach vollendeter Brütezeit, gegen die Mitte August, schon wieder fort und mausern sich mit ihren Jungen im Süden. Hat man sie im Käfig, so mausern sie sich bei uns im Winter, weshalb denn diese Vögel sehr schwer durchzubringen sind. Sie verlangen sehr viel Wärme. Hängt man sie aber in die Nähe des Ofens, so verkümmern sie aus Mangel an fruchtbarer Luft; bringt man sie dagegen in die Nähe des Fensters, so verkümmern sie in der Kälte der langen Nächte.«

»Man hält dafür,« sagte Goethe, »daß die Mauser eine Krankheit oder wenigstens von körperlicher Schwäche begleitet sei.«

»Das möchte ich nicht sagen,« erwiederte ich. »Es ist ein Zustand gesteigerter Productivität, der in freier Luft herrlich vonstatten geht, ohne die geringste Beschwerde, ja bei einigermaßen kräftigen Individuen auch vollkommen gut im Zimmer. Ich habe Grasmücken gehabt, die während der ganzen Mauser ihren Gesang nicht aussetzten, ein Zeichen, daß es ihnen durchaus wohl war. Zeigt sich aber ein Vogel im Zimmer während der Mauser kränklich, so ist daraus zu schließen, daß er mit dem Futter oder frischer Luft und Wasser nicht gehörig behandelt worden. Ist er im Zimmer im Laufe der Zeit aus Mangel an Luftund Freiheit so schwach geworden, das ihm die productive Kraft fehlt, um in die Mauser zu kommen, so bringe man ihn an die fruchtbare frische Luft, und die Mauser wird sogleich auf das beste vonstatten gehen. Bei einem Vogel in freier Wildniß dagegen verläuft sie sich so sanft und so allmählich, daß er es kaum gewahr wird.«

»Aber doch schienen Sie vorhin anzudeuten,« versetzte Goethe, »daß die Grasmücken sich während der Mauser in das Dickicht der Wälder ziehen.«

»Sie bedürfen während dieser Zeit,« erwiederte ich, »allerdings einiges Schutzes. Zwar verfährt die Natur auch in diesem Falle mit solcher Weisheit und Mäßigung, daß ein Vogel während der Mauser nie mit einem Male so viele Federn verliert, daß er unfähig würde, so gut zu fliegen, als die Erreichung seines Futters es verlangt. Allein es kann doch kommen, daß er z. B. mit einem Male die vierte, fünfte und sechste Schwungfeder des linken und die vierte, fünfte und sechste Schwungfeder des rechten Flügels verliert, wobei er zwar immer noch ganz gut fliegen kann, allein nicht so gut, um dem verfolgenden Raubvo gel, besonders aber dem sehr schnellen und gewandten Baumfalken zu entgehen, und da kommt ihm denn ein buschiges Dickicht sehr zu statten.«

»Das läßt sich hören,« erwiederte Goethe. »Schreitet aber die Mauser,« fuhr er fort, »an beiden Flügeln gleichmäßig und gewissermaßen symmetrisch vor?«

»So weit meine Beobachtungen reichen, allerdings,« erwiederte ich. »Und das ist sehr wohlthätig. Denn verlöre ein Vogel z. B. drei Schwungfedern des linken Flügels und nicht zugleich dieselben Federn des rechten, so würde den Flügeln alles Gleichgewicht fehlen und der Vogel würde sich und seine Bewegung nicht mehr in gehöriger Gewalt haben. Er würde sein wie ein Schiff, dem an der einen Seite die Segel zu schwer und an der andern zu leicht sind.«

»Ich sehe,« erwiederte Goethe, »man mag in die Natur eindringen von welcher Seite man wolle, man kommt immer auf einige Weisheit.«

Wir waren indes immerfort mühsam bergan gefahren und waren nun nach und nach oben, am Rande der Fichten. Wir kamen an einer Stelle vorbei, wo Steine gebrochen waren und ein Haufen lag. Goethe ließ halten und bat mich, abzusteigen und ein wenig nachzusehen, ob ich nichts von Versteinerungen entdecke. Ich fand einige Muscheln, auch einige zerbrochene Ammonshörner, die ich ihm zureichte, indem ich mich wieder einsetzte. Wir fuhren weiter.

»Immer die alte Geschichte!« sagte Goethe. »Immer der alte Meeresboden! Wenn man von dieser Höhe auf Weimar hinabblickt und auf die mancherlei Dörfer umher, so kommt es einem vor wie ein Wunder, wenn man sich sagt, daß es eine Zeit gegeben, wo in dem weiten Thale dort unten die Walfische ihr Spiel getrieben. Und doch ist es so, wenigstens höchst wahrscheinlich. Die Möve aber, die damals über dem Meere flog, das diesen Berg bedeckte, hat sicher nicht daran gedacht, daß wir beide heute hier fahren wür den. Und wer weiß, ob nach vielen Jahrtausenden die Möve nicht abermals über diesen Berg fliegt.«

Wir waren jetzt oben auf der Höhe und fuhren rasch weiter. Rechts an unserer Seite hatten wir Eichen und Buchen und anderes Laubholz. Weimar war rückwärts nicht mehr zu sehen. Wir waren auf der westlichsten Höhe angelangt, das breite Thal der Unstrut mit vielen Dörfern und kleinen Städten lag in der heitersten Morgensonne vor uns.

»Hier ist gut sein!« sagte Goethe, indem er halten ließ. »Ich dächte, wir versuchten, wie in dieser guten Luft uns etwa ein kleines Frühstück behagen möchte.«

Wir stiegen aus und gingen auf trockenem Boden am Fuß halbwüchsiger, von vielen Stürmen verkrüppelter Eichen einige Minuten auf und ab, während Friedrich das mitgenommene Frühtück auspackte und auf einer Rasenerhöhung ausbreitete. ... Wir setzten uns mit dem Rücken nach den Eichen zu, sodaß wir während des Frühstücks die weite Aussicht über das halbe Thüringen immer vor uns hatten. Wir verzehrten indes ein Paar gebratene Rebhühner mit frischem Weißbrot und tranken dazu eine Flasche sehr guten Wein, und zwar aus einer biegsamen feinen goldenen Schale, die Goethe in einem gelben Lederfutteral bei solchen Ausflügen gewöhnlich bei sich führt.

»Ich war sehr oft an dieser Stelle,« sagte er, »und dachte in spätern Jahren sehr oft, es würde das letzte Mal sein, daß ich von hier aus die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeiten überblickte. Allein es hält immer noch einmal zusammen, und ich hoffe, daß es auch heute nicht das letzte Mal ist, daß wir beide uns hier einen guten Tag machen. Wir wollen künftig öfter hierherkommen. Man verschrumpft in dem engen Hauswesen. Hier fühlt man sich groß und frei wie die große Natur, die man vor Augen hat, und wie man eigentlich immer sein sollte.

Ich übersehe von hier aus,« fuhr Goethe fort, »eine Menge Punkte, an die sich die reichsten Erinnerungen eines langen Lebens knüpfen. Was habe ich nicht drüben in den Bergen von Ilmenau in meiner Jugend alles durchgemacht! Dann dort unten im lieben Erfurt wie manches gute Abenteuer erlebt! Auch in Gotha war ich in frühester Zeit oft und gerne; doch seit langen Jahren so gut wie gar nicht.«

»Seit ich in Weimar bin,« bemerkte ich, »erinnere ich mich nicht, daß Sie dort waren.«

»Das hat so seine Bewandtniß,« erwiederte Goethe lachend. »Ich bin dort nicht zum besten angeschrieben. Ich will Ihnen davon eine Geschichte erzählen. Als die Mutter des jetzt regie renden Herrn noch in hübscher Jugend war, befand ich mich dort sehr oft. Ich saß eines Abends bei ihr allein am Theetisch, als die beiden zehn- und zwölfjährigen Prinzen, zwei hübsche blondlockige Knaben, hereinsprangen und zu uns an den Tisch kamen. Übermüthig wie ich sein konnte, fuhr ich den beiden Prinzen mit meinen Händen in die Haare, mit den Worten: Nun, ihr Semmelköpfe, was macht ihr? Die Buben sahen mich mit großen Augen an, im höchsten Erstaunen über meine Kühnheit – und haben es mir später nie vergessen!

Ich will nun just eben nicht damit prahlen, aber es war so und lag tief in meiner Natur: ich hatte vor der bloßen Fürstlichkeit als solcher, wenn nicht zugleich eine tüchtige Menschennatur und ein tüchtiger Menschenwerth dahintersteckte, nie viel Respect. Ja es war mir selber so wohl in meiner Haut und ich fühlte mich selber so vornehm, daß, wenn man mich zum Fürsten gemacht hätte, ich es nicht eben sonderlich merkwürdig gefunden haben würde. Als man mir das Adelsdiplom gab, glaubten viele, wie ich mich dadurch möchte erhoben fühlen. Allein, unter uns, es war mir nichts, gar nichts! Wir Frankfurter Patricier hielten uns immer dem Adel gleich, und als ich das Diplom in Händen hielt, hatte ich in meinen Gedanken eben nichts weiter als was ich längst besessen.«

Wir thaten noch einen guten Trunk aus der goldenen Schale und fuhren dann um die nördliche Seite des Ettersberges herum nach dem Jagdschlosse Ettersburg. Goethe ließ sämmtliche Zimmer aufschließen, die mit heitern Tapeten und Bildern behängt waren. In dem westlichen Eckzimmer des ersten Stockes sagte er mir, daß Schiller dort einige Zeit gewohnt. »Wir haben überhaupt,« fuhr er fort, »in frühester Zeit hier manchen guten Tag gehabt und manchen guten Tag verthan. Wir waren alle jung und voll Übermuth, und es fehlte uns im Sommer nicht an allerlei improvisirtem Komödienspiel und im Winter nicht an allerlei Tanz und Schlittenfahrten mit Fackeln.«

Wir gingen wieder ins Freie, und Goethe führte mich in westlicher Richtung einen Fußweg ins Holz.

»Ich will Ihnen doch auch die Buche zeigen,« sagte er, »worin wir vor funfzig Jahren unsere Namen geschnitten. – Aber wie hat sich das verändert, und wie ist das alles herange wachsen! – Das wäre denn der Baum! Sie sehen, er ist noch in der vollsten Pracht. Auch unsere Namen sind noch zu spüren, doch so verquollen und verwachsen, daß sie kaum noch herauszubringen. Damals stand diese Buche auf einem freien trockenen Platz. Es war durchaus sonnig und anmuthig umher, und wir spielten hier an schönen Sommertagen unsere improvisirten Possen. Jetzt ist es hier feucht und unfreundlich. Was sonst nur niederes Gebüsch war, ist indes zu schattigen Bäumen herangewachsen, sodaß man die prächtige Buche unserer Jugend kaum noch aus dem Dickicht herausfindet.«

Wir gingen wieder nach dem Schlosse, und nachdem wir noch die ziemlich reiche Waffensammlung besehen, fuhren wir nach Weimar zurück.



1827, 27. September. 
Mit Johann Peter Eckermann


Nachmittags einen Augenblick bei Goethe, wo ich Herrn Geheimrath Streckfuß aus Berlin kennen lernte, der diesen Vormittag mit ihm eine Spazierfahrt gemacht und dann zu Tische geblieben war. Als Streckfuß ging, begleitete ich ihn und machte noch einen Gang durch den Park. Bei meiner Zurückkunft über den Markt begegnete ich dem Kanzler und Raupach, mit denen ich in den Elefanten ging. Abends wieder bei Goethe, der mit mir ein neues Heft von »Kunst und Alterthum« besprach, desgleichen zwölf Blätter Bleistiftumrisse, in welchen die Gebrüder Riepenhausen die Gemälde Polygnot's in der Lesche zu Delphi nach einer Beschreibung des Pausanias wie derherzustellen versucht; ein Unternehmen, welches Goethe nicht genug anzuerkennen wußte.


1827, 1. October. 
Mit Johann Peter Eckermann


Im Theater »Das Bild« von Houwald. Ich sah zwei Acte und ging dann zu Goethe, der mir die zweite Scene seines neuen ›Faust‹ vorlas.

»Ich habe in dem Kaiser,« sagte er, »einen Fürsten darzustellen gesucht, der alle möglichen Eigenschaften hat sein Land zu verlieren, welches ihm denn auch später wirklich gelingt.

Das Wohl des Reichs und seiner Unterthanen macht ihm keine Sorge; er denkt nur an sich und wie er sich von Tag zu Tag mit etwas Neuem amusire. Das Land ist ohne Recht und Gerechtigkeit, der Richter selber mitschuldig und auf der Seite der Verbrecher, die unerhörtesten Frevel geschehen ungehindert und ungestraft. Das Heer ist ohne Sold, ohne Disciplin und streift raubend umher, um sich seinen Sold selber zu verschaffen und sich selber zu helfen wie es kann. Die Staatskasse ist ohne Geld und ohne Hoffnung weiterer Zuflüsse. Im eigenen Haushalte des Kaisers sieht es nicht besser aus: es fehlt in Küche und Keller. Der Marschall, der von Tag zu Tag nicht mehr Rath zu schaffen weiß, ist bereits in den Händen wuchernder Juden, denen alles verpfändet ist, sodaß auf den kaiserlichen Tisch vorweggegessenes Brot kommt.

Der Staatsrath will Sr. Majestät über alle diese Gebrechen Vorstellungen thun und ihre Abhilfe berathen; allein der gnädigste Herr ist sehr ungeneigt, solchen unangenehmen Dingen sein hohes Ohr zu leihen; er möchte sich lieber amusiren. Hier ist nun das wahre Element für Mephisto, der den bisherigen Narren schnell beseitigt und als neuer Narr und Rathgeber sogleich an der Seite des Kaisers ist.«

Goethe las die Scene und das Zwischen-Gemurmel der Menge ganz vortrefflich, und ich hatte einen sehr guten Abend.

1827, 7. October. 
 it Johann Peter Eckermann


Diesen Morgen bei sehr schönem Wetter befand ich mich mit Goethe bereits vor acht Uhr im Wagen und auf dem Wege nach Jena, wo er bis morgen Abend zu verweilen die Absicht hatte.

Dort zeitig angekommen, fuhren wir zunächst am Botanischen Garten vor, wo Goethe alle Sträuche und Gewächse in Augenschein nahm und alles in schönster Ordnung und im besten Gedeihen fand. Wir besahen ferner das Mineralogische Cabinet und einige andere naturwissenschaftliche Sammlungen und fuhren darauf zu Herrn von Knebel, der uns zu Tische erwartete.Knebel, im höchsten Alter, eilte Goethen halb stolpernd an der Thür entgegen, um ihn in seine Arme zu schließen. Darauf bei Tische ging alles sehr herzlich und munter zu; von Gesprächen jedoch entwickelte sich nichts von einiger Bedeutung. Die beiden alten Freunde hatten genug am beiderseitigen menschlich nahen Beisammensein.

Nach Tische machten wir eine Spazierfahrt in südlicher Richtung an der Saale hinauf. Ich kannte diese reizende Gegend bereits aus früherer Zeit, doch wirkte alles wieder so frisch, als hätte ich es vorher nie gesehen.

Als wir uns wieder in den Straßen von Jena befanden, ließ Goethe an einem Bach hinauffahren und an einem Hause halten, das äußerlich eben kein bedeutendes Ansehen hatte.

»Hier hat Voß gewohnt,« sagte er, »und ich will Sie doch auch auf diesem klassischen Boden einführen.« Wir durchschritten das Haus und traten in den Garten. Von Blumen und anderer Art feiner Cultur war wenig zu spüren, wir gingen auf Rasen unter lauter Obstbäumen. »Das war etwas für Ernestinen,« sagte Goethe, »die auch hier ihre trefflichen Eutiner Äpfel nicht vergessen konnte, und die sie mir rühmte als etwas ohnegleichen. Es waren aber die Äpfel ihrer Kindheit gewesen – darin lag's! Ich habe übrigens hier mit Voß und seiner trefflichen Ernestine manchen schönen Tag gehabt und gedenke der alten Zeit sehr gern. Ein Mann wie Voß wird übrigens so bald nicht wieder kommen. Es haben wenig andere auf die höhere deutsche Cultur einen solchen Einfluß gehabt als er. Es war an ihm alles gesund und derb, weshalb er auch zu den Griechen kein künstliches, sondern ein rein natürliches Verhältniß hatte, woraus denn für uns andern die herrlichsten Früchte erwachsen sind. Aber von seinem Werthe durchdrungen ist wie ich, weiß gar nicht, wie er sein Andenken würdig genug ehren soll.«

Es war indes gegen sechs Uhr geworden, und Goethe fand es an der Zeit, in unser Nachtquartier zu gehen, das er im Gasthof Zum Bären hatte bestellen lassen.

Man gab uns ein geräumiges Zimmer nebst einem Alkoven mit zwei Betten. Die Sonne war noch nicht lange hinab, der Abendschein lag auf unsern Fenstern, und es war uns gemüthlich, noch eine Zeit lang ohne Licht zu sitzen. Goethe lenkte das Gespräch auf Voß zurück. »Er war mir sehr werth,« sagte er, »und ich hätte ihn gern der Akademie und mir erhalten. Allein die Vortheile, die man ihm von Heidelberg her anbot, waren zu bedeutend, als daß wir bei unsern geringen Mitteln sie hätten aufwiegen können. Ich mußte ihn mit schmerzlicher Resignation ziehen lassen.

Ein Glück für mich war es indes,« fuhr Goethe fort, »daß ich Schillern hatte; denn so verschieden unsere beiderseitigen Naturen auch waren, so gingen doch unsere Richtungen auf Eins; welches denn unser Verhältniß so innig machte, daß im Grunde keiner ohne den andern leben konnte.«

Goethe erzählte mir darauf von seinem Freunde einige Anekdoten, die mir sehr characteristisch erschienen.

»Schiller war, wie sich bei seinem großartigen Character denken läßt,« sagte er, »ein entschiedener Feind aller hohlen Ehrenbezeigungen und aller faden Vergötterung, die man mit ihm trieb oder treiben wollte. Als Kotzebue vorhatte, eine öffentliche Demonstration zu seinem Ruhme zu veranstalten, war es ihm so zuwider, daß er vor innerm Ekel darüber fast krank wurde. Ebenso war es ihm zuwider, wenn ein Fremder sich bei ihm melden ließ. Wenn er augenblicklich behindert war, ihn zu sehen, und er ihn etwa auf den Nachmittag vier Uhr bestellte, so war in der Regel anzunehmen, daß er um die bestimmte Stunde vor lauter Apprehension krank war. Auch konnte er in solchen Fällen gelegentlich sehr ungeduldig und auch wohl grob werden. Ich war Zeuge, wie er einst einen fremden Chirurgus, der, um ihm seinen Besuch zu machen, bei ihm unangemeldet eintrat, sehr heftig anfuhr, sodaß der arme Mensch, ganz verblüfft, nicht wußte wie schnell er sich sollte zurückziehen.

