In solchen Zuständen befand ich mich, als der vieljährig geprüfte Freund Jacobi auf seiner Rückreise aus dem nördlichen Deutschland bei mir einsprach und mehrere Tage verweilte. Schon die Anmeldung hatte mich höchlich erfreut, seine Ankunft machte mich glücklich: Neigung, Liebe, Freundschaft, Teilnahme, alles war lebendig wie sonst. Nur in der Folge der Unterhaltung tat sich ein wunderlicher Zwiespalt
hervor.
Mit Schiller, dessen Charakter und Wesen dem meinigen völlig entgegenstand, hatte ich mehrere Jahre ununterbrochen
gelebt, und unser wechselseitiger Einfluß hatte dergestalt gewirkt, daß wir uns auch da verstanden, wo wir nicht einig waren. Jeder hielt alsdann fest an seiner Persönlichkeit, so lange bis wir uns wieder gemeinschaftlich zu irgendeinem
Denken und Tun vereinigen konnten. Bei Jacobi fand ich gerade das Gegenteil. Wir hatten uns in vielen Jahren nicht gesehen; alles, was wir erfahren, getan und gelitten, hatte
jeder in sich selbst verarbeitet. Als wir uns wiederfanden,
zeigte sich das unbedingte liebevolle Vertrauen in seiner ganzen Klarheit und Reinheit, belebte den Glauben an vollkommene Teilnahme so wie durch Gesinnung, also auch durch Denken und Dichten. Allein es erschien bald anders: wir liebten uns, ohne uns zu verstehen. Nicht mehr begriff ich die Sprache seiner Philosophie. Er konnte sich in der Welt meiner
Dichtung nicht behagen. Wie sehr hätt ich gewünscht, hier
Schillern als dritten Mann zu sehen, der als Denker mit ihm,
als Dichter mit mir in Verbindung gestanden und gewiß auch da eine schöne Vereinigung vermittelt hätte, die sich zwischen
den beiden Überlebenden nicht mehr bilden konnte. In diesem
Gefühl begnügten wir uns, den alten Bund treulich und liebevoll zu bekräftigen und von unsern Überzeugungen, philosophischem und dichterischem Tun und Lassen nur im allgemeinsten wechselseitige Kenntnis zu nehmen.
Jacobi hatte den Geist im Sinne, ich die Natur; uns trennte, was uns hätte vereinigen sollen. Der erste Grund unserer
Verhältnisse blieb unerschüttert; Neigung, Liebe, Vertrauen waren beständig dieselben, aber der lebendige Anteil verlor
sich nach und nach, zuletzt völlig. Über unsere späteren Arbeiten haben wir nie ein freundliches Wort gewechselt. Sonderbar, daß Personen, die ihre Denkkraft dergestalt ausbildeten, sich über ihren wechselseitigen Zustand nicht aufzuklären vermochten, sich durch einen leicht zu hebenden
Irrtum, durch eine Spracheinseitigkeit stören, ja verwirren
ließen! Warum sagten sie nicht in Zeiten: Wer das Höchste
will, muß das Ganze wollen; wer vom Geiste handelt, muß
die Natur, wer von der Natur spricht, muß den Geist voraussetzen oder im stillen mitverstehn. Der Gedanke läßt
sich nicht vom Gedachten, der Wille nicht vom Bewegten
trennen! Hätten sie sich auf diese oder auf jede andere Weise
verständigt, so konnten sie Hand in Hand durchs Leben
gehn, anstatt daß sie nun, am Ende der Laufbahn, die getrennt zurückgelegten Wege mit Bewußtsein betrachtend, sich zwar freundlich und herzlich, aber doch mit Bedauern begrüßten.
Goethe auf meiner Seite
weiter
Autobiografisches: Testamente, Reden, Persönlichkeiten
Goethe auf meiner Seite
weiter
Autobiografisches: Testamente, Reden, Persönlichkeiten
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen