in der Loge Amalia zu Weimar am 15. Juni 1821
Die Betrachtung, die sich uns nur zu sehr aufdrängt: daß
der Tod alles gleich mache, ist ernst, aber traurig und ohne
Seufzer kaum auszusprechen; herzerhebend, erfreulich aber
ist es, an einen Bund zu denken, der die Lebenden gleich
macht, und zwar in dem Sinne, daß er sie zu vereintem Wirken aufruft, deshalb jeden zuerst auf sich selbst zurückweist
und sodann auf das Ganze hinleitet.
Betrachten wir also die von uns abgeschiedenen Brüder, als wenn sie noch unter uns wären! Auch sind sie noch unter
uns; denn wir haben wechselseitig aufeinander gewirkt, und
indem daraus grenzenlose Folgen sich entwickeln, deutet es auf ein ewiges Zusammensein.
Unser Bund hat viel Eigenes, wovon gegenwärtig nur das
eine herausgehoben werden mag, daß, sobald wir uns versammeln, die entschiedenste Art von Gleichheit entsteht; denn nicht nur alle Vorzüge von Rang, Stand und Alter,
Vermögen, Talenten treten zurück und verlieren sich in der
Einheit, sondern auch die Individualität muß zurücktreten. Jeder sieht sich an der ihm angewiesenen Stelle gehalten.
Dienender Bruder, Lehrling, Geselle, Meister, Beamte, alles fügt sich dem zugeteilten Platz und erwartet mit Aufopferung
die Winke des Meisters vom Stuhl: man hört keinen Titel, die notwendigen Unterscheidungszeichen der Menschen im
gemeinen Leben sind verschollen; aber auch nichts wird berührt, was dem Menschen sonst am nächsten liegt, wovon er am liebsten hört und spricht; man vernimmt nichts von
seinem Herkommen, nicht, ob er ledig oder verheiratet, Vater
oder kinderlos, zu Hause glücklich oder unglücklich sei; von
allem diesen wird nichts erwähnt, sondern jeder bescheidet
sich, in würdiger Gesellschaft, in Betracht höherer, allgemeiner Zwecke auf alles Besondere Verzicht zu tun.
Höchst bedeutend ist daher die Anstalt einer Trauerloge;
hier ist es, wo die Individualität zum ersten male hervortreten darf, hier lernen wir erst einander als einzelne kennen; hier ist es, wo das bedeutende wie das unbedeutende
Leben in seinen Eigenheiten erscheint, wo wir uns in dem
Vergangenen bespiegeln, um auf unsern gegenwärtigen lebendigen Wandel aufmerksam zu werden.
In diesem Sinne tragen wir kurze Lebensbeschreibungen von
Freunden vor, die den Abgeschiedenen mit teilnehmender
Liebe durchs Leben begleiten; und so folgen denn vorerst hier kurz zusammengefaßte Nachrichten von vier Brüdern, die wir heute betrauern; keine Betrachtung, welche wir bis ans Ende versparen, unterbreche den Vortrag.
1. Christoph Wilhelm Kästner, geboren 1783, den 17. Mai, zu Mittelhausen bei Allstedt;
sein Vater war Maurergeselle daselbst. Den ersten Unterricht empfing er in der dortigen Schule; man bemerkte bald an ihm eine leichte Fassungsgabe und viel Trieb nach höherer Kenntnis und Tätigkeit; er übte Musik und sodann nebst den alten auch die französische Sprache. Unter kümmerlichen
Umständen verbrachte er zwei Jahre auf dem Gymnasium
zu Weimar; seine Vorzüge wurden jedoch bald bemerkt;
Sitte, Höflichkeit, Dienstfertigkeit machten ihn seinen Vorgesetzten wert, ihre Empfehlungen öffneten ihm den Zutritt in einige Familien, wo er Unterricht gab, außerdem er im stillen seine Freistunden dem Studium der theoretischen Musik widmete; seine Lage verbesserte sich nach und nach,
daß er nicht allein bequemer leben, sondern auch des Vaters Häuschen und Äcker von Schulden befreien konnte. Die
Stelle eines lehrenden Seminaristen erhielt er im achtzehnten
Jahre, schlug im neunzehnten eine Schullehrmeisterstelle aus, fuhr fort, sich und andere zu bilden bis in sein vierundzwanzigstes.