Wir waren, wie gesagt und wie wir alle wissen,« fuhr Goethe fort, »bei aller Gleichheit unserer Richtungen Naturen sehr verschiedener Art, und zwar nicht bloß in geistigen Dingen, sondern auch in physischen. Eine Luft, die Schillern wohlthätig war, wirkte auf mich wie Gift. Ich besuchte ihn eines Tags, und da ich ihn nicht zu Hause fand und seine Frau mir sagte, daß er bald zurückkommen würde, so setzte ich mich an seinen Arbeitstisch, um mir dieses und jenes zu notiren. Ich hatte aber nicht lange gesessen, als ich von einem heimlichen Übelbefinden mich überschlichen fühlte, welches sich nach und nach steigerte, sodaß ich endlich einer Ohnmacht nahe war. Ich wußte anfänglich nicht, welcher Ursache ich diesen elenden mir ganz ungewöhnlichen Zustand zuschreiben sollte, bis ich endlich bemerkte, daß aus einer Schieblade neben mir ein sehr fataler Geruch strömte. Als ich sie öffnete, fand ich zu meinem Erstaunen, daß sie voll fauler Äpfel war. Ich trat sogleich an ein Fenster und schöpfte frische Luft, worauf ich mich denn augenblicklich wiederhergestellt fühlte. Indes war seine Frau wieder hereingetreten, die mir sagte, daß die Schieblade immer mit faulen Äpfeln gefüllt sein müsse, indem dieser Geruch Schillern wohlthue und er ohne ihn nicht leben und arbeiten könne.«

»Morgen früh,« fuhr Goethe fort, »will ich Ihnen auch zeigen, wo Schiller hier in Jena gewohnt hat.«

Es war indes Licht gebracht, wir nahmen ein kleines Abendessen und saßen nachher noch eine Weile in allerlei Erinnerungen und Gesprächen.Ich erzählte Goethen einen merkwürdigen Traum aus meinen Knabenjahren, der am andern Morgen buchstäblich in Erfüllung ging.

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»Dieses Ihr Knabenereigniß,« sagte Goethe, »ist allerdings höchst merkwürdig. Aber dergleichen liegt sehr wohl in der Natur, wenn wir auch dazu noch nicht den rechten Schlüssel haben. Wir wandeln alle in Geheimnissen. Wir sind von einer Atmosphäre umgeben, von der wir noch gar nicht wissen, was sich alles in ihr regt und wie es mit unserm Geiste in Verbindung steht. So viel ist wohl gewiß, daß in besondern Zuständen die Fühlfäden unserer Seele über ihre körperlichen Grenzen hinausreichen können und ihr ein Vorgefühl, ja auch ein wirklicher Blick in die nächste Zukunft gestattet ist.«

»Etwas Ähnliches,« erwiederte ich, »habe ich erst neulich erlebt, wo ich von einem Spaziergange auf der Erfurter Chaussee zurückkam und ich etwa zehn Minuten vor Weimar den geistigen Eindruck hatte, wie an der Ecke des Theaters mir eine Person begegnete, die ich seit Jahr und Tag nicht gesehen und an die ich sehr lange ebenso wenig gedacht. Es beunruhigte mich, zu denken, daß sie mir begegnen könnte, und mein Erstaunen war daher nicht gering, als sie mir, sowie ich um die Ecke biegen wollte, wirklich an derselbigen Stelle so entgegentrat, wie ich es vor etwa zehn Minuten im Geiste gesehen hatte.«

»Das ist gleichfalls sehr merkwürdig und mehr als Zufall,« erwiederte Goethe. »Wie gesagt, wir tappen alle in Geheimnissen und Wundern. Auch kann eine Seele auf die andere durch bloße stille Gegenwart entschieden einwirken, wovon ich mehrere Beispiele erzählen könnte. Es ist mir sehr oft passirt, daß wenn ich mit einem guten Bekannten ging und lebhaft an etwas dachte, dieser über das, was ich im Sinne hatte, sogleich an zu reden fing. So habe ich einen Mann gekannt, der, ohne ein Wort zu sagen, durch bloße Geistesgewalt eine in heitern Gesprächen begriffene Gesellschaft plötzlich stillzumachen imstande war. Ja er konnte auch eine Verstimmung hineinbringen, sodaß es allen unheimlich wurde.Wir haben alle etwas von electrischen und magnetischen Kräften in uns und üben wie der Magnet selber eine anziehende und abstoßende Gewalt aus, je nachdem wir mit etwas Gleichem oder Ungleichem in Berührung kommen. Es ist möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß wenn ein junges Mädchen in einem dunkeln Zimmer sich, ohne es zu wissen, mit einem Manne befände, der die Absicht hätte sie zu ermorden, sie von seiner ihr unbewußten Gegenwart ein unheimliches Gefühl hätte, und daß eine Angst über sie käme, die sie zum Zimmer hinaus und zu ihren Hausgenossen triebe.«

»Ich kenne eine Opernscene,« entgegnete ich, »worin zwei Liebende, die lange Zeit durch große Entfernung getrennt waren, sich, ohne es zu wissen, in einem dunkeln Zimmer zusammen befinden. Sie sind aber nicht lange beisammen, so fängt die magnetische Kraft an zu wirken: eins ahnt des andern Nähe, sie werden unwillkürlich zueinander hingezogen, und es dauert nicht lange, so liegt das junge Mädchen in den Armen des Jünglings.«»Unter Liebenden,« versetzte Goethe, »ist diese magnetische Kraft besonders stark und wirkt sogar sehr in die Ferne. Ich habe in meinen Jünglingsjahren Fälle genug erlebt, wo auf einsamen Spaziergängen ein mächtiges Verlangen nach einem geliebten Mädchen mich überfiel und ich so lange an sie dachte, bis sie mir wirklich entgegenkam. ›Es wurde mir in meinem Stübchen unruhig,‹ sagte sie, ›ich konnte mir nicht helfen, ich mußte hierher.‹

So erinnere ich mich eines Falles aus den ersten Jahren meines Hierseins, wo ich sehr bald wieder in leidenschaftliche Zustände gerathen war. Ich hatte eine größere Reise gemacht und war schon seit einigen Tagen zurückgekehrt, aber durch Hofverhältnisse, die mich spät bis in die Nacht hielten, immer behindert gewesen, die Geliebte [Frau v. Stein?] zu besuchen. Auch hatte unsere Neigung bereits die Aufmerksamkeit der Leute auf sich gezogen, und ich trug daher Scheu, am offenen Tage hinzugehen, um das Gerede nicht zu vergrößern. Am vierten oder fünften Abend aber konnte ich es nicht länger aushalten, und ich war auf dem Wege zu ihr und stand vor ihremHause, ehe ich es dachte. Ich ging leise die Treppe hinauf und war im Begriff in ihr Zimmer zu treten, als ich an verschiedenen Stimmen hörte, daß sie nicht allein war. Ich ging unbemerkt wieder hinab und war schnell wieder in den dunkeln Straßen, die damals noch keine Beleuchtung hatten. Unmuthig und leidenschaftlich durchstreifte ich die Stadt in allen Richtungen wohl eine Stunde lang, und immer einmal wieder vor ihrem Hause vorbei, voll sehnsüchtiger Gedanken an die Geliebte. Ich war endlich auf dem Punkte, wieder in mein einsames Zimmer zurückkehren, als ich noch einmal an ihrem Hause vorbeiging und bemerkte, daß sie kein Licht mehr hatte. Sie wird ausgegangen sein, sagte ich zu mir selber; aber wohin in dieser Dunkelheit der Nacht? und wo soll ich ihr begegnen? Ich ging abermals durch mehrere Straßen, es begegneten mir viele Menschen, und ich war oft getäuscht, indem ich ihre Gestalt und ihre Größe zu sehen glaubte, aber bei näherm Hinzukommen immer fand, daß sie es nicht war. Ich glaubte schon damals fest an eine gegenseitige Einwirkung, und daß ich durch ein mächtiges Verlangen sie herbeiführen könne. Auch glaubte ich mich unsichtbar von höhern Wesen umgeben, die ich anflehte, ihre Schritte zu mir oder die meinigen zu ihr zu lenken. Aber was bist du für ein Thor! sagte ich dann wieder zu mir selber; noch einmal es versuchen und noch einmal zu ihr gehen wolltest du nicht, und jetzt verlangst du Zeichen und Wunder!

Indessen war ich an der Esplanade hinuntergegangen und bis an das kleine Haus gekommen, das in spätern Jahren Schiller bewohnte, als es mich anwandelte umzukehren und zurück nach dem Palais und von dort eine kleine Straße rechts zu gehen. Ich hatte kaum hundert Schritte in dieser Richtung gethan, als ich eine weibliche Gestalt mir entgegenkommen sah, die der ersehnten vollkommen gleich war. Die Straße war nur von dem schwachen Licht ein wenig dämmerig, das hin und wieder durch ein Fenster drang, und da mich diesen Abend eine scheinbare Ähnlichkeit schon oft getäuscht hatte, so fühlte ich nicht den Muth, sie aufs ungewisse anzureden. Wir gingen dicht aneinander vorbei, sodaß unsere Arme sich berührten; ich stand still und blickte mich um, sie auch. ›Sind sie es?‹ sagte sie, und ich erkannte ihre liebe Stimme. ›Endlich!‹ sagte ich und war beglückt bis zu Thränen. Unsere Hände ergriffen sich. ›Nun,‹ sagte ich, ›meine Hoffnung hat mich nicht betrogen. Mit dem größten Verlangen habe ich Sie gesucht, mein Gefühl sagte mir, daß ich Sie sicher finden würde, und nun bin ich glücklich und danke Gott, daß es wahr geworden.‹ ›Aber, Sie Böser,‹ sagte sie, ›warum sind Sie nicht gekommen? Ich erfuhr heute zufällig, daß Sie schon seit drei Tagen zurück, und habe den ganzen Nach mittag geweint, weil ich dachte, Sie hätten mich vergessen. Dann vor einer Stunde ergriff mich ein Verlangen und eine Unruhe nach Ihnen, ich kann es nicht sagen. Es waren ein paar Freundinnen bei mir, deren Besuch mir eine Ewigkeit dauerte. Endlich als sie fort waren, griff ich unwillkürlich nach meinem Hut und Mäntelchen, es trieb mich, in die Luft zu gehen, in die Dunkelheit hinaus, ich wußte nicht wohin. Dabei lagen Sie mir immer im Sinn, und es war mir nicht anders als müßten Sie mir begegnen.‹ Indem sie so aus treuem Herzen sprach, hielten wir unsere Hände noch immer gefaßt und drückten uns und gaben uns zu verstehen, daß die Abwesenheit unsere Liebe nicht erkaltet. Ich begleitete sie bis vor die Thür, bis in ihr Haus. Sie ging auf der finstern Treppe mir voran, wobei sie meine Hand hielt und mich ihr gewissermaßen nachzog. Mein Glück war unbeschreiblich, sowohl über das endliche Wiedersehen als auch darüber, daß mein Glaube mich nicht betrogen und mein Gefühl von einer unsichtbaren Einwirkung mich nicht getäuscht hatte.«

Goethe war in der liebevollsten Stimmung, ich hätte ihm noch Stunden lang zuhören mögen. Allein er schien nach und nach müde zu werden, und so gingen wir denn in unserm Alkoven sehr bald zu Bette.



1827, 8. October. 
 Johann Peter Eckermann


Wir standen frühzeitig auf. Während des Ankleidens erzählte Goethe mir einen Traum der vorigen Nacht, wo er sich nach Göttingen versetzt gesehen und mit dortigen Professoren seiner Bekanntschaft allerlei gute Unterhaltung gehabt.

Wir tranken einige Tassen Kaffee und fuhren sodann an dem Gebäude vor, welches die naturwissenschaftlichen Sammlungen enthält. Wir besahen das Anatomische Cabinet, allerlei Skelette von Thieren und Urthieren, auch Skelette von Menschen früherer Jahrhunderte, bei welchen Goethe die Bemerkung machte, daß ihre Zähne eine sehr moralische Rasse andeuteten.

Er ließ darauf nach der Sternwarte fahren, wo Herr Dr. Schrön uns die bedeutendsten Instrumente vorzeigte und erklärte. Auch das anstoßende Meteorologische Cabinet ward mit besonderm Interesse betrachtet, und Goethe lobte Herrn Dr. Schrön wegen der in allen diesen Dingen herrschenden großen Ordnung.

Wir gingen sodann in den Garten hinab, wo Goethe auf einem Steintisch in einer Laube ein kleines Frühstück hatte arrangiren lassen. »Sie wissen wohl kaum,« sagte er, »an welcher merkwürdigen Stelle wir uns eigentlich befinden. Hier hat Schiller gewohnt. In dieser Laube, auf diesen jetzt fast zusammengebrochenen Bänken haben wir oft an diesem alten Steintisch gesessen und manches gute und große Wort miteinander gewechselt. Er war damals noch in den Dreißigen, ich selber noch in den Vierzigen, beide noch in vollstem Aufstreben, und es war etwas. Das geht alles hin und vorüber; ich bin auch nicht mehr der ich gewesen, aber die alte Erde hält Stich, und Luft und Wasser und Boden sind noch immer dieselbigen.

Gehen Sie doch nachher einmal mit Schrön hinauf und lassen sich von ihm in der Mansarde die Zimmer zeigen, die Schiller bewohnt hat.« .....Es war indeß Mittag geworden. Wir saßen wieder im Wagen. »Ich dächte,« sagte Goethe, »wir führen nicht zu Tische nach dem Bären, sondern genössen den herrlichen Tag im Freien. Ich dächte, wir gingen nach Burgau. Wein haben wir bei uns, und dort finden wir auf jeden Fall einen guten Fisch, den man entweder sieden oder braten mag.«

Wir thaten so, und es war gar herrlich. Wir fuhren an den Ufern der Saale hinauf, an Gebüschen und Krümmungen vorbei, den anmuthigsten Weg, wie ich ihn vorhin aus Schiller's Mansarde gesehen. Wir waren sehr bald in Burgau. Wir stiegen in dem kleinen Gasthofe ab, nahe am Fluß und an der Brücke, wo es hinüber noch Lobeda geht, welches Städtchen wir, über Wiesen hin, nahe vor Augen hatten.

In dem kleinen Gasthofe war es so wie Goethe gesagt. Die Wirthin entschuldigte, daß sie auf nichts eingerichtet sei, daß es uns aber an einer Suppe und einem guten Fisch nicht fehlen solle.

Wir promenirten indeß im Sonnenschein auf der Brücke hin und her und freuten uns des Flusses, der durch Flöße belebt war, die auf zusammengebundenen fichtenen Bohlen von Zeit zu Zeit unter der Brücke hinglitten und bei ihrem mühsamen nassen Geschäft überaus heiter und laut waren.

Wir aßen unsern Fisch im Freien und blieben sodann noch bei einer Flasche Wein sitzen und hatten allerlei gute Unterhaltung.

Ein kleiner Falke flog vorbei, der in seinem Flug und seiner Gestalt große Ähnlichkeit mit dem Kuckuck hatte.

»Es gab eine Zeit,« sagte Goethe, »wo das Studium der Naturgeschichte noch so weit zurück war, daß man die Meinung allgemein verbreitet fand, der Kuckuck sei nur im Sommer ein Kuckuck, im Winter aber ein Raubvogel.«

»Diese Ansicht,« erwiederte ich, »existirt im Volke auch jetzt noch. Ja man dichtet dem guten Vogel auch an, daß, sobald er völlig ausgewachsen sei, er seine eigenen Eltern verschlucke. Und so gebraucht man ihn denn als ein Gleichniß des schändlichsten Undanks. Ich kenne noch im gegenwärtigen Augenblick Leute, die sich diese Absurditäten durchaus nicht wollen ausreden lassen, und die daran so fest hängen wie an irgend einem Artikel ihres christlichen Glaubens.«

»Soviel ich weiß,« sagte Goethe, »classificirt man den Kuckuck zu den Spechten.«

»Man thut so mitunter,« erwiederte ich, »wahrscheinlich aus dem Grunde, weil zwei Zehen seiner schwachen Füße eine Richtung nach hinten haben. Ich möchte ihn aber nicht dahin stellen. Er hat für die Lebensart der Spechte so wenig den starken Schnabel, der fähig wäre irgend eine abgestorbene Baumrinde zu brechen, als die scharfen, sehr starken Schwanzfedern, die geeignet wären ihn bei einer solchen Operation zu stützen. Auch fehlen seinen Zehen die zum Anhalten nöthigen scharfen Krallen, und ich halte daher seine kleinen Füße nicht für wirkliche Kletterfüße, sondern nur für scheinbare.«

»Die Herren Ornithologen,« versetzte Goethe, »sind wahrscheinlich froh, wenn sie irgend einen eigenthümlichen Vogel nur einigermaßen schicklich untergebracht haben, wogegen aber die Natur ihr freies Spiel treibt und sich um die von beschränkten Menschen gemachten Fächer wenig kümmert.«»So wird die Nachtigall,« fuhr ich fort, »zu den Grasmücken gezählt, während sie in der Energie ihres Naturells, ihren Bewegungen und ihrer Lebensweise weit mehr Ähnlichkeit mit den Drosseln hat. Aber auch zu den Drosseln möchte ich sie nicht zählen. Sie ist ein Vogel, der zwischen beiden steht, ein Vogel für sich, so wie auch der Kuckuck ein Vogel für sich ist mit so scharf ausgesprochener Individualität wie einer.«

»Alles, was ich über den Kuckuck gehört habe,« sagte Goethe, »giebt mir für diesen merkwürdigen Vogel ein großes Interesse. Er ist eine höchst problematische Natur, ein offenbares Geheimniß, das aber nichtsdestoweniger schwer zu lösen, weil es so offenbar ist. Und bei wie vielen Dingen finden wir uns nicht in demselbigen Falle! Wir stecken in lauter Wundern, und das Letzte und Beste der Dinge ist uns verschlossen. Nehmen wir nur die Bienen. Wir sehen sie nach Honig fliegen, stundenweit und zwar immer einmal in einer andern Richtung. Jetzt fliegen sie wochenlang westlich nach einem Felde von blühendem Rübsamen, dann ebenso lange nördlich nach blühender Heide, dann wieder in einer andern Richtung nach der Blüthe des Buchweizens, dann irgendwohin auf ein blühendes Kleefeld und endlich wieder in einer andern Richtung nach blühenden Linden. Wer hat ihnen aber gesagt: Jetzt fliegt dorthin, da giebt es etwas für euch! Und dann wieder dort, da giebt es etwas Neues! Und wer führt sie zurück nach ihrem Dorf und ihrer Zelle? Sie gehen wie an einem unsichtbaren Gängelbande hierhin und dorthin; was es aber eigentlich sei, wissen wir nicht. Ebenso die Lerche. Sie steigt singend auf über einem Halmenfeld, sie schwebt über einem Meere von Halmen, das der Wind hin- und herwiegt und wo die eine Welle aussieht wie die andere; sie fährt wieder hinab zu ihren Jungen und trifft, ohne zu fehlen, den kleinen Fleck, wo sie ihr Nest hat. Alle diese äußern Dinge liegen klar vor uns wie der Tag, aber ihr inneres geistiges Band ist uns verschlossen.«

