1803
Ein großer, jedoch leider schon vorausgesehener Verlust betraf uns am Ende des Jahres: Herder verließ uns, nachdem
er lange gesiecht hatte. Schon drei Jahre hatte ich mich von
ihm zurückgezogen, denn mit seiner Krankheit vermehrte
sich sein mißwollender Widerspruchsgeist und überdüsterte
seine unschätzbare einzige Liebensfähigkeit und Liebenswürdigkeit. Man kam nicht zu ihm, ohne sich seiner Milde zu erfreuen; man ging nicht von ihm, ohne verletzt zu sein.
Wie leicht ist es, irgend jemand zu kränken oder zu betrüben, wenn man ihn in heiteren, offenen Augenblicken an eigene
Mängel, an die Mängel seiner Gattin, seiner Kinder, seiner Zustände, seiner Wohnung mit einem scharfen, treffenden,
geistreichen Wort erinnert! Dies war ein Fehler früherer
Zeit, dem er aber nachhing und der zuletzt jedermann von
ihm entfremdete.
Fehler der Jugend sind erträglich, denn man betrachtet sie als Übergänge, als die Säure einer unreifen Frucht; am Alter bringen sie zur Verzweiflung.
Sonderbar genug sollte ich kurz vor seinem Ende ein Resume
unserer vieljährigen Freuden und Leiden, unserer Übereinstimmung so wie des störenden Mißverhältnisses erleben.
Herder hatte sich nach der Vorstellung von ,Eugenie‘, wie
ich von andern hörte, auf das günstigste darüber ausgesprochen, und er war freilich der Mann, Absicht und Leistung am gründlichsten zu unterscheiden. Mehrere Freunde wiederholten die eigensten Ausdrücke: sie waren prägnant, genau, mir höchst erfreulich; ja, ich durfte eine Wiederannäherung hoffen, wodurch mir das Stück doppelt lieb geworden
wäre.
Hierzu ergab sich die nächste Aussicht. Er war zu der Zeit,
als ich mich in Jena befand, eines Geschäfts wegen daselbst; wir wohnten im Schloß unter einem Dache und wechselten
anständige Besuche. Eines Abends fand er sich bei mir ein und begann mit Ruhe und Reinheit das Beste von gedachtem
Stück zu sagen. Indem er als Kenner entwickelte, nahm er
als Wohlwollender innigen Teil, und wie uns oft im Spiegel
ein Gemälde reizender vorkommt als beim unmittelbaren
Anschauen, so schien ich nun erst diese Produktion recht zu kennen und einsichtig selbst zu genießen. Diese innerlichste schöne Freude jedoch sollte mir nicht lange gegönnt
sein: denn er endigte mit einem zwar heiter ausgesprochenen,
aber höchst widerwärtigen Trumpf, wodurch das Ganze,
wenigstens für den Augenblick, vor dem Verstand vernichtet ward. Der Einsichtige wird die Möglichkeit begreifen, aber auch das schreckliche Gefühl nachempfinden, das mich ergriff; ich sah ihn an, erwiderte nichts, und die vielen Jahre
unseres Zusammenseins erschreckten mich in diesem Symbol
auf das fürchterlichste. So schieden wir, und ich habe ihn nicht wiedergesehen.
Goethe auf meiner Seite
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Autobiografisches: Testamente, Reden, Persönlichkeiten
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