Die Geschichte von Ferdinand und Ottilie
Man kann in Familien oft die Bemerkung machen, daß Kinder sowohl der Gestalt als dem Geiste nach bald vom Vater, bald von der Mutter Eigenschaften an sich tragen; und so kommt auch manchmal der Fall vor, daß ein Kind die Naturen beider Eltern auf eine besondere und verwundernswürdige Weise verbindet. Hievon war ein junger Mensch, den ich Ferdinand nennen will, ein auffallender Beweis. Seine Bildung erinnerte an beide Eltern, und ihre Gemütsart konnte man in der seinigen genau unterscheiden. Er hatte den leichten und frohen Sinn des Vaters, so auch den Trieb, den Augenblick zu genießen, und eine gewisse leidenschaftliche Art, bei manchen Gelegenheiten nur sich selbst in Anschlag zu bringen. Von der Mutter aber hatte er, so schien es, ruhige Überlegung, ein Gefühl von Recht und Billigkeit und eine Anlage zur Kraft, sich für andere aufzuopfern. Man sieht hieraus leicht, daß diejenigen, die mit ihm umgingen, oft, um seine Handlungen zu erklären, zu der Hypothese ihre Zuflucht nehmen mußten, daß der junge Mann wohl zwei Seelen haben möchte.
Ich übergehe mancherlei Szenen, die in seiner Jugend vorfielen, und erzähle nur eine Begebenheit, die seinen ganzen Charakter ins Licht setzt und in seinem Leben eine entschiedene Epoche machte. Er hatte von Jugend auf eine reichliche Lebensart genossen, denn seine Eltern waren wohlhabend, lebten und erzogen ihre Kinder, wie es solchen Leuten geziemt, und wenn der Vater in Gesellschaften, beim Spiel und durch zierliche Kleidung mehr, als billig war, ausgab, so wußte die Mutter als eine gute Haushälterin dem gewöhnlichen Aufwande solche Grenzen zu setzen, daß im Ganzen ein Gleichgewicht blieb und niemals ein Mangel zum Vorschein kommen konnte. Dabei war der Vater als Handelsmann glücklich; es gerieten ihm manche Spekulationen, die er sehr kühn unternommen hatte, und weil er gern mit Menschen lebte, hatte er sich in Geschäften auch vieler Verbindungen und mancher Beihülfe zu erfreuen. Die Kinder als strebende Naturen wählen sich gewöhnlich im Hause das Beispiel dessen, der am meisten zu leben und zu genießen scheint. Sie sehen in einem Vater, der sich's wohl sein läßt, die entschiedene Regel, wornach sie ihre Lebensart einzurichten haben; und weil sie schon früh zu dieser Einsicht gelangen, so schreiten meistenteils ihre Begierden und Wünsche in großer Disproportion der Kräfte ihres Hauses fort. Sie finden sich bald überall gehindert, um so mehr, als jede neue Generation neue und frühere Anforderungen macht und die Eltern den Kindern dagegen meistenteils nur gewähren möchten, was sie selbst in früherer Zeit genossen, da noch jedermann mäßiger und einfacher zu leben sich bequemte. Ferdinand wuchs mit der unangenehmen Empfindung heran, daß ihm oft dasjenige fehle, was er an seinen Gespielen sah. Er wollte in Kleidung, in einer gewissen Liberalität des Lebens und Betragens hinter niemanden zurückbleiben, er wollte seinem Vater ähnlich werden, dessen Beispiel er täglich vor Augen sah und der ihm doppelt als Musterbild erschien: einmal als Vater, für den der Sohn gewöhnlich ein günstiges Vorurteil hegt, und dann wieder, weil der Knabe sah, daß der Mann auf diesem Wege ein vergnügliches und genußreiches Leben führte und dabei von jedermann geschätzt und geliebt wurde. Ferdinand hatte hierüber, wie man sich leicht denken kann, manchen Streit mit der Mutter, da er dem Vater die abgelegten Röcke nicht nachtragen, sondern selbst immer in der Mode sein wollte. So wuchs er heran, und seine Forderungen wuchsen immer vor ihm her, so daß er zuletzt, da er achtzehn Jahr alt war, ganz außer Verhältnis mit seinem Zustande sich fühlen mußte.
Schulden hatte er bisher nicht gemacht, denn seine Mutter hatte ihm davor den größten Abscheu eingeflößt,
sein Vertrauen zu erhalten gesucht und in mehreren
Fällen das Äußerste getan, um seine Wünsche
zu erfüllen oder ihn aus kleinen Verlegenheiten zu reißen.
Unglücklicherweise mußte sie in eben dem Zeitpunkte,
wo er nun als Jüngling noch mehr aufs Äußere
sah, wo er durch die Neigung zu einem sehr schönen
Mädchen, verflochten in größere Gesellschaft,
sich andern nicht allein gleichzustellen, sondern vor
andern sich hervorzutun und zu gefallen wünschte, in
ihrer Haushaltung gedrängter sein als jemals; anstatt
also seine Forderungen wie sonst zu befriedigen, fing
sie an, seine Vernunft, sein gutes Herz, seine Liebe zu
ihr in Anspruch zu nehmen, und setzte ihn, indem sie
ihn zwar überzeugte, aber nicht veränderte, wirklich
in Verzweiflung.
Er konnte, ohne alles zu verlieren, was ihm so lieb als sein Leben war, die Verhältnisse nicht verändern, in denen er sich befand. Von der ersten Jugend an war er diesem Zustande entgegen -, er war mit allem, was ihn umgab, zusammengewachsen; er konnte keine Faser seiner Verbindungen, Gesellschaften, Spaziergänge und Lustpartien zerreißen, ohne zugleich einen alten Schulfreund, einen Gespielen, eine neue, ehrenvolle Bekanntschaft und, was das Schlimmste war, seine Liebe zu verletzen.
Wie hoch und wert er seine Neigung hielt, begreift man leicht, wenn man erfährt, daß sie zugleich seiner Sinnlichkeit, seinem Geiste, seiner Eitelkeit und seinen lebhaften Hoffnungen schmeichelte. Eins der schönsten, angenehmsten und reichsten Mädchen der Stadt gab ihm, wenigstens für den Augenblick, den Vorzug vor seinen vielen Mitwerbern. Sie erlaubte ihm, mit dem Dienst, den er ihr widmete, gleichsam zu prahlen, und sie schienen wechselsweise auf die Ketten stolz zu sein, die sie einander angelegt hatten. Nun war es ihm Pflicht, ihr überall zu folgen, Zeit und Geld in ihrem Dienste zu verwenden und auf jede Weise zu zeigen, wie wert ihm ihre Neigung und wie unentbehrlich ihm ihr Besitz sei.
Dieser Umgang und dieses Bestreben machte Ferdinanden mehr Aufwand, als es unter andern Umständen natürlich gewesen wäre. Sie war eigentlich von ihren abwesenden Eltern einer sehr wunderlichen Tante anvertraut worden, und es erforderte mancherlei Künste und seltsame Anstalten, um Ottilien, diese Zierde der Gesellschaft, in Gesellschaft zu bringen. Ferdinand erschöpfte sich in Erfindungen, um ihr die Vergnügungen zu verschaffen, die sie so gern genoß und die sie jedem, der um sie war, zu erhöhen wußte. Und in eben diesem Augenblicke von einer geliebten und verehrten Mutter zu ganz andern Pflichten aufgefordert zu werden, von dieser Seite keine Hülfe zu sehen, einen so lebhaften Abscheu vor Schulden zu fühlen, die auch seinen Zustand nicht lange würden gefristet haben, dabei von jedermann für wohlhabend und freigebig angesehen zu werden und das tägliche und dringende Bedürfnis des Geldes zu empfinden war gewiß eine der peinlichsten Lagen, in der sich ein junges, durch Leidenschaften bewegtes Gemüt befinden kann.
Gewisse Vorstellungen, die ihm früher nur leicht
vor der Seele vorübergingen, hielt er nun fester; gewisse
Gedanken, die ihn sonst nur Augenblicke beunruhigten,
schwebten länger vor seinem Geiste, und gewisse
verdrießliche Empfindungen wurden daurender
und bitterer. Hatte er sonst seinen Vater als sein Muster
angesehen, so beneidete er ihn nun als seinen Nebenbuhler.
Von allem, was der Sohn wünschte, war
jener im Besitz; alles, worüber dieser sich ängstigte,
ward jenem leicht. Und es war nicht etwa von dem
Notwendigen die Rede, sondern von dem, was jener
hätte entbehren können. Da glaubte denn der Sohn,
daß der Vater wohl auch manchmal entbehren sollte,
um ihn genießen zu lassen. Der Vater dagegen war
ganz anderer Gesinnung; er war von denen Menschen,
die sich viel erlauben und die deswegen in den Fall
kommen, denen, die von ihnen abhängen, viel zu versagen.
Er hatte dem Sohne etwas Gewisses ausgesetzt
und verlangte genaue Rechenschaft, ja eine regelmäßige
Rechnung von ihm darüber.
Nichts schärft das Auge des Menschen mehr, als
wenn man ihn einschränkt. Darum sind die Frauen
durchaus klüger als die Männer, und auf niemand sind
Untergebene aufmerksamer als auf den, der befiehlt,
ohne zugleich durch sein Beispiel vorauszugehen. So
ward der Sohn auf alle Handlungen seines Vaters aufmerksam,
besonders auf solche, die Geldausgaben betrafen.
Er horchte genauer auf, wenn er hörte, der
Vater habe im Spiel verloren oder gewonnen; er beurteilte
ihn strenger, wenn jener sich willkürlich etwas Kostspieliges erlaubte.
Ist es nicht sonderbar, sagte er zu sich selbst, daß Eltern, während sie sich mit Genuß aller Art überfüllen, indem sie bloß nach Willkür ein Vermögen, das ihnen der Zufall gegeben hat, benutzen, ihre Kinder gerade zu der Zeit von jedem billigen Genusse ausschließen, da die Jugend am empfänglichsten dafür ist! Und mit welchem Rechte tun sie es? Und wie sind sie zu diesem Rechte gelangt? Soll der Zufall allein entscheiden, und kann das ein Recht werden, wo der Zufall wirkt? Lebte der Großvater noch, der seine Enkel wie seine Kinder hielt, es würde mir viel besser ergehen; er würde es mir nicht am Notwendigen fehlen lassen; denn ist uns das nicht notwendig, was wir in Verhältnissen brauchen, zu denen wir erzogen und geboren sind? Der Großvater würde mich nicht darben lassen, sowenig er des Vaters Verschwendung zugeben würde. Hätte er länger gelebt, hätte er klar eingesehen, daß sein Enkel auch wert ist zu genießen, so hätte er vielleicht in dem Testament mein früheres Glück entschieden. Sogar habe ich gehört, daß der Großvater eben vom Tode übereilt worden, da er einen Letzten Willen aufzusetzen gedachte; und so hat vielleicht bloß der Zufall mir meinen frühern Anteil an einem Vermögen entzogen, den ich wenn mein Vater so zu wirtschaften fortfährt, wohl gar auf immer verlieren kann.
Mit diesen und andern Sophistereien über Besitz
und Recht, über die Frage, ob man ein Gesetz oder
eine Einrichtung, zu denen man seine Stimme nicht
gegeben, zu befolgen brauche und inwiefern es dem
Menschen erlaubt sei, im stillen von den bürgerlichen
Gesetzen abzuweichen, beschäftigte er sich oft in seinen
einsamen, verdrießlichsten Stunden, wenn er irgend
aus Mangel des baren Geldes eine Lustpartie
oder eine andere angenehme Gesellschaft ausschlagen
mußte. Denn schon hatte er kleine Sachen von Wert,
die er besaß, vertrödelt, und sein gewöhnliches Taschengeld
wollte keinesweges hinreichen.
Sein Gemüt verschloß sich, und man kann sagen,
daß er in diesen Augenblicken seine Mutter nicht achtete,
die ihm nicht helfen konnte, und seinen Vater
haßte, der ihm nach seiner Meinung überall im Wege
stand.
Zu eben der Zeit machte er eine Entdeckung, die
seinen Unwillen noch mehr erregte. Er bemerkte, daß
sein Vater nicht allein kein guter, sondern auch ein
unordentlicher Haushälter war; denn er nahm oft aus
seinem Schreibtische in der Geschwindigkeit Geld,
ohne es aufzuzeichnen, und fing nachher manchmal
wieder an zu zählen und zu rechnen und schien verdrießlich,
daß die Summen mit der Kasse nicht übereinstimmen
wollten. Der Sohn machte diese Bemerkung
mehrmals, und um so empfindlicher ward es
ihm, wenn er zu eben der Zeit, da der Vater nur geradezu
in das Geld hineingriff, einen entschiedenen
Mangel spürte.
Zu dieser Gemütsstimmung traf ein sonderbarer
Zufall, der ihm eine reizende Gelegenheit gab, dasjenige
zu tun, wozu er nur einen dunkeln und unentschiedenen
Trieb gefühlt hatte.
Sein Vater gab ihm den Auftrag, einen Kasten alter Briefe durchzusehen und zu ordnen. Eines Sonntags, da er allein war, trug er ihn durch das Zimmer, wo der Schreibtisch stand, der des Vaters Kasse enthielt. Der Kasten war schwer; er hatte ihn unrecht gefaßt und wollte ihn einen Augenblick absetzen oder vielmehr nur anlehnen. Unvermögend, ihn zu halten, stieß er gewaltsam an die Ecke des Schreibtisches, und der Deckel desselben flog auf. Er sah nun alle die Rollen vor sich liegen, zu denen er manchmal nur hineingeschielt hatte, setzte seinen Kasten nieder und nahm, ohne zu denken und zu überlegen, eine Rolle von der Seite weg, wo der Vater gewöhnlich sein Geld zu willkürlichen Ausgaben herzunehmen schien. Er druckte den Schreibtisch wieder zu und versuchte den Seitenstoß: Der Deckel flog jedesmal auf, und es war so gut, als wenn er den Schlüssel zum Pulte gehabt hätte.
Mit Heftigkeit suchte er nunmehr jede Vergnügung wieder, die er bisher hatte entbehren müssen. Er war fleißiger um seine Schöne; alles, was er tat und vornahm, war leidenschaftlicher; seine Lebhaftigkeit und Anmut hatten sich in ein heftiges, ja beinahe wildes Wesen verwandelt, das ihm zwar nicht übel ließ, doch niemanden wohltätig war. Was der Feuerfunke auf ein geladnes Gewehr, das ist die Gelegenheit zur Neigung, und jede Neigung, die wir gegen unser Gewissen befriedigen, zwingt uns, ein Übermaß von physischer Stärke anzuwenden; wir handeln wieder als wilde Menschen, und es wird schwer, äußerlich diese Anstrengung zu verbergen. Je mehr ihm seine innere Empfindung widersprach, desto mehr häufte Ferdinand künstliche Argumente aufeinander, und desto mutiger und freier schien er zu handeln, je mehr er sich selbst von einer Seite gebunden fühlte.
Zu derselbigen Zeit waren allerlei Kostbarkeiten ohne Wert Mode geworden. Ottilie liebte sich zu schmücken; er suchte einen Weg, sie ihr zu verschaffen, ohne daß Ottilie selbst eigentlich wußte, woher die Geschenke kamen. Die Vermutung ward auf einen alten Oheim geworfen, und Ferdinand war doppelt vergnügt, indem ihm seine Schöne ihre Zufriedenheit über die Geschenke und ihren Verdacht auf den Oheim zugleich zu erkennen gab.
Aber um sich und ihr dieses Vergnügen zu machen,
mußte er noch einigemal den Schreibtisch seines Vaters
eröffnen, und er tat es mit desto weniger Sorge,
als der Vater zu verschiedenen Zeiten Geld hineingelegt
und herausgenommen hatte, ohne es aufzuschreiben.
Bald darauf sollte Ottilie zu ihren Eltern auf einige
Monate verreisen. Die jungen Leute betrübten sich
äußerst, da sie scheiden sollten, und ein Umstand
machte ihre Trennung noch bedeutender. Ottilie erfuhr
durch einen Zufall, daß die Geschenke von Ferdinanden
kamen; sie setzte ihn darüber zu Rede, und als er
es gestand, schien sie sehr verdrießlich zu werden. Sie
bestand darauf, daß er sie zurücknehmen sollte, und
diese Zumutung machte ihm die bittersten Schmerzen.
Er erklärte ihr, daß er ohne sie nicht leben könne noch
wolle; er bat sie, ihm ihre Neigung zu erhalten, und
beschwor sie, ihm ihre Hand nicht zu versagen, sobald
er versorgt und häuslich eingerichtet sein würde.
Sie liebte ihn, sie war gerührt, sie sagte ihm zu, was
er wünschte, und in diesem glücklichen Augenblicke
versiegelten sie ihr Versprechen mit den lebhaftesten
Umarmungen und mit tausend herzlichen Küssen.
Nach ihrer Abreise schien Ferdinand sich sehr allein.
Die Gesellschaften, in welchen er sie zu sehen
pflegte, reizten ihn nicht mehr, indem sie fehlte. Er
besuchte nur noch aus Gewohnheit sowohl Freunde
als Lustörter, und nur mit Widerwillen griff er noch
einigemal in die Kasse des Vaters, um Ausgaben zu
bestreiten, zu denen ihn keine Leidenschaften nötigten.
Er war oft allein, und die gute Seele schien die
Oberhand zu gewinnen. Er erstaunte über sich selbst
bei ruhigem Nachdenken, wie er jene Sophistereien
über Recht und Besitz, über Ansprüche an fremdes
Gut, und wie die Rubriken alle heißen mochten, bei
sich auf eine so kalte und schiefe Weise habe durchführen
und dadurch eine unerlaubte Handlung beschönigen
können. Es ward ihm nach und nach deutlich,
daß nur Treue und Glauben die Menschen schätzenswert
mache, daß der Gute eigentlich leben müsse, um
alle Gesetze zu beschämen, indem ein anderer sie entweder
umgehen oder zu seinem Vorteil gebrauchen
mag.
Inzwischen, ehe diese wahren und guten Begriffe
bei ihm ganz klar wurden und zu herrschenden Entschlüssen
führten, unterlag er doch noch einigemal
der Versuchung, aus der verbotenen Quelle in dringenden
Fällen zu schöpfen. Niemals tat er es aber
ohne Widerwillen, und nur wie von einem bösen Geiste
an den Haaren hingezogen.
Endlich ermannte er sich und faßte den Entschluß,
vor allen Dingen die Handlung sich unmöglich zu
machen und seinen Vater von dem Zustande des
Schlosses zu unterrichten. Er fing es klug an und trug
den Kasten mit den nunmehr geordneten Briefen in
Gegenwart seines Vaters durch das Zimmer, beging
mit Vorsatz die Ungeschicklichkeit, mit dem Kasten
wider den Schreibtisch zu stoßen, und wie erstaunte
der Vater, als er den Deckel auffahren sah! Sie untersuchten
beide das Schloß und fanden, daß die
Schließhaken durch die Zeit abgenutzt und die Bänder
wandelbar waren. Sogleich ward alles repariert, und
Ferdinand hatte seit langer Zeit keinen vergnügtern
Augenblick, als da er das Geld in so guter Verwahrung
sah.
Aber dies war ihm nicht genug. Er nahm sich sogleich
vor, die Summe, die er seinem Vater entwendet
hatte und die er noch wohl wußte, wieder zu sammeln
und sie ihm auf eine oder die andere Weise zuzustellen.
Er fing nun an, aufs genaueste zu leben und von
seinem Taschengelde, was nur möglich war, zu
sparen. Freilich war das nur wenig, was er hier zurückhalten
konnte, gegen das, was er sonst verschwendet
hatte; indessen schien die Summe schon
groß, da sie ein Anfang war, sein Unrecht wiedergutzumachen.
Und gewiß ist ein ungeheurer Unterschied
zwischen dem letzten Taler, den man borgt, und zwischen
dem ersten, den man abbezahlt.
Nicht lange war er auf diesem guten Wege, als der
Vater sich entschloß, ihn in Handelsgeschäften zu
verschicken. Er sollte sich mit einer entfernten Fabrikanstalt
bekannt machen. Man hatte die Absicht, in
einer Gegend, wo die ersten Bedürfnisse und die
Handarbeit sehr wohlfeil waren, selbst ein Comptoir
zu errichten, einen Kompagnon dorthin zu setzen, den
Vorteil, den man gegenwärtig andern gönnen mußte,
selbst zu gewinnen und durch Geld und Kredit die
Anstalt ins Große zu treiben. Ferdinand sollte die
Sache in der Nähe untersuchen und davon einen umständlichen
Bericht abstatten. Der Vater hatte ihm ein
Reisegeld ausgesetzt und ihm vorgeschrieben, damit
auszukommen; es war reichlich, und er hatte sich
nicht darüber zu beklagen.
Auch auf seiner Reise lebte Ferdinand sehr sparsam,
rechnete und überrechnete und fand, daß er den
dritten Teil seines Reisegeldes ersparen könnte, wenn
er auf jede Weise sich einzuschränken fortführe. Er
hoffte nun auch auf Gelegenheit, zu dem übrigen nach
und nach zu gelangen, und er fand sie. Denn die Gelegenheit
ist eine gleichgültige Göttin, sie begünstigt
das Gute wie das Böse.
In der Gegend, die er besuchen sollte; fand er alles
weit vorteilhafter, als man geglaubt hatte. Jedermann
ging in dem alten Schlendrian handwerksmäßig fort.
Von neu entdeckten Vorteilen hatte man keine Kenntnis,
oder man hatte keinen Gebrauch davon gemacht.
Man wendete nur mäßige Summen Geldes auf und
war mit einem mäßigen Profit zufrieden, und er sah
bald ein, daß man mit einem gewissen Kapital, mit
Vorschüssen, Einkauf des ersten Materials im großen,
mit Anlegung von Maschinen durch die Hülfe tüchtiger
Werkmeister eine große und solide Einrichtung
würde machen können.
Er fühlte sich durch die Idee dieser möglichen Tätigkeit
sehr erhoben. Die herrliche Gegend, in der ihm
jeden Augenblick seine geliebte Ottilie vorschwebte,
ließ ihn wünschen, daß sein Vater ihn an diesen Platz
setzen, ihm das neue Etablissement anvertrauen und
so auf eine reichliche und unerwartete Weise ausstatten
möchte.
Er sah alles mit größerer Aufmerksamkeit, weil er alles schon als das Seinige ansah. Er hatte zum erstenmal Gelegenheit, seine Kenntnisse, seine Geisteskräfte, sein Urteil anzuwenden. Die Gegend sowohl als die Gegenstände interessierten ihn aufs höchste, sie waren Labsal und Heilung für sein verwundetes Herz; denn nicht ohne Schmerzen konnte er sich des väterlichen Hauses erinnern, in welchem er wie in einer Art von Wahnsinn eine Handlung begehen konnte, die ihm nun das größte Verbrechen zu sein schien. Ein Freund seines Hauses, ein wackerer, aber kränklicher Mann, der selbst den Gedanken eines solchen Etablissements zuerst in Briefen gegeben hatte, war ihm stets zur Seite, zeigte ihm alles, machte ihn mit seinen Ideen bekannt und freute sich, wenn ihm der junge Mensch entgegen -, ja zuvorkam. Dieser Mann führte ein sehr einfaches Leben, teils aus Neigung, teils weil seine Gesundheit es so forderte. Er hatte keine Kinder, eine Nichte pflegte ihn, der er sein Vermögen zugedacht hatte, der er einen wackern und tätigen Mann wünschte, um mit Unterstützung eines fremden Kapitals und frischer Kräfte dasjenige ausgeführt zu sehen, wovon er zwar einen Begriff hatte, wovon ihn aber seine physischen und ökonomischen Umstände zurückhielten.
Kaum hatte er Ferdinanden gesehen, als ihm dieser sein Mann zu sein schien, und seine Hoffnung wuchs, als er soviel Neigung des jungen Menschen zum Geschäft und zu der Gegend bemerkte. Er ließ seiner Nichte seine Gedanken merken, und diese schien nicht abgeneigt. Sie war ein junges, wohlgebildetes, gesundes und auf jede Weise gutgeartetes Mädchen. Die Sorgfalt für ihres Oheims Haushaltung erhielt sie immer rasch und tätig und die Sorge für seine Gesundheit immer weich und gefällig. Man konnte sich zur Gattin keine vollkommnere Person wünschen. Ferdinand, der nur die Liebenswürdigkeit und die Liebe Ottiliens vor Augen hatte, sah über das gute Landmädchen hinweg oder wünschte, wenn Ottilie einst als seine Gattin in diesen Gegenden wohnen würde, ihr eine solche Haushälterin und Beschließerin beigeben zu können. Er erwiderte die Freundlichkeit und Gefälligkeit des Mädchens auf eine sehr ungezwungene Weise; er lernte sie näher kennen und sie schätzen; er begegnete ihr bald mit mehrerer Achtung, und sowohl sie als ihr Oheim legten sein Betragen nach ihren Wünschen aus.
Ferdinand hatte sich nunmehr genau umgesehen und von allem unterrichtet. Er hatte mit Hülfe des Oheims einen Plan gemacht und nach seiner gewöhnlichen Leichtigkeit nicht verborgen, daß er darauf rechne, selbst den Plan auszuführen. Zugleich hatte er der Nichte viele Artigkeiten gesagt und jede Haushaltung glücklich gepriesen, die einer so sorgfältigen Wirtin überlassen werden könnte. Sie und ihr Onkel glaubten daher, daß er wirklich Absichten habe, und waren in allem um desto gefälliger gegen ihn. Nicht ohne Zufriedenheit hatte Ferdinand bei seinen Untersuchungen gefunden, daß er nicht allein auf die Zukunft vieles von diesem Platze zu hoffen habe, sondern daß er auch gleich jetzt einen vorteilhaften Handel schließen, seinem Vater die entwendete Summe wiedererstatten und sich also von dieser drückenden Last auf einmal befreien könne. Er eröffnete seinem Freunde die Absicht seiner Spekulation, der eine außerordentliche Freude darüber hatte und ihm alle mögliche Beihülfe leistete; ja er wollte seinem jungen Freunde alles auf Kredit verschaffen, das dieser jedoch nicht annahm, sondern einen Teil davon sogleich von dem Überschusse des Reisegeldes bezahlte und den andern in gehöriger Frist abzutragen versprach.
Mit welcher Freude er die Waren packen und laden ließ, war nicht auszusprechen; mit welcher Zufriedenheit er seinen Rückweg antrat, läßt sich denken. Denn die höchste Empfindung, die der Mensch haben kann, ist die, wenn er sich von einem Hauptfehler, ja von einem Verbrechen durch eigne Kraft erhebt und losmacht. Der gute Mensch, der ohne auffallende Abweichung vom rechten Pfade vor sich hin wandelt, gleicht einem ruhigen, lobenswürdigen Bürger, da hingegen jener als ein Held und Überwinder Bewunderung und Preis verdient, und in diesem Sinne scheint das paradoxe Wort gesagt zu sein, daß die Gottheit selbst an einem zurückkehrenden Sünder mehr Freude habe als an neunundneunzig Gerechten. Aber leider konnte Ferdinand durch seine guten Entschlüsse, durch seine Besserung und Wiedererstattung die traurigen Folgen der Tat nicht aufheben, die ihn erwarteten und die sein schon wieder beruhigtes Gemüt aufs neue schmerzlich kränken sollten. Während seiner Abwesenheit hatte sich das Gewitter zusammengezogen, das gerade bei seinem Eintritte in das väterliche Haus losbrechen sollte.
Ferdinands Vater war, wie wir wissen, was seine
Privatkasse betraf, nicht der Ordentlichste, die Handlungssachen
hingegen wurden von einem geschickten
und genauen Associé sehr richtig besorgt. Der Alte
hatte das Geld, das ihm der Sohn entwendete, nicht
eben gemerkt, außer daß unglücklicherweise darunter
ein Paket einer in diesen Gegenden ungewöhnlichen
Münzsorte gewesen war, die er einem Fremden im
Spiel abgewonnen hatte. Diese vermißte er, und der
Umstand schien ihm bedenklich. Allein was ihn äußerst
beunruhigte, war, daß ihm einige Rollen, jede
mit hundert Dukaten, fehlten, die er vor einiger Zeit
verborgt, aber gewiß wiedererhalten hatte. Er wußte,
daß der Schreibtisch sonst durch einen Stoß aufgegangen
war, er sah als gewiß an, daß er beraubt sei, und
geriet darüber in die äußerste Heftigkeit. Sein Argwohn
schweifte auf allen Seiten herum. Unter den
fürchterlichsten Drohungen und Verwünschungen
erzählte er den Vorfall seiner Frau; er wollte das Haus
um und um kehren, alle Bedienten, Mägde und Kinder
verhören lassen, niemand blieb von seinem Argwohn
frei. Die gute Frau tat ihr möglichstes, ihren Gatten zu
beruhigen; sie stellte ihm vor, in welche Verlegenheit
und Diskredit diese Geschichte ihn und sein Haus
bringen könnte, wenn sie ruchbar würde; daß niemand
an dem Unglück, das uns betreffe, Anteil nehme
als nur, um uns durch sein Mitleiden zu demütigen;
daß bei einer solchen Gelegenheit weder er noch sie
verschont werden würden, daß man noch wunderlichere
Anmerkungen machen könnte, wenn nichts herauskäme,
daß man vielleicht den Täter entdecken und,
ohne ihn auf zeitlebens unglücklich zu machen, das
Geld wiedererhalten könne. Durch diese und andere
Vorstellungen bewog sie ihn endlich, ruhig zu bleiben
und durch stille Nachforschung der Sache näherzukommen.
Und leider war die Entdeckung schon nahe genug.
Ottiliens Tante war von dem wechselseitigen Versprechen
der jungen Leute unterrichtet. Sie wußte von den
Geschenken, die ihre Nichte angenommen hatte. Das
ganze Verhältnis war ihr nicht angenehm, und sie
hatte nur geschwiegen, weil ihre Nichte abwesend
war. Eine sichere Verbindung mit Ferdinand schien
ihr vorteilhaft, ein ungewisses Abenteuer war ihr unerträglich.
Da sie also vernahm, daß der junge
Mensch bald zurückkommen sollte, da sie auch ihre
Nichte täglich wieder erwartete, eilte sie, von dem,
was geschehen war, den Eltern Nachricht zu geben
und ihre Meinung darüber zu hören, zu fragen, ob
eine baldige Versorgung für Ferdinand zu hoffen sei
und ob man in eine Heirat mit ihrer Nichte willige.
Die Mutter verwunderte sich nicht wenig, als sie
von diesen Verhältnissen hörte. Sie erschrak, als sie
vernahm, welche Geschenke Ferdinand an Ottilien gegeben
hatte. Sie verbarg ihr Erstaunen, bat die Tante,
ihr einige Zeit zu lassen, um gelegentlich mit ihrem
Manne über die Sache zu sprechen, versicherte, daß
sie Ottilien für eine vorteilhafte Partie halte und daß
es nicht unmöglich sei, ihren Sohn nächstens auf eine
schickliche Weise auszustatten.
Als die Tante sich entfernt hatte, hielt sie es nicht
für rätlich, ihrem Manne die Entdeckung zu vertrauen.
Ihr lag nur daran, das unglückliche Geheimnis aufzuklären,
ob Ferdinand, wie sie fürchtete, die Geschenke
von dem entwendeten Geld gemacht habe. Sie eilte zu
dem Kaufmann, der diese Art Geschmeide vorzüglich
verkaufte, feilschte um ähnliche Dinge und sagte zuletzt:
er müsse sie nicht überteuern, denn ihrem Sohn,
der eine solche Kommission gehabt, habe er die Sachen
wohlfeiler gegeben. Der Handelsmann beteuerte:
nein! zeigte die Preise genau an und sagte dabei, man
müsse noch das Agio der Geldsorte hinzurechnen, in
der Ferdinand zum Teil bezahlt habe. Er nannte ihr zu
ihrer größten Betrübnis die Sorte; es war die, die dem
Vater fehlte.
Sie ging nun, nachdem sie sich zum Scheine die nächsten Preise aufsetzen lassen, mit sehr bedrängtem Herzen hinweg. Ferdinands Verirrung war zu deutlich, die Rechnung der Summe, die dem Vater fehlte, war groß, und sie sah nach ihrer sorglichen Gemütsart die schlimmste Tat und die fürchterlichsten Folgen. Sie hatte die Klugheit, die Entdeckung vor ihrem Manne zu verbergen; sie erwartete die Zurückkunft ihres Sohnes mit geteilter Furcht und Verlangen. Sie wünschte sich aufzuklären und fürchtete das Schlimmste zu erfahren. Endlich kam er mit großer Heiterkeit zurück. Er konnte Lob für seine Geschäfte erwarten und brachte zugleich in seinen Waren heimlich das Lösegeld mit, wodurch er sich von dem geheimen Verbrechen zu befreien gedachte.
Der Vater nahm seine Relation gut, doch nicht mit
solchem Beifall auf, wie er hoffte, denn der Vorgang
mit dem Gelde machte den Mann zerstreut und verdrießlich,
um so mehr, als er einige ansehnliche Posten
in diesem Augenblicke zu bezahlen hatte. Diese
Laune des Vaters drückte ihn sehr, noch mehr die Gegenwart
der Wände, der Mobilien, des Schreibtisches,
die Zeugen seines Verbrechens gewesen waren. Seine
ganze Freude war hin, seine Hoffnungen und Ansprüche;
er fühlte sich als einen gemeinen, ja als einen
schlechten Menschen.
Er wollte sich eben nach einem stillen Vertriebe der
Waren, die nun bald ankommen sollten, umsehen und
sich durch die Tätigkeit aus seinem Elende herausreißen,
als die Mutter ihn beiseite nahm und ihm mit
Liebe und Ernst sein Vergehen vorhielt und ihm auch
nicht den mindesten Ausweg zum Leugnen offenließ.
Sein weiches Herz war zerrissen; er warf sich unter
tausend Tränen zu ihren Füßen, bekannte, bat um
Verzeihung, beteuerte, daß nur die Neigung zu Ottilien
ihn verleiten können und daß sich keine anderen
Laster zu diesem jemals gesellt hätten. Er erzählte
darauf die Geschichte seiner Reue, daß er vorsätzlich
dem Vater die Möglichkeit, den Schreibtisch zu eröffnen,
entdeckt und daß er durch Ersparnis auf der
Reise und durch eine glückliche Spekulation sich imstande
sehe, alles wieder zu ersetzen.
Die Mutter, die nicht gleich nachgeben konnte, bestand darauf, zu wissen, wo er mit den großen Summen hingekommen sei, denn die Geschenke betrügen den geringsten Teil. Sie zeigte ihm zu seinem Entsetzen eine Berechnung dessen, was dem Vater fehlte; er konnte sich nicht einmal ganz zu dem Silber bekennen, und hoch und teuer schwur er, von dem Golde nichts angerührt zu haben. Hierüber war die Mutter äußerst zornig. Sie verwies ihm, daß er in dem Augenblicke, da er durch aufrichtige Reue seine Besserung und Bekehrung wahrscheinlich machen sollte, seine liebevolle Mutter noch mit Leugnen, Lügen und Märchen aufzuhalten gedenke, daß sie gar wohl wisse, wer des einen fähig sei, sei auch alles übrigen fähig. Wahrscheinlich habe er unter seinen liederlichen Kameraden Mitschuldige, wahrscheinlich sei der Handel, den er geschlossen, mit dem entwendeten Gelde gemacht, und schwerlich würde er davon etwas erwähnt haben, wenn die Übeltat nicht zufällig wäre entdeckt worden. Sie drohte ihm mit dem Zorne des Vaters, mit bürgerlichen Strafen, mit völliger Verstoßung; doch nichts kränkte ihn mehr, als daß sie ihn merken ließ, eine Verbindung zwischen ihm und Ottilien sei eben zur Sprache gekommen. Mit gerührtem Herzen verließ sie ihn in dem traurigsten Zustande. Er sah seinen Fehler entdeckt, er sah sich in dem Verdachte, der sein Verbrechen vergrößerte. Wie wollte er seine Eltern überreden, daß er das Gold nicht angegriffen? Bei der heftigen Gemütsart seines Vaters mußte er einen öffentlichen Ausbruch befürchten; er sah sich im Gegensatze von allem dem, was er sein konnte. Die Aussicht auf ein tätiges Leben, auf eine Verbindung mit Ottilien verschwand. Er sah sich verstoßen, flüchtig und in fremden Weltgegenden allem Ungemach ausgesetzt.
Aber selbst alles dieses, was seine Einbildungskraft verwirrte, seinen Stolz verletzte, seine Liebe kränkte, war ihm nicht das Schmerzlichste. Am tiefsten verwundete ihn der Gedanke, daß sein redlicher Vorsatz, sein männlicher Entschluß, sein befolgter Plan, das Geschehene wiedergutzumachen, ganz verkannt, ganz geleugnet, gerade zum Gegenteil ausgelegt werden sollte. Wenn ihn jene Vorstellungen zu einer dunkeln Verzweiflung brachten, indem er bekennen mußte, daß er sein Schicksal verdient habe, so ward er durch diese aufs innigste gerührt, indem er die traurige Wahrheit erfuhr, daß eine Übeltat selbst gute Bemühungen zugrunde zu richten imstande ist. Diese Rückkehr auf sich selbst, diese Betrachtung, daß das edelste Streben vergebens sein sollte, machte ihn weich; er wünschte, nicht mehr zu leben. In diesen Augenblicken dürstete seine Seele nach einem höhern Beistand. Er fiel an seinem Stuhle nieder, den er mit seinen Tränen benetzte, und forderte Hülfe vom göttlichen Wesen. Sein Gebet war eines erhörenswerten Inhalts: Der Mensch, der sich selbst vom Laster wieder erhebt, habe Anspruch auf eine unmittelbare Hülfe; derjenige, der keine seiner Kräfte ungebraucht lasse, könne sich da, wo sie eben ausgehen, wo sie nicht hinreichen, auf den Beistand des Vaters im Himmel berufen.
In dieser Überzeugung, in dieser dringenden Bitte verharrte er eine Zeitlang und bemerkte kaum, daß seine Türe sich öffnete und jemand hereintrat. Es war die Mutter, die mit heiterm Gesichte auf ihn zukam, seine Verwirrung sah und ihn mit tröstlichen Worten anredete. ›Wie glücklich bin ich‹, sagte sie, ›daß ich dich wenigstens als keinen Lügner finde und daß ich deine Reue für wahr halten kann. Das Gold hat sich gefunden; der Vater, als er es von einem Freunde wiedererhielt, gab es dem Kassier aufzuheben, und durch die vielen Beschäftigungen des Tages zerstreut, hat er es vergessen. Mit dem Silber stimmt deine Angabe ziemlich zusammen; die Summe ist nun viel geringer. Ich konnte die Freude meines Herzens nicht verbergen und versprach dem Vater, die fehlende Summe wieder zu verschaffen, wenn er sich zu beruhigen und weiter nach der Sache nicht zu fragen verspräche.‹ Ferdinand ging sogleich zur größten Freude über. Er eilte, sein Handelsgeschäft zu vollbringen, stellte bald der Mutter das Geld zu, ersetzte selbst das, was er nicht genommen hatte, wovon er wußte, daß es bloß durch die Unordnung des Vaters in seinen