»Mit dem Kuckuck,« sagte ich, »ist es nicht anders. Wir wissen von ihm, daß er nicht selber brütet, sondern sein Ei in das Nest irgend eines andern Vogels legt. Wir wissen ferner, daß er es legt: in das Nest der Grasmücke, der gelben Bachstelze, des Mönchs, ferner in das Nest des Braunelle, in das Nest des Rothkehlchens und in das Nest des Zaunkönigs. Dieses wissen wir. Auch wissen wir gleichfalls, daß dieses alles Insektenvögel sind und es sein müssen, weil der Kuckuck selber ein Insektenvogel ist und der junge Kuckuck von einem Samen fressenden Vogel nicht könnte erzogen werden? Woran aber erkennt der Kuckuck, daß dieses alles auch wirklich Insektenvögel sind, da doch alle diese Genannten sowohl in ihrer Gestalt als in ihrer Farbe von einander so äußerst abweichen, und auch in ihrer Stimme und in ihren Locktönen so äußerst abweichen? Und ferner, wie kommt es, daß der Kuckuck sein Ei und sein zartes Junges Nestern anvertrauen kann, die in Hinsicht auf Structur und Temperatur, auf Trockenheit und Feuchte so verschieden sind wie nur immer möglich? Das Nest der Grasmücke ist von dürren Grashälmchen und einigen Pferdehaaren so leicht gebaut, daß jede Kälte eindringt und jeder Luftzug hindurchweht, auch von oben offen und ohne Schutz; aber der junge Kuckuck gedeiht darin vortrefflich. Das Nest des Zaunkönigs dagegen ist äußerlich von Moos, Halmen und Blättern dicht und fest gebaut und innen mit allerlei Wolle und Federn sorgfältig ausgefüttert, sodaß kein Lüftchen hindurchdringen kann; auch ist es oben gedeckt und gewölbt und nur eine kleine Öffnung zum Hinein- und Hinausschlüpfen des sehr kleinen Vogels gelassen. Man sollte denken, es müßte in heißen Junitagen in solcher geschlossenen Höhle eine Hitze zum Ersticken sein. Allein der junge Kuckuck gedeiht darin aufs beste. Und wiederum wie anders ist das Nest der gelben Bachstelze! Der Vogel lebt am Wasser, an Bächen und in allerlei Nassem. Er baut sein Nest auf feuchten Tristen, in einem Büschel von Binsen. Er scharrt ein Loch in die feuchte Erde und legt es dürftig mit einigen Grashälmchen aus, sodaß der junge Kuckuck durchaus im Feuchten und Kühlen gebrütet wird und heranwachsen muß. Und dennoch gedeiht er wiederum vortrefflich. Was ist das aber für ein Vogel, für den im zartesten Kindesalter Feuchtes und Trockenes, Hitze und Kälte, Abweichungen, die für jeden andern Vogel tödtlich wären, durchaus gleichgültige Dinge sind! Und wie weiß der alte Kuckuck, daß sie es sind, da er doch selber im erwachsenen Alter für Nässe und Kälte so sehr empfindlich ist?«»Wir stehen hier,« erwiederte Goethe, »eben vor einem Geheimniß. Aber sagen Sie mir doch, wenn Sie es beobachtet haben, wie bringt der Kuckuck sein Ei in das Nest des Zaunkönigs, da es doch nur eine so geringe Öffnung hat, daß er nicht hineinkommen und er sich nicht selber daraufsetzen kann?«

»Er legt es auf irgend eine trockene Stelle,« erwiederte ich, »und bringt es mit dem Schnabel hinein. Auch glaube ich, daß er nicht bloß beim Zaunkönig, sondern auch bei den übrigen Nestern so thut. Denn auch die Nester der andern Insektenvögel, wenn sie auch oben offen, sind doch so klein oder so nahe von Zweigen umgeben, daß der große langschwänzige Kuckuck sich nicht daraufsetzen könnte. Dies ist sehr wohl zu denken. Allein wie es kommen mag, daß der Kuckuck ein so außerordentlich kleines Ei legt, ja so klein als wäre es das Ei eines kleinen Insektenvogels, das ist ein neues Räthsel, das man im stillen bewundert, ohne es lösen zu können. Das Ei des Kuckucks ist nur um ein weniges größer als das der Grasmücke, und es darf im Grunde nicht größer sein, wenn die kleinen Insektenvö gel es brüten sollen. Dies ist durchaus gut und vernünftig. Allein daß die Natur, um im speciellen Falle weise zu sein, von einem durchgehenden großen Gesetz abweicht, wonach vom Kolibri bis zum Strauß zwischen der Größe des Eies und der Größe des Vogels ein entschiedenes Verhältniß stattfindet, dieses willkürliche Verfahren, sage ich, ist durchaus geeignet uns zu überraschen und uns in Erstaunen zu setzen.«

»Es setzt uns allerdings in Erstaunen,« erwiederte Goethe, »weil unser Standpunkt zu klein ist, als daß wir es übersehen könnten. Wäre uns mehr eröffnet, so würden wir auch diese scheinbaren Abweichungen wahrscheinlich im Umfange des Gesetzes finden. Doch fahren Sie fort und sagen Sie mir mehr. Weiß man denn nicht, wie viele Eier der Kuckuck legen mag?«

»Wer darüber etwas mit Bestimmtheit sagen wollte,« antwortete ich, »wäre ein großer Thor. Der Vogel ist sehr flüchtig, er ist bald hier und bald dort. Man findet von ihm in einem einzigen Nest immer nur ein einziges Ei. Er legt sicherlich mehrere; allein wer weiß wo sie hingerathen, und wer kann ihm nachkommen! Gesetzt aber, er legte fünf Eier, und diese wür den alle fünf glücklich ausgebrütet und von liebevollen Pflegeeltern herangezogen, so hat man wiederum zu bewundern, daß die Natur sich entschließen mag, für fünf junge Kuckucke wenigstens funfzig Junge unserer besten Singvögel zu opfern.«

»In dergleichen Dingen,« erwiederte Goethe, »pflegt die Natur auch in andern Fällen nicht eben scrupulös zu sein. Sie hat einen großen Etat von Leben zu vergeuden, und sie thut es gelegentlich ohne sonderliches Bedenken. Wie aber kommt es, daß für einen einzigen jungen Kuckuck so viele junge Singvögel verloren gehen?«

»Zunächst,« erwiederte ich, »geht die erste Brut verloren. Denn im Fall auch die Eier des Singvogels neben dem Kuckucksei, wie es wohl geschieht, mit ausgebrütet würden, so haben doch die Eltern über den entstandenen größern Vogel eine solche Freude und für ihn eine solche Zärtlichkeit, daß sie nur an ihn denken und nur ihn füttern, worüber denn ihre eigenen kleinen Jungen zu Grunde gehen und aus dem Neste verschwinden. Auch ist der junge Kuckuck immer begierig und bedarf so viel Nahrung, als die kleinen Insektenvögel nur immer herbeischleppen können. Es dauert sehr lange, ehe er seine vollständige Größe und sein vollständiges Gefieder erreicht und ehe er fähig ist, das Rest zu verlassen und sich zum Gipfel eines Baumes zu erheben. Ist er aber auch längst ausgeflogen, so verlangt er doch noch fortwährend gefüttert zu werden, sodaß der ganze Sommer darüber hingeht und die liebevollen Pflegeeltern ihrem großen Kinde immer nachziehen und an eine zweite Brut nicht denken. Aus diesem Grunde gehen denn über einen einzigen jungen Kuckuck so viele andere junge Vögel verloren.«

»Das ist sehr überzeugend,« erwiederte Goethe. »Doch sagen Sie mir, wird denn der junge Kuckuck, sobald er ausgeflogen ist, auch von andern Vögeln gefüttert, die ihn nicht gebrütet haben? Es ist mir als hätte ich dergleichen gehört.«

»Es ist so.« antwortete ich. »Sobald der junge Kuckuck sein niederes Nest verlassen und seinen Sitz etwa in dein Gipfel einer hohen Eiche genommen hat, läßt er einen lauten Ton hören, welcher sagt, daß er da sei. Nun kommen alle kleinen Vögel der Nachbarschaft, die ihn gehört haben, herbei, um ihn zu begrüßen. Es kommt die Grasmücke, es kommt der Mönch, die gelbe Bachstelze fliegt hinauf, ja der Zaunkönig, dessen Naturell es ist, beständig in niedern Hecken und dichten Gebüschen zu schlüpfen, überwindet seine Natur und erhebt sich dem geliebten Ankömmling entgegen zum Gipfel der hohen Eiche. Das Paar aber, das ihn erzogen hat, ist mit dem Füttern treuer, während die übrigen nur gelegentlich mit einem guten Bissen herzufliegen.«

»Es scheint also.« sagte Goethe, »zwischen dem jungen Kuckuck und den kleinen Insektenvögeln eine große Liebe zu bestehen.«

»Die Liebe der kleinen Insektenvögel zum jungen Kuckuck,« erwiederte ich, »ist so groß, daß wenn man einem Neste nahe kommt, in welchem ein junger Kuckuck gehegt wird, die kleinen Pflegeeltern vor Schreck und Furcht und Sorge nicht wissen wie sie sich gebärden sollen. Besonders der Mönch drückt eine große Verzweiflung aus, sodaß er fast wie in Krämpfen am Boden flattert.«»Merkwürdig genug,« erwiederte Goethe, »aber es läßt sich denken. Allein etwas sehr problematisch erscheint mir, daß z.B. ein Grasmückenpaar, das im Begriff ist eigenen Eier zu brüten, dem alten Kuckuck erlaubt, ihrem Neste nahe zu kommen und sein Ei hineinzulegen.«

»Das ist freilich sehr räthselhaft,« erwiederte ich; »doch nicht so ganz. Denn eben dadurch, daß alle kleinen Insektenvögel den ausgeflogenen Kuckuck füttern, und daß ihn also auch die füttern, die ihn nicht gebrütet haben, dadurch entsteht und erhält sich zwischen beiden eine Art Verwandtschaft, sodaß sie sich fortwährend kennen und als Glieder einer einzigen großen Familie betrachten. Ja es kann sogar kommen, daß derselbige Kuckuck, den ein paar Grasmücken im vorigen Jahre ausgebrütet und erzogen haben, ihnen in diesem Jahre sein Ei bringt.«

»Das läßt sich allerdings hören,« erwiederte Goethe, »so wenig man es auch begreift. Ein Wunder aber bleibt es mir immer, daß der junge Kuckuck auch von solchen Vögeln gefüttert wird, die ihn nicht gebrütet und erzogen.«»Es ist freilich ein Wunder,« erwiederte ich; »doch giebt es wohl etwas Analoges. Ja ich ahne in dieser Richtung sogar ein großes Gesetz, das tief durch die ganze Natur geht.

Ich hatte einen jungen Hänfling gefangen, der schon zu groß war, um sich von Menschen füttern zu lassen, aber noch zu jung, um allein zu fressen. Ich gab mir mit ihm einen halben Tag viel Mühe; da er aber durchaus nichts annehmen wollte, so setzte ich ihn zu einem alten Hänfling hinein, einem guten Sänger, den ich schon seit Jahr und Tag im Käfig gehabt und der außen vor meinem Fenster hing. Ich dachte: wenn der Junge sieht wie der Alte frißt, so wird er vielleicht auch ans Futter gehen und es ihm nachmachen. Er that aber nicht so, sondern eröffnete seinen Schnabel gegen den Alten und bewegte mit bittenden Tönen die Flügel gegen ihn, worauf denn der alte Hänfling sich seiner sogleich erbarmte und ihn als Kind annahm und ihn fütterte, als wäre es sein eigenes.

Ferner brachte man mir eine graue Grasmücke und drei Junge, die ich zusammen in einen großen Käfig that, und die die Alte fütterte. Am andern Tage brachte man mir zwei bereits ausgeflogene junge Nachtigallen, die ich auch zu der Grasmücke that und die von ihr gleichfalls adoptirt und gefüttert wurden. Darauf nach einigen Tagen setzte ich noch ein Nest mit beinahe flüggen jungen Müllerchen hinein, und ferner noch ein Nest mit fünf jungen Plattmönchen. Diese alle nahm die Grasmücke an und fütterte sie und sorgte für sie als treue Mutter. Sie hatte immer den Schnabel voll Ameiseneier und war bald in der einen Ecke des geräumigen Käfigs und bald in der andern, und wo nur immer eine hungrige Kehle sich öffnete, da war sie da. Ja noch mehr! Auch das eine indeß herangewachsene Junge der Grasmücke fing an einige der Kleineren zu füttern, zwar noch spielend und etwas kinderhaft, aber doch schon mit entschiedenem Triebe, es der trefflichen Mutter nachzuthun.«

»Da stehen wir allerdings vor etwas Göttlichem,« sagte Goethe, »das mich in ein freudiges Erstaunen setzt. Wäre es wirklich daß dieses Füttern eines Fremden als etwas Allgemein-Gesetzliches durch die Natur ginge, so wäre damit manches Räthsel gelöst, und man könnte mit Überzeugung sagen, daß Gott sich der verwaisten jungen Raben erbarme, die ihn anrufen.«

»Etwas Allgemein-Gesetzliches,« erwiederte ich, »scheint es allerdings zu sein; denn ich habe auch im milden Zustande dieses hilfreiche Füttern und dieses Erbarmen gegen Verlassene beobachtet.

Ich hatte im vorigen Sommer in der Nähe von Tiefurt zwei junge Zaunkönige gefangen, die wahrscheinlich erst gang kürzlich ihr Nest verlassen hatten, denn sie saßen in einem Busch auf einem Zweige nebst sieben Geschwistern in einer Reihe und ließen sich von ihren Alten füttern. Ich nahm die jungen Vögel in mein seidenes Taschentuch und ging in der Richtung nach Weimar bis ans Schießhaus, dann rechts nach der Wiese an der Ilm hinunter und an dem Badeplatz vorüber, und dann wieder links in das kleine Gehölz. Hier, dachte ich, hast du Ruhe, um einmal nach deinen Zaunkönigen zu sehen. Als ich aber das Tuch öffnete, entschlüpften sie mir beide und waren sogleich im Gebüsch und Grase verschwunden, sodaß mein Suchen nach ihnen vergebens war. Am dritten Tage kam ich zufällig wieder an dieselbige Stelle, und da ich die Locktöne eines Rothkehlchen hörte, so vermuthete ich ein Nest in der Nähe, welches ich nach einigem Umherspähen auch wirklich fand. Wie groß war aber mein Erstaunen, als ich in diesem Nest neben beinahe flüggen jungen Rothkehlchen auch meine beiden jungen Zaunkönige fand, die sich hier ganz gemüthlich untergethan hatten und sich von den alten Rothkehlchen füttern ließen. Ich war im hohen Grade glücklich über diesen höchst merkwürdigen Fund. Da ihr so klug seid, dachte ich bei mir selber, und euch so hübsch habt zu helfen gewußt, und da auch die guten Rothkehlchen sich euerer so hilfreich angenommen, so bin ich weit entfernt so gastfreundliche Verhältnisse zu stören, im Gegentheil wünsche ich euch das allerbeste Gedeihen.«

»Das ist eine der besten ornithologischen Geschichten, die mir je zu Ohren gekommen,« sagte Goethe. »Stoßen Sie an, Sie sollen leben, und Ihre glücklichen Beobachtungen mit! Wer das hört und nicht an Gott glaubt, dem helfen nicht Moses und die Propheten. Das ist es nun, was ich die Allgegenwart Gottes nenne, der einen Theil seiner unendlichen Liebe überall und eingepflanzt hat und schon im Thiere dasjenige als Knospe andeutet, was im edeln Menschen zur schönsten Blüthe kommt. Fahren Sie ja in Ihren Studien und Ihren Beobachtungen fort! Sie scheinen darin ein besonderes Glück zu haben und können noch ferner zu ganz unschätzbaren Resultaten kommen.«

Indeß wir nun so an unserm Tische in freier Natur uns über gute und tiefe Dinge unterhielten, neigte sich die Sonne den Gipfeln der westlichen Hügel zu, und Goethe fand es an der Zeit, unsern Rückweg anzutreten. Wir fuhren rasch durch Jena, und nachdem wir im Bären bezahlt und noch einen kurzen Besuch bei Frommann's gemacht, ging es im scharfen Trabe nach Weimar.



1827, 18. October. 
Abendgesellschaft bei Goethe

Hegel ist hier, den Goethe persönlich sehr hoch schätzt, wenn auch einige seiner Philosophie entsprossenen Früchte ihm nicht sonderlich munden wollen. Goethe gab ihm zu Ehren diesen Abend einen Thee, wobei auch Zelter gegenwärtig, der aber noch diese Nacht wieder abzureisen im Sinne hatte.

Man sprach sehr viel über Hamann, wobei besonders Hegel das Wort führte und über jenen außerordentlichen Geist so gründliche Ansichten entwickelte, wie sie nur aus dem ernstesten und gewissenhaftesten Studium des Gegenstandes hervorgehen konnten.

Sodann wendete sich das Gespräch auf das Wesen der Dialektik. »Es ist im Grunde nichts weiter,« sagte Hegel, »als der geregelte, methodisch ausgebildete Widerspruchsgeist, der jedem Menschen inwohnt, und welche Gabe sich groß erweist in Unterscheidung des wahren vom Falschen.«

»Wenn nur,« fiel Goethe ein, »solche geistige Künste und Gewandtheilen nicht häufig gemißbraucht und dazu verwendet würden, um das Falsche wahr und das Wahre falsch zu machen!«

»Dergleichen geschieht wohl,« erwiederte Hegel; »aber nur von Leuten, die geistig krank sind.«

»Da lobe ich mir,« sagte Goethe, »das Studium der Natur, das eine solche Krankheit nicht aufkommen läßt! Denn hier haben wir es mit dem unendlich und ewig Wahren zu thun, das jeden, der nicht durchaus rein und ehrlich bei Beobachtung und Behandlung seines Gegenstandes verfährt, sogleich als unzulänglich verwirft. Auch bin ich gewiß, daß mancher dialektisch Kranke im Studium der Natur eine wohlthätige Heilung finden könnte.«Wir waren noch im besten Gespräch und in der heitersten Unterhaltung, als Zelter aufstand und, ohne ein Wort zu sagen, hinausging. Wir wußten, es that ihm leid von Goethen Abschied zu nehmen, und daß er diesen zarten Ausweg wähle, um über einen schmerzlichen Moment hinwegzukommen.




1827, October. 
Mit Johann Andreas Stumpff 


Als ich Goethe im October des Jahres 1827 einen zweiten Besuch abzustatten die Ehre hatte, so empfing er mich als einen Freund und sagte mir, daß es ihm sehr angenehm sein würde, wenn ich ihn jeden Abend besuchen wolle, so lange ich in Weimar verharren würde. Dies war mir sehr erwünscht; ich mußte ihm viel von London, besonders von den dort lebenden Künstlern, Bildhauern und Malern erzählen und die Namen der vorzüglichsten nennen, welche er sich notirte. Unter anderem fragte mich Goethe: »Womit beschäftigen Sie sich denn in Ihren Erholungsstunden in London?« Über diese Frage war ich etwas verlegen, doch ich antwortete rasch: Dann reite ich mein Steckenpferd. Goethe schien verwundert über meine Antwort und fragte: »Darf man wohl wissen, was das Ihrige ist?« Ich bat um die Erlaubniß bemerken zu dürfen, daß man in keinem Lande der Welt mehr darauf bedacht sei mit Maschinen zu arbeiten, als in England, und daß diejenigen, die sich solche anschaffen und im Gange erhalten könnten, sich große Reichthümer erwerben könnten; ich habe mir deshalb, da Tausende darauf bedacht sind, auf diese Art ihr Glück zu machen, und da ich deshalb fast nichts als Maschinen vor Augen sehe, vor kurzem die Dampfmaschine zum Gegenstand eines Gedichts ›Der Kampf der Elemente‹ gemacht. Goethe schien erstaunt zu sein und wünschte diesen poetischen Versuch zu sehen. Ich überreichte denselben am folgenden den Tage. Goethe ersuchte mich, das Gedicht selbst zu lesen; er stand neben mir ganz aufrecht, mit voller Aufmerksamkeit zuhorchend, ich las daher ohne Furcht und hob die kräftigsten Stellen hervor, Goethe klopfte mich mehrere Male auf den Arm und sagte: »Gut, gut! Das ist brav! Haben Sie die Güte mir das Gedicht zu lassen;« und fügte hinzu: »Haben Sie mehr solche Verse geschrieben?« O ja, Excellenz! – antwortete ich – aber ich habe sie niemandem gezeigt aus Furcht, man möchte darüber spötteln. »Nein, mein Freund!« sagte Goethe; »schicken Sie mir Ihre Versuche zu; es liegt ein unbebautes Feld in Ihrer Brust, und es ist Pflicht, solches zu bebauen.-Da ich Sie, mein werther Landsmann, in den Zirkel meiner Freunde aufgenommen, so werde ich Ihnen einen Maler auf den Hals schicken und Ihr Bild meinem Stammbuch einverleiben, welches aus den Portraits meiner Freunde zusammengesetzt ist, die ich nicht selten mustere, um so im Geiste alle, die mir auf Erden schätzbar waren, die Dahingeschiedenen und die durch große Entfernungen Getrennten, zu sehen.«1

1 Von Stumpff's in Nr. 5 des »Chaos« von 1831 abgedrucktem Gedicht »Der Kampf der Elemente« hat Goethe die Zeilen 4, 10, 19, 20 und 27 abgeändert.




1827, 2. (?) November. 
Mit Alfred Nicolovius


Als ich – schreibt er [Nicolovius] darüber im April 1881 an den Herausgeber dieses Bandes [v. Loeper] – Goethe persönlich diesen Beleg, [wonach das in Goethe's Werken stehende Gedicht von J. G. Jacobi war] vorlegte, schlug er das Gedicht in seinen Werken auf, ergriff ein Lineal und eine Feder und strich es mit einem beinahe feierlichen »Suum cuique« aus.


1827, 18. November.
 Mit Gustav Stickel 


Es war damals Brauch, daß die an der Universität sich Habilitirenden ihre Inauguraldissertation den Herren Ministern in Weimar persönlich überreichten. So that ich es auch mit der meinigen über die erhabene Theophanie, den hochfliegenden Hymnus in Habakuks drittem Capitel. Ein Brief von Knebel an Goethe begleitete mich. Auf meine Anmeldung brachte der Bediente die Antwort, Se. Excellenz sei mit seiner mineralogischen Sammlung beschäftigt. Ich gab meinen Brief, den ich eigenhändig abzugeben gedacht hatte, an den Diener ab und wurde nun zu Goethe hinauf beschieden ..... Da öffnete sich die Thür und der Dichterfürst trat in ruhiger Würde herein. Eine geborene Majestät, wenn auch nicht von so hoher Gestalt, wie sie sich von dem geistig Großen meine jugendliche Phantasie gebildet hatte. Unwillkürlich verneigte ich mich so tief, wie sonst noch vor keinem Sterblichen; eine innere Gewalt beugte mich nieder.

Nachdem Goethe mich auf dem Sopha neben sich hatte niedersetzen lassen, knüpfte er eine Unterhaltung an, aus der mir nur erinnerlich ist, daß ich meiner Besorgniß Ausdruck gab wegen der damaligen Zeitströmung und der Tendenzen in der theologischen Welt. Es begann die Reaction gegen den herrschenden Rationalismus. Man hatte in Halle die Vorlesungen von Gesenius und Wegscheider behorchen lassen, auf Grund von Studentischen Collegienheften wurden die beiden zu amtlicher Verantwortung gezogen, und die Gefahr, daß sie vom akademischen Lehrstuhl verdrängt werden sollten, schien so bedrohlich, daß in Jena Schott und Baumgarten-Crusius, wenn ich nicht irre, von Berlin aus Schleiermacher und noch andere Professoren von anderwärts zum Schutz und zur Vertheidigung einer freiern Theologie in Brochuren sich Vernehmen ließen. Unter dem Eindruck solcher Vorgänge waren mir jene Besorgnisse auf die Lippen gekommen. – »Lassen Sie das gut sein!« hob Goethe an; »Der Mensch, der einer guten Sache dient, wohnt in einer festen Burg.«

Hiernach erzählte er von dem Religionsunterricht, den er in seiner Jugend erhalten habe in den starren dogmatischen Formeln, die keinem guten Kopf zusagen und befriedigen konnten. »Da habe ich« – fügte er hinzu – »erst gar manche Schale brechen müssen, bis ich zum Kern durchgedrungen bin.« – Als er mich dann entließ, lud er mich ein, künftig bei meiner Anwesenheit in Weimar in seinem »Hause einzusprechen.«




1827. 
Mit Johann Karl Bertram Stüve u.a.


Als mich [F. J. Frommann] 1827 mein Universitätsfreund Stüve, damals noch Advocat in Osnabrück, besucht hatte, begleitete ich ihn bei seiner Rückreise bis Weimar und frug Vormittag bei Goethe an, wann ich mit ihm kommen dürfte. Er bestellte uns um 3 Uhr. Da fanden wir ihn im langen Zimmer, vor dessen Thüre Salve eingelegt ist, am Tische, auf dem die Weinflasche und Gläser standen. Er schenkte ein und fing nun an zu fragen (denn Osnabrück interessirte ihn, weil er es ja aus Möser kannte) nach der Stadtverfassung, Handel und Gewerben, bäuerlichen Verhältnissen, Ackerbau, Geognosie u.s.w. Je prompter und bündiger nun auf alles die Antworten des jungen Mannes erfolgten, desto eifriger frug der alte Herr drauflos. Es war eine Lust, die beiden zu hören und anzusehen, wie sie sich gegenübersaßen. Endlich kam er wieder auf den Anfang zurück und sagte: »Also Sie sind Advocat, d.h. einer der aus jeder Sache etwas zu machen weiß?« – »Entschuldigen Excellenz –« – »Recht so! ein Advocat darf nie etwas zugeben.«




1827. 
Mit Friedrich Förster nebst Familie u.a.


Ich fand Goethe an den Augen leidend; er trug bei Tage einen Schirm von grüner Seide, um sich gegen blendendes Sonnenlicht zu schützen, was die Weinranken im kleinen Garten an seinem Hause in der Stadt nur spärlich durch die kleinen Fensterscheiben seines Arbeitszimmers einfallen ließen. Am Abend schützte er sich gegen das Lampenlicht durch einen vorgesetzten Schirm. Er zeigte uns einige Schirme, welche kunstgeübte Hände der Freundinnen nach den von ihm getuschten Zeichnungen in dunkles Pergament radirt hatten. Es waren Mondscheinlandschaften, und er war so gütig, meiner Frau, welche ihm durch Vortrag mehrerer seiner, von Zelter neuerdings componirten Lieder die Abende verkürzte, zwei von ihm getuschte Landschaften griechischer Tempel bei Mondbeleuchtung zu schenken. Von jenen Compositionen gefielen ihm zumeist zwei Lieder: »Ich ging im Walde so für mich hin« und »Um Mitternacht ging ich nicht eben gerne.« Als meine Frau das erste Lied unter der, in Zelter's Liederhefte befindlichen Überschrift »Auch mein Sinn« citirte, erklärte Goethe: er erinnere sich keines seiner Gedichte mit dieser Überschrift. Als er darauf in dem gedruckten Hefte sein Lied fand, bemerkte er lachend: »Da hat mein guter Zelter, wie er es öfter gethan, mein Lied umgetauft; der ihm von mir gegebene Name heißt: ›Gefunden.‹«

Bei diesem Besuche stellte ich Goethen meinen Pflegesohn, den zu der Zeit für ein musikalisches Wunderkind geltenden, sieben Jahr alten Karl Eckert vor, der sich später als Liedercomponist, als Begleiter der Gräfin Sonntag-Rossi, als Director der kaiserlichen Oper in Wien und als Hofkapellmeister in Stuttgart einen ehrenvollen Ruf erworben hat. Der Knabe, welcher bereits in seinem fünften Jahre freie Phantasien auf dem Flügel spielte, hatte den »Erlkönig« componirt, und meine Frau sang die Romanze von dem Knaben begleitet eines Nachmittags in dem bei Goethe versammelten Freundeskreise vor. Goethe belobte den Knaben, unterhielt sich eingehend mit ihm, fragte ihn, ob er andere Compositionen kenne und welche ihm vorzüglich gefalle. Damals war die geniale, weltberühmte Composition Schubert's noch nicht vorhanden.1 Mein kleiner Componist sagte: er kenne nur die Compositionen von Reichardt und Leonhard Klein, die ihm aber nicht gefallen wollten, weil sie den Erlkönig so sehr graulich singen ließen. Wenn, meinte er, der Erlkönig so tief brumme, dann würde der Knabe sich fürchten; der Erlkönig müsse den Knaben durch seinen Gesang zu verlocken suchen. Goethe äußerte sich hiermit einverstanden und sagte zu Hummel, welcher dem Knaben mit Aufmerksamkeit und Theilnahme zugehört hatte: »Meinen Sie nicht, lieber Hummel, daß der Knabe das Richtige getroffen hat?« Der Kapellmeister sprach sich zustimmend aus, wie er sich überhaupt liebevoll und anerkennend über das Talent des jungen Componisten äußerte. »Wir müssen schon zugeben, daß der Knabe das Richtige getroffen hat,« bemerkte Goethe, und ihm freundlich die Wange streichelnd fügte er hinzu: »Du mußt ja am besten dem bei Goethe versammelten Freundeskreise vor. Goethe belobte den Knaben, unterhielt sich eingehend mit ihm, fragte ihn, ob er andere Compositionen kenne und welche ihm vorzüglich gefalle. Damals war die geniale, weltberühmte Composition Schubert's noch nicht vorhanden.1 Mein kleiner Componist sagte: er kenne nur die Compositionen von Reichardt und Leonhard Klein, die ihm aber nicht gefallen wollten, weil sie den Erlkönig so sehr graulich singen ließen. Wenn, meinte er, der Erlkönig so tief brumme, dann würde der Knabe sich fürchten; der Erlkönig müsse den Knaben durch seinen Gesang zu verlocken suchen. Goethe äußerte sich hiermit einverstanden und sagte zu Hummel, welcher dem Knaben mit Aufmerksamkeit und Theilnahme zugehört hatte: »Meinen Sie nicht, lieber Hummel, daß der Knabe das Richtige getroffen hat?« Der Kapellmeister sprach sich zustimmend aus, wie er sich überhaupt liebevoll und anerkennend über das Talent des jungen Componisten äußerte. »Wir müssen schon zugeben, daß der Knabe das Richtige getroffen hat,« bemerkte Goethe, und ihm freundlich die Wange streichelnd fügte er hinzu: »Du mußt ja am besten wissen, wie so einem Bürschchen, das der Vater zur Nachtzeit vor sich auf dem Pferde in den Armen hält, zumuthe ist, wenn der Erlkönig ihn verlockt. Außerdem aber müssen wir auch zugeben, daß der Erlkönig als ein Geisterkönig jede beliebige Stimme annehmen und nach seinem Gefallen erst sanft und einschmeichelnd, und dann wieder drohend und zornig singen kann.«

Hummel forderte den Knaben auf, mit ihm vierhändig auf dem Flügel zu phantasiren, wo sie abwechselnd Themas angaben. Goethe hörte mit lebhaftem Antheil zu, und nachdem er dem Knaben aufmunternd gesagt: er möge gute Freundschaft mit Zelter und seinem jungen Freunde Felix Mendelssohn halten, äußerte er gegen Hummel die bedeutsamen Worte: »Ursprüngliches Talent, das ist Wasser auf meine Mühle.«

1 Doch! Schon seit 1816.


1827.
Mit Johann Karl Ulrich Bähr und Otto Wagner 


Im Jahre 1827 kamen mit einem Empfehlungsschreiben von Tieck die beiden jungen Maler Bähr und Wagner auf einer Reise nach Italien begriffen nach Weimar. Zu bescheiden, um persönlich Goethe behelligen zu wollen, gedachten sie eigentlich Tieck's Schreiben, dem noch ein Päckchen beigefügt war, einfach abzugeben, wurden aber von einem jungen Manne – vielleicht Eckermann – genöthigt, sich melden zu lassen. Goethe empfing sie in seinem Gartenhaus freundlich und wandte das Gespräch gleich auf Dresdner Kunstverhältnisse; er äußerte sich günstig über die Schule Matthäi's, unter dem sich Bähr zum Geschichtsmaler gebildet hatte, und frug dann, ob es gegründet sei, daß die Sixtinische Madonna durch Palmaroli's Restaura tion verdorben worden sei. Bähr erwiederte: »Ew. Excellenz können sich darüber beruhigen; Matthäi hat schon dafür gesorgt, daß es nicht geschah.« Er setzte hierauf auseinander, wie allerdings Palmaroli's Art, die Farben tupfweise aufzusetzen, eine störende Wirkung hervorbrächte, doch habe Matthäi dieses Verfahren nicht geduldet, und wenn schon die an der Madonna erneuerten Stellen erkennbar seien, so seien sie doch nicht häßlich, wie es die vorher in dem Gemälde befindlichen schwarzen Flecken gewesen.

Beim Abschied war Bähr so bewegt, daß er die ihm gereichte Hand Goethes küßte. Dieser legte dann seine Hände den Künstlern auf's Haupt, sie zur Reise segnend.


1827. 
Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Der Geist des Wirklichen ist das wahre Ideelle.«


1827 (?).
Mit Jenny von Pappenheim

Dann [nach 1826] verging ein Jahr, wo ich Goethe nur bei seinen Abendgesellschaften und zu seiner Geburtstagsfeier sah; er hat mir jungem Ding aber immer so imponirt, daß ich vor ihm eigentlich nie ich selbst war, sondern eine Seele, die mit aus der Brust gekreuzten Armen zu ihm emporsah. Ich hielt den Athem an, wenn ich ihn sprechen hörte und glaubte vergehen zu müssen vor Scham, als er meine Mutter einmal frug: ›Was treibt denn eigentlich die schöne Kleine?‹ Meine Richtigkeit drückte mich von da an so sehr, daß ich manche Stunde der Nacht wachend zubrachte, alle Bücher, deren ich habhaft werden konnte, ummich herum. Einst, an einem Sonntag, kam ich aus der Kirche. Ottilie [v. Goethe] war nicht in ihrer Stube; ich hatte mein Püppchen [Alma v. Goethe] und spielte mit ihm. Plötzlich trat ein junger Mann herein, sah uns betroffen an, wirbelte seltsam im Zimmer umher, sodaß ich ganz ängstlich wurde. Als Ottilie auf mein Rufen er schien, entpuppte er sich als junger Engländer, namens Thistelswaite, der an Goethe empfohlen war, und den er heraufgeschickt hatte. Er frug nach ihm, und Ottilie erzählte von seinem auffälligen Benehmen, worauf Goethe lächelnd sagte: ›Wer so schöne Freundinnen hat, muß für Schleier sorgen?‹


Vor 1828. 
Weinprobe 


Er... war im Punkte des Weinverstandes ein ungewöhnlich feiner Kenner. Eine glänzende Probe hiervon legte er bei einem Diner ab, zu welchem der Großherzog Karl August einen kleinen Kreis um sich versammelt hatte. Beim Nachtisch, nachdem schon mehrere gute Sorten geprüft worden waren, bat der Hofmarschall von Spiegel den Großherzog um die Erlaubniß, einen Wein ohne Namen auftragen zu lassen. Ein Rothwein wurde herumgereicht, gekostet und recht gut befunden. Mehrere der Herren von der Tafelrunde erklärten ihn für Burgunder, nur war man über die specielle Sorte dieses edlen Gewächses nicht einig. Da aber bewährte Weinzungen, darunter die des Großherzogs, die Diagnose auf Burgunder gestellt hatten, so wurde die selbe einstimmig angenommen. Nur Goethe kostete, und kostete wieder, schüttelte das Haupt und setzte das geleerte Glas nachdenklich auf den Tisch. ›Excellenz scheinen anderer Ansicht zu sein; sagte der Hofmarschall; ;darf ich fragen, welchen Namen Sie dem Weine geben?‹ »Der Wein ist mir durchaus unbekannt,« erwiederte Goethe, »aber für Burgunder halte ich ihn nicht. Eher sollte ich meinen, es sei ein gut gelesener Jenenser, der einezeitlang auf einem Madeirafaß gelegen hat.« ›Und so ist es inderthat,‹ bestätigte der Hofmarschall.

1827 oder 1828. 
Mit Friedrich von Müller u.a.

Nach Tische traf ich bei Goethe Professor Heinroth von Leipzig, Frommann, Vogel, Riemer und Zahn, der zugleich Abschied nahm. Nach kurzer Frist fuhr ich mit Goethe spazieren, gegen Süßenborn zu. Ich unterhielt ihn von Carlyle's Aufsatz über den Character seiner Schriften. Er erzählte wie er diesem wackern Mann kürzlich ein »Schwänchen« überschickt, nämlich seine Taschenausgabe, den Faust, die Medaille, Kupferstich, eine eiserne Busennadel für die Frau etc. Diese Art Menschen, sagte er, wie wir auch an Bracebridges [in Bracebridge-Hall von W. Irving] sehen, führen ein viel innigeres, zusammengenommeneres Leben, als wir in unserer Zerstreu ung; sie sind wie mitten im Weltmeere auf einem engen Kahn vereint, unbekümmert um das Getobe und Gebrause um sie her.

Von Bonstetten hatte Goethe kürzlich einen herzlichen Brief bekommen, den er mir zu zeigen versprach.

Als wir bei einem neuen Gebäude vorüber fuhren, das ihm mißfiel, äußerte er: »Meine Lehre ist von jeher diese: Fehler kann man begehen, wie man will, nur baue man sie nicht auf. Kein Beichtvater kann von solchen Bausünden jemals absolviren.«

Ein Student aus Berlin, nach Paris reisend, war bei ihm diesen Nachmittag eingesprochen und sofort angenommen worden. »Ich sehe solche Leute gern, man thut dabei einen Blick in die weite Welt hinaus und hat die behagliche Empfindung, nicht selbst reisen zu müssen.«

Darauf Manzoni's gedenkend: »Wäre ich jünger, so hätte ich sogleich die Sposi promessi à la Cellini bearbeitet. Beim Übersetzen muß man sich nur ja nicht in unmittelbaren Kampf mit der fremden Sprache einlassen. Man muß bis an das Unüber setzbare herangehen und dieses respectiren; denn darin liegt eben der Werth und der Character einer jeden Sprache.«

Und als ich ihm von Graf Reinhard's Reise nach Norwegen erzählte, rief er aus: »Welche Verwegenheit für einen Mann seines Alters! Doch was einer ausführen kann, das darf er auch unternehmen.«

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