Im Jahre 1807 erfuhr er die Auszeichnung, als Nichtstudierter
die damals erledigte Stelle eines Kantors an hiesiger Stadtkirche und Lehrers der sechsten Klasse des Gymnasiums zu
erhalten.
Diesem Berufe widmete er seine ganze Tätigkeit, brachte mit Güte und Strenge Ordnung, Sitte und Fleiß in die einigermaßen verwilderte Schule; er wußte sich zu den Kindern
herabzulassen, ihre Liebe zu erwerben, Folgsamkeit zu gewinnen und Lernbegierde zu erregen.
Wir verdanken ihm den vierstimmigen Chorgesang unsrer
Kurrentschüler, den er mit unermüdetem Fleiß und Anstrengung in vier Jahren auf einen hohen Grad ausbildete. Auch zu einem reineren Kirchengesang hat er vieles beigetragen.
In einer glücklichen Ehe lebte er eilf Jahre, ward Vater von
zwei Knaben und einem Mädchen, die er treu und liebevoll wie die übrigen Kinder auferzog und unterrichtete.
Bei kärglichem Einkommen und nicht sorgenfreiem Leben erzeigte er mehreren Jünglingen, die sich dem Schullehrerstande widmeten, väterliche Wohltaten.
Gefällig, unverdrossen und uneigennützig, besorgte er auch
gern die Aufträge entfernter Gönner und Freunde mit Eifer und Gewissenhaftigkeit, wie denn alles, was er vornahm, in musterhafter Ordnung geschah: Hauswesen, Zeit, Arbeiten,
alle Handlungen waren geregelt.
Offen, aufrichtig und ehrlich erwies er sich gegen jeden, der ihm sein Vertrauen schenkte, und wußte bei angeborner Höflichkeit und Bescheidenheit doch eine unangenehme Wahrheit, wenn es darauf ankam, gegen einen Bildungsbedürftigen auszusprechen.
Am 20. Juni 1814 wurde er in unseren Bund aufgenommen, wo er sich sogleich einheimisch fand und sich demselben mit
Freudigkeit widmete.
Seine Gesundheit war nicht die stärkste; frühere Anstrengungen, die Pflicht eines guten Sohnes, die späteren eines Hausvaters zu erfüllen, bei sitzender Lebensart so vieles zu
leisten, raubte seinem Geist die heitere Stimmung, und da
er endlich nach verbesserter Besoldung sich auf einem kleinen Stückchen Gartenland ansiedelte und einen erheiterten Blick
ins Leben warf, fühlte er eine Ahnung von baldigem Hinscheiden und entschlief in der Nacht des 14. Julius 1819.
Sein Pflegesohn, der Kantor Wickhardt in Liebstedt, nahm
den ältesten Sohn an Kindesstatt an; ein gleiches tat Frau Lämmerhirt allhier an ihrem Paten, dem zweiten, und so haben treue und liebevolle Handlungen ihre unmittelbaren
Folgen.
2. Johann Michael Krumbholz
wurde 1750 den 6. November zu Lohma im Blankenhainschen einem Schullehrer geboren. Im dreizehnten Jahre fühlte er den Trieb, sein Brot selbst zu verdienen, und ging nach Blankenhain zu dem Kanzleirat Schulze in Dienste, wo er fünf Jahre lang blieb; sodann diente er in Weimar bei dem
Geheimen Hofrat Hufeland, der ihn der verehrten Herzogin
Amalie empfahl, welche treffliche Fürstin er sich durch bescheidene Treue und Diensteifer geneigt machte.
Höflichkeit, Bereitwilligkeit und verträgliches Wesen bewirkten, daß man ihn immer auf Reisen mitnahm, wo er
sich in alles gut zu schicken wußte.
Nur als die Herzogin im Jahre 1788 die Reise nach Italien
antrat, ließ sie ihn wegen schwacher Gesundheit zurück,
sandte ihn aber nach Braunschweig, wo er die Vergolderkunst erlernte, die er nachher sowohl in ihrem Dienste als sonst auszuüben Gelegenheit fand.
Er blieb ihr dagegen anhänglich bis zum Tode und wurde
im Jahre 1807 zum Kastellan der fürstlichen Wohnung befördert.
Bei Wiedereröffnung der Loge in diesem Lokal ward er als dienender Bruder aufgenommen und verrichtete, wie es seine geschwächte Gesundheit und sein Alter erlaubten, immer treu die ihm übertragenen Geschäfte. Am 13. Oktober 1819 erfolgte sein Ableben.
3. Christian Anton August Slevoigt
Geboren im Jahre 1767 zu Maua unweit Jena; sein Vater war Prediger daselbst. Im Jahre 1769 nahm ihn sein kinderloser Oheim, Hofrat Wiedeburg, nach Jena, welchem er einige Zeit darauf nach Allstedt folgte. Mehrere Jahre verbrachte er in der Klosterschule zu Roßleben; 1781 aber bil- dete er sich auf dem Gymnasium zu Weimar unter Heinze
und Musäus.
Nachdem er in Jena von 1783 an die Rechte studiert, erhielt
er bei dem Justizamte zu Weimar den Akzeß und genoß der Vorsorge seines immer liebenden, indessen in die Residenz als Regierungsrat versetzten Oheims.
Im Jahre 1791 wurde er bei den Stadtgerichten zu Jena als Vormundschaftsaktuar und Sporteleinnehmer angestellt mit
der Lizenz zu praktizieren und ward 1794 zum Stadtrichter erwählt.
Da fielen ihm hinterlassene geheimnisvolle Papiere eines Niederländers in die Hände, die, obgleich in holländischer Sprache abgefaßt, in ihm eine Sehnsucht nach unserem Bunde
erregten, zu dem er sich denn auch endlich gesellte. Nach
dem Tode des Bürgermeisters Paulsen ward er unter dem
Titel eines Vizebürgermeisters in den Stadtrat zu Jena aufgenommen und ihm endlich das Amt eines Polizeisekretärs übertragen, welches er bis an seinen Tod bekleidete.
In zweimaliger Ehe lebte er im glücklichsten Einverständnis;
allein Krankheiten und Hinscheiden der Seinigen, wachsende
Bedürfnisse und Sorgen verursachten, daß er zuletzt dem
stillen Kummer unterlag.
Seine ihm eigene Tätigkeit fand in den ihm obliegenden
Amtsgeschäften nicht hinreichende Befriedigung; ein gewisser
allgemeiner ihn belebender Sinn trieb ihn, ins Ganze zu wirken, weswegen er eine Anstalt errichtete, durch welche Aufträge besorgt, Anfragen beantwortet und manchen Bedürfnissen abgeholfen werden sollte; auch wollte er seine ausgebreiteten polizeilichen Kenntnisse nicht unbenutzt lassen: er gab eine Zeitschrift heraus und arbeitete unermüdet zum
Vorteil der anderen, ohne dadurch den eigenen Vorteil be- zwecken und seine häuslichen Umstände verbessern zu
können.
4. Ferdinand Jagemann, den 24. August 1780 zu Weimar geboren — sein Vater Bibliothekar der unvergeßlichen Herzogin Amalie — zeigte sehr früh besondere Neigung und Geschick für die zeichnenden Künste, welche zu äußern und zu üben das unter Leitung des Rat Kraus errichtete freie Zeicheninstitut Gelegenheit gab. Schon im fünfzehnten Jahre versuchte er sich in Kassel unter Aufsicht des dortigen Tischbein, eines väterlichen Freundes, und brachte nach halbjähriger Abwesenheit
eine Kreidezeichnung der Abnahme Christi vom Kreuz nach Rembrandt zurück, welche so viel Anlage zeigte, daß unser
kunstliebender Fürst sogleich beschloß, ihn nach Wien zu
Füger abzusenden, wohin er denn auch in seinem sechzehnten Jahre schon abging. Nach zweijähriger Anwesenheit malte
er sein erstes großes Bild in öl, eine Kopie nach Fra Bartolommeo, die Beschneidung Christi vorstellend, an welchem
wir uns noch erfreuen.
Vor dem Schluß eines fünfjährigen Aufenthalts malte er noch
zuletzt das lebensgroße Bildnis des Fierzogs von Sachsen-Teschen, welches uns heute noch sein Talent betätigt.
Nach dem Willen seines großmütigen Beschützers ging er nach Paris, wo er sich an die italienischen Meister hielt und
besonders Raffael ins Auge faßte. Eine Kopie nach Raffaels
, Madonna von Foligno und nach Guido Renis , Kindermord gaben Beweise seiner Fortschritte in der Kunst.
Im Jahre 1804 kam er nach Weimar zurück, malte das
lebensgroße Bildnis seines Beschützers und eilte sodann im
August 1806 nach Wien und von da nach Rom, woselbst
er drei Jahre lang studierte. Eine bedeutende Frucht seines dortigen Aufenthalts ist die Erweckung des toten Knaben
durch den Propheten Elisa in Gegenwart der Mutter, Figuren
über Lebensgröße und noch jetzt dem Auge eines jeden beschauenden Kenners ausgesetzt. Im Jahre 1810 kehrte er nach beinahe fünfzehnjähriger, nur kurz unterbrochener Abwesenheit nach Weimar zurück und fand Gelegenheit, sich als ausgezeichneter Porträtmaler zu erweisen. Hiervon können die lebensgroßen Porträts der Herzoglich Koburgischen
Familie und des Prinzen von Ligne Beweis geben.
In diese Epoche fällt die Aufnahme in unsern Bund.
Deutschlands politische Lage wurde jetzt immer ernster, der
Freiheitsruf ertönte an allen Orten. Unser durchlauchtigster Protektor schloß sich an die Häupter des heiligen Bundes;
da gab Jagemann dem Drange seines Herzens Gehör und
führte die Fahne der zum Kampf für Fürst und Vaterland
sich freiwillig rüstenden Schar.
Durch Anstrengung und vereinte Kräfte der verbündeten Heere waren die Feinde niedergekämpft, ihre Hauptstadt erobert, und Jagemann hatte das unaussprechliche Glück, einer der ersten Verkünder dieser frohen Botschaft in Deutschland zu sein. An allen Orten wurde er mit Jubel empfangen, in Hanau sogar die Pferde seines Wagens abgespannt und er im Triumph durch die Stadt geführt. Sein hiesiger Empfang
ist gewiß noch jedem erinnerlich.
Nach errungenem Frieden kehrte er in seine Werkstatt zurück und malte lebensgroß den auf seine Konstitution sich stützenden Großherzog. Da erhielt er die goldene Verdienstmedaille nebst dem Hofratscharakter.
Das dritte Jubiläum protestantischer Glaubensfreiheit bewog
die Gemeinde zu Udestedt, dem Begründer derselben, dem
heldenmütigen Luther, ein Denkmal zu stiften, und Jagemann bekam den Auftrag, einen bedeutenden Moment aus Luthers Leben zu malen; er wählte den Wendepunkt des ganzen großen Ereignisses, wo Luther vor Kaiser und Reich
seine Lehre verteidigt. Das Bild wurde mit großer Feierlichkeit in des Künstlers Gegenwart in der Kirche genannten
Ortes aufgestellt.
Längst war ihm von einem alten Freunde, dem Oberbaudirektor Weinbrenner in Karlsruhe, der Antrag geschehen,
in eine von demselben neu erbaute Kirche ein großes Altarbild zu malen. Auf einer Reise in das südliche Deutschland
wurde ein so wichtiger Antrag erneuet und besprochen, nach
des Künstlers Zurückkunft hierher die Ausführung desselben begonnen.
Unser durchlauchtigster Protektor unterstützte ihn auch hierbei aufs großmütigste; es wurde, weil kein Lokal sich hoch
und groß genug vorfand, ein neuer Arbeitssaal dazu gebaut und dem Künstler noch mehrere andere Erleichterungen
verschafft.
Christi Himmelfahrt sollte sein Pinsel versinnlichen. Um
nun diese große bedeutende Aufgabe zu lösen, unternahm
er die Vorarbeit einer Zeichnung in schwarzer Kreide und
führte sodann die einzelnen Teile in großen Kartonen aus. Eine bedeutende Brustkrankheit jedoch warf ihn aufs Krankenbett, und es verging lange Zeit, bis er sich wieder völlig zur Arbeit tüchtig fühlte; endlich wußte er sich zusammenzuraffen und mit angestrengter Tätigkeit ans Werk zu
gehen.
Er überwand jede körperliche Schwäche, die sich seinem Vorhaben entgegensetzte, und hatte mit Schnelle, ja mit Hast
das Bild vollendet, worauf er alle seine Kräfte sammelte, um es an den Ort seiner Bestimmung zu bringen.
Müde und unwohl kehrte er von dort zurück, traurig, daß
sein oft geäußerter Wunsch, die Auferstehung zu malen, nicht
erreicht werden konnte; und es blieb wahrhaft zu bedauern,
daß einem Künstler, der nach und nach sein Talent auf einen
so hohen Grad gesteigert hatte, eine nunmehr gewiß ganz
meisterhafte Darstellung versagt war. Sein Brustübel vermehrte sich, er mußte viel erdulden; am 9. Januar 1820 ging
er hinüber, im noch nicht erreichten vierzigsten Jahre, viel zu früh für Kunst, Familie und Freunde.
Eine Anzahl Kriegskameraden trug ihn zu seiner Ruhestätte, die ihm neben Lukas Cranach und seinem ersten Lehrer Kraus gegönnt war: ein würdiger Platz, die irdische Hülle unsers deutschen Künstlers aufzunehmen!
Wenige allgemeine Betrachtungen über die uns dargestellten Lebensereignisse von vier Brüdern, deren jeder in seiner Art unserm Bunde Ehre macht, wird man wohl hier erwarten dürfen. Der erste, in Armut und Niedrigkeit geboren, höhere Eigenschaften in sich fühlend, mit entschiedenem Willen die Ausbildung derselben erstrebend, einen mäßigen Zustand erreichend und in demselben selbständig, sich selbst beherrschend, seinen Vorsätzen, seiner Pflicht getreu, ein ruhiges
Leben in Mittelmäßigkeit führend, gibt uns das schönste Beispiel eines aus sich selbst entwickelten, im engen Kreise tätigen, der Gesellschaft nützlichen und kaum bemerkt vorübergehenden Mannes. Gerade dies sind Eigenschaften und
Schicksale, die sich in der bürgerlichen Welt sehr oft wiederholen und überall, wo sie erscheinen, ein segenvolles Beispiel hinterlassen.
Der zweite, in einen leidlichen Zustand eintretend, fühlt schon in den Knabenjahren, daß es schwer sei, für sich selbst
'
zu bestehen, daß vielmehr derjenige wohl tut, der sich bald
entschließt, zu eigener Erhaltung anderen zu dienen, um bei fortgesetztem guten Betragen sich an das Glück mehrbegünstigter Weltbürger mit angereiht zu sehen. Hier gelangt er denn über wenige Stufen in den Dienst einer vortrefflichen Fürstin, genießt den Vorteil ihrer Nähe zu den schönsten
Zeiten, schließt zuletzt seine Laufbahn als dienender Bruder
des hohen Bundes und fühlt sich in die würdigste Einheit
verschlungen. Ein günstiges Schicksal, das er sich durch lebenslängliche Dienstfertigkeit wohl verdient hat.
Der dritte, im mittleren bürgerlichen Leben einen bequemen
Weg geführt, findet zuletzt angemessene Stellen im Staate; er versieht sie mit Zufriedenheit seiner Vorgesetzten und des Fürsten und hält sich gleichmäßig aus bis ans Ende. Aber die ihm obliegenden Geschäfte füllen seine Tätigkeit nicht aus, eine mäßige Einnahme reicht zu seinen Bedürfnissen nicht
hin, und so bemüht er sich im weltbürgerlichen Sinne, durch
Vieltätigkeit anderen zu dienen und vielleicht dadurch sich selbst zu nützen; aber keines von beiden gelingt in dem
Grade, daß die doppelte Absicht erfüllt würde; wir bemerken seine Wirkung nach außen oft unterbrochen, gelähmt,
und sehen ihn aus einer sorgenvollen Lage hinscheiden.
Der vierte gibt uns gleichfalls Anlaß zu ernsten Betrachtungen. Er war von Jugend auf durch Natur und Umstände begünstigt; als Knabe schön gebildet, Liebe und Neigung sich von früh auf erwerbend; aus dem Jünglinge entwickelte sich ein treffliches Künstlertalent; er lebte als treuer heiterer Freund unter seinen Gesellen, zeigte sich als wackerer kriegerischer Bürger, und in allen diesen Zuständen sieht er sich gefördert, jeden Wunsch erreicht, jeden Vorsatz begünstigt.
Betrachten wir ihn nun als Maurer, so fällt auch hier jede
Bemerkung zu seinen und unseren Gunsten: mit Leidenschaft
schloß er sich an unsern Bund; denn er fühlte darin die Ahnung dessen, was ihm sein Leben durch gefehlt hatte,
dessen, was er bei dem besten Willen aus sich selbst zu entwickeln, bei sich selbst festzustellen nicht vermochte: einen gewissen Halt nämlich, ein Regulativ, woran er sich als Künstler messen, als Mensch, Freund und Liebender prüfen
könnte. In unserem Bunde erschien ihm zum erstenmale das Ehrwürdige, das uns selbst Würde gibt, die alles umschlingende, aus lebenden Elementen geflochtene Kette, der Ernst
einfacher, immer wiederkehrender und doch immer genügender und hinreichender Formen.
Dieser Eindruck auf das empfängliche Gemüt war so groß,
daß er unseren Arbeiten niemals ohne Aufregung beiwohnen,
ihrer niemals ohne Rührung gedenken konnte, daß er in denselben Sitte, Gesetz, Religion zu fühlen und vorzuempfinden glaubte, und zwar in dem Grade, daß er in seinen
letzten Augenblicken als höchste Beruhigung empfand, einem
Bruder die Hand zu drücken und den übrigen Verbundenen
einen traurig-dankbaren Gruß zu senden. Ja, man kann überzeugt sein, daß, wäre er früher in unsere Verbindung getreten, ihm dasjenige geworden wäre, was man an ihm zu vermissen hatte.
Und hiemit lasset uns zum Schluß eilen; denn sowohl über
ihn als sonstige Abgeschiedene eigentlich Gericht zu halten,
möchte niemals der Billigkeit gemäß sein. Wir leiden alle am
Leben; wer will uns, außer Gott, zur Rechenschaft ziehen? Tadeln darf man keinen Abgeschiedenen; nicht was sie gefehlt und gelitten, sondern was sie geleistet und getan, beschäftige die Hinterbliebenen. An den Fehlern erkennt man
den Menschen, an den Vorzügen den einzelnen; Mängel und
Schicksale haben wir alle gemein, die Tugenden gehören
jedem besonders.
weiter
Goethe auf meiner Seite
Testamente, Reden, Persönlichkeiten
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