Honorio schaute gerad vor sich hin, dorthin, wo die Sonne auf ihrer Bahn sich zu senken begann. »Du schaust nach Abend,« rief die Frau; »du tust wohl daran, dort gibts viel zu tun; eile nur, säume nicht, du wirst überwinden. Aber zuerst überwinde dich selbst!« Hierauf schien er zu lächeln; die Frau stieg weiter, konnte sich aber nicht enthalten, nach dem Zurückbleibenden nochmals umzublicken; eine rötliche Sonne überschien sein Gesicht, sie glaubte nie einen schönern Jüngling gesehen zu haben.
»Wenn Euer Kind«, sagte nunmehr der Wärtel,
»flötend und singend, wie Ihr überzeugt seid, den Löwen anlocken und beruhigen kann, so werden wir
uns desselben sehr leicht bemeistern, da sich das gewaltige
Tier ganz nah an die durchbrochenen Gewölbe
hingelagert hat, durch die wir, da das Haupttor verschüttet
ist, einen Eingang in den Schloßhof gewonnen
haben. Lockt ihn das Kind hinein, so kann ich die
Öffnung mit leichte Mühe schließen, und der Knabe,
wenn es ihm gut deucht, durch eine der kleinen Wendeltreppen,
die er in der Ecke sieht, dem Tiere entschlüpfen.
Wie wollen uns verbergen; aber ich werde
mich so stellen, daß meine Kugel jeden Augenblick
dem Kinde zu Hülfe kommen kann.«
»Die Umstände sind alle nicht nötig; Gott und
Kunst, Frömmigkeit und Glück müssen das Beste
tun.« - »Es sei,« versetzte der Wärtel; »aber ich
kenne meine Pflichten. Erst führ ich Euch durch einen
beschwerlichen Stieg auf das Gemäuer hinauf, gerade
dem Eingang gegenüber, den ich erwähnt habe; das
Kind mag hinabsteigen, gleichsam in die Arena des
Schauspiels, und das besänftigte Tier dort hereinlocken!
« Das geschah; Wärtel und Mutter sahen versteckt
von oben herab, wie das Kind die Wendeltreppen
hinunter in dem klaren Hofraum sich zeigte und
in der düstern Öffnung gegenüber verschwand, aber
sogleich seinen Flötenton hören ließ, der sich nach
und nach verlor und verstummte. Die Pause war ahnungsvoll
genug; den alten, mit Gefahr bekannten Jäger beengte der seltene menschliche Fall. er sagte
sich, daß er lieber persönlich dem gefährlichen Tiere
entgegenginge; die Mutter jedoch, mit heiterem Gesicht,
übergebogen horchend, ließ nicht die mindeste
Unruhe bemerken.
Endlich hörte man die Flöte wieder; das Kind trat aus der Höhle hervor mit glänzend befriedigten Augen, der Löwe hinter ihm drein, aber langsam und, wie es schien, mit einiger Beschwerde. Er zeigte hie und da Lust, sich niederzulegen; doch der Knabe führte ihn im Halbkreise durch die wenig entblätterten, buntbelaubten Bäume, bis er sich endlich in den letzten Strahlen der sonne, die sie durch eine Ruinenlücke hereinsandte, wie verklärt niedersetzte und sein beschwichtigendes Lied abermals begann, dessen Wiederholung wir uns auch nicht entziehen können:
»Aus den Gruben, hier im Graben
Hör ich des Propheten Sang;
Engel schweben, ihn zu laben,
Wäre da dem Guten bang?
Löw und Löwin, hin und wider,
Schmiegen sich um ihn heran;
Ja, die sanften, frommen Lieder
Habens ihnen angetan!«
Indessen hatte sich der Löwe ganz knapp an das Kind hingelegt und ihm die schwere rechte Vordertatze
auf den Schoß gehoben, die der Knabe fortsingend
anmutig streichelte, aber gar bald bemerkte, daß
ein scharfer Dornzweig zwischen die Ballen eingestochen
war. Sorgfältig zog er die verletzende Spitze hervor,
nahm lächelnd sein buntseidenes Halstuch vom
Nacken und verband die greuliche Tatze des Untiers,
so daß die Mutter sich vor Freuden mit ausgestreckten
Armen zurückbog und vielleicht angewohnterweise
Beifall gerufen und geklatscht hätte, wäre sie nicht
durch einen derben Faustgriff des Wärtels erinnert
worden, daß die Gefahr nicht vorüber sei.
Glorreich sang das Kind weiter, nachdem es mit
wenigen Tönen vorgespielt hatte:
»Denn der Ewge herrscht auf Erden,
Über Meere herrscht sein Blick;
Löwen sollen Lämmer werden,
Und die Welle schwankt zurück.
Blankes Schwert erstarrt im Hiebe,
Glaub und Hoffnung sind erfüllt;
Wundertätig ist die Liebe,
Die sich im Gebet enthüllt.«
Ist es möglich zu denken, daß man in den Zügen
eines so grimmigen Geschöpfes, des Tyrannen der
Wälder, des Despoten des Tierreiches, einen Ausdruck von Freundlichkeit, von dankbarer Zufriedenheit
habe spüren können, so geschah es hier, und
wirklich sah das Kind in seiner Verklärung aus wie
ein mächtiger, siegreicher Überwinder, jener zwar
nicht wie der Überwundene, denn seine Kraft blieb in
ihm verborgen, aber doch wie der Gezähmte, wie der
dem eigenen friedlichen Willen Anheimgegebene. Das
Kind flötete und sang so weiter, nach seiner Art die
Zeilen verschränkend und neue hinzufügend:
»Und so geht mit guten Kindern
Selger Engel gern zu Rat,
Böses Wollen zu verhindern,
Zu befördern schöne Tat.
So beschwören, fest zu bannen
Liebem Sohn ans zarte Knie
Ihn, des Waldes Hochtyrannen,
Frommer Sinn und Melodie.«
Goethe auf meiner Seite
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