Jugendepoche
Es ist wohl nicht leicht ein Kind, ein Jüngling von einigem Geist, dem es nicht von Zeit zu Zeit einfiele, nach dem Woher, Wie und Warum derjenigen Gegenstände zu fragen, die man gewahr wird; und in mir lag entschieden und anhaltend das Bedürfnis, nach den Maximen zu forschen, aus welchen ein Kunst- oder Naturwerk, irgendeine Handlung oder Begebenheit herzuleiten sein möchte. Dieses Bedürfnis fühlte ich freilich nicht in der Deutlichkeit, wie ich es gegenwärtig ausspreche, aber je unbewußter ich mir bei einer solchen Richtung war, desto ernstlicher, leidenschaftlicher, unruhiger, emsiger ging ich dabei zu Werke; und weil ich nirgends eine Anleitung fand, die mich auf meiner Bildungsstufe bequem gefördert hätte, so machte ich den Weg unzähligemal vor- und rückwärts, wie es uns in einem künstlichen Labyrinth oder in einer natürlichen Wildnis wohl begegnen mag.
Das, was ich hier Maxime nenne, nannte man damals Gesetze und glaubte wohl, daß man sie geben könne, anstatt daß man sie hätte aufsuchen sollen.
Die Gesetze, wonach Theaterstücke zu schreiben und zu beurteilen seien, glaubte ich mir ziemlich eigen gemacht zu haben und durfte mir es bei der Bequemlichkeit wohl einbilden, womit ich jede kleinere und größere Begebenheit in einen theatralischen Plan zu verwandeln wußte. Mit dem Roman war ich ungefähr zu derselbigen Fertigkeit gelangt; ich erzählte sehr leicht und bequem alle Märchen, Novellen, Gespenster- und Wundergeschichten und wußte manche Vorfälle des Lebens aus dem Stegreife in einer solchen Form darzustellen. Ich hatte mir auch darüber eine Norm gemacht, die von der theatralischen wenig abwich. Was das Urteil betraf, so reichten meine Einsichten ziemlich hin; daher mir denn alles Poetische und Rhetorische angenehm und erfreulich schien. Die Weltgeschichte hingegen, der ich gar nichts abgewinnen konnte, wollte mir im ganzen nicht zu Sinne. Noch mehr aber quälte midi das Leben selbst, wo mir eine Magnetnadel gänzlich fehlte, die mir umso nötiger gewesen wäre, da ich jederzeit bei einigermaßen günstigem Winde mit vollen Segeln fuhr und also jeden Augenblick zu stranden Gefahr lief. Wie viel Trauriges, Ängstliches, Verdrießliches war mir schon begegnet; wie ich einigermaßen aufmerksam umherschaute, so fand ich mich keinen Tag vor ähnlichen Ereignissen und Erfahrungen sicher. Schon mehrere Jahre her hatte mir das Glück mehr als einen trefflichen Mentor zugesandt, und doch, je mehr ich ihrer kennen lernte, desto weniger gelangte ich zu dem, was ich eigentlich suchte. Der eine setzte die Hauptmaxime des Lebens in die Gutmütigkeit und Zartheit, der andre in eine gewisse Gewandtheit, der dritte in Gleichgültigkeit und Leichtsinn, der vierte in Frömmigkeit, der fünfte in Fleiß und pflichtmäßige Tätigkeit, der folgende in eine imperturbable Heiterkeit, und immer so fort, so daß ich vor meinem zwanzigsten Jahre fast die Schulen sämtlicher Moralphilosophen durchlaufen hatte. Diese Lehren widersprachen einander öfter, als daß sie sich untereinander hätten ausgleichen lassen. Durchaus aber war immer von einer gewissen Mäßigkeit die Rede, von der ich meinem Naturell nach am wenigsten begriff und wo von man überhaupt in der Jugend — weil Mäßigkeit, wenn sie nicht angeboren ist, das klarste Bewußtsein fordert — nichts begreifen kann und bei allem Bestreben darnach nur desto unmäßigere, ungeschicktere Streiche macht. Alle diese Gedanken und Denkweisen waren aber nun einmal bei mir aufgeregt, und wenn das Jünglingsleben auch noch so heiter, frei und lebhaft hinschritt, so ward man doch oft genug an jene wünschenswerte und unbekannte Norm erinnert. Je freier und ungebundener ich lebte und je froher ich mich gegen meine Gesellen und mit meinen Gesellen äußerte, wurde ich doch sehr bald gewahr, daß uns die Umgebungen, wir mögen uns stellen, wie wir wollen, immer beschränken, und ich fiel daher auf den Gedanken, es sei das beste, uns wenigstens innerlich unabhängig zu machen.
Spätere Zeit
Ich habe niemals einen präsumtuoseren Menschen gekannt
als midi selbst, und daß ich das sage, zeigt schon, daß wahr
ist, was ich sage.
Niemals glaubte ich, daß etwas zu erreichen wäre, immer
dacht ich, ich hätt es schon. Man hätte mir eine Krone aufsetzen können, und ich hätte gedacht, das verstehe sich von
selbst. Und doch war ich gerade dadurch nur ein Mensch
wie andere. Aber daß ich das über meine Kräfte Ergriffene
durchzuarbeiten, das über mein Verdienst Erhaltene zu verdienen suchte, dadurch unterschied ich mich bloß von einem
wahrhaft Wahnsinnigen.
Erst war ich den Menschen unbequem durch meinen Irrtum,
dann durch meinen Ernst. Ich mochte mich stellen, wie ich wollte, so war ich allein.
Die Vernunft in uns wäre eine große Macht, wenn sie nur wüßte, wen sie zu bekämpfen hätte. Die Natur in uns nimmt
immerfort eine neue Gestalt an, und jede neue Gestalt wird
ein unerwarteter Feind für die gute, sich immer gleiche Vernunft.
Gelassen beobachtende Freunde pflegen gemeiniglich die genialischen Nachtwandler unsanft mitunter aufzuwecken
durch Bemerkungen, die gerade das innerste mystische Leben
solcher begünstigten oder, wenn man will, bevorteilten Naturkinder aufheben und zerstören. In meiner besten Zeit sagten mir öfters Freunde, die mich freilich kennen mußten: was ich lebte sei besser als was ich spreche, dieses besser als was ich schreibe und das Geschriebene besser als das Gedruckte.
Durch solche wohlgemeinte, ja schmeichelhafte Reden bewirkten sie jedoch nichts Gutes, denn sie vermehrten dadurch
die in mir ohnehin obwaltende Verachtung des Augenblicks,
und es ward eine nicht zu überwindende Gewohnheit, das, was gesprochen und geschrieben ward, zu vernachlässigen
und manches, was der Aufbewahrung wohl wert gewesen
wäre, gleichgültig dahin fahren zu lassen.
Ich war mir edler, großer Zwecke bewußt, konnte aber niemals die Bedingungen begreifen, unter denen ich wirkte; was mir mangelte, merkt ich wohl, was an mir zuviel sei gleichfalls; deshalb unterließ ich nicht, mich zu bilden, nach
außen und von innen. Und doch blieb es beim alten. Ich verfolgte jeden Zweck mit Ernst, Gewalt und Treue; dabei gelang mir oft, widerspenstige Bedingungen vollkommen zu
überwinden, oft aber auch scheiterte ich daran, weil ich nachgeben und umgehen nicht lernen konnte. Und so ging mein
Leben hin unter Tun und Genießen, Leiden und Widerstreben, unter Liebe, Zufriedenheit, Haß und Mißfallen anderer. Hieran spiegele sich, dem das gleiche Schicksal geworden.
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Autobiografisches: Testamente, Reden, Persönlichkeiten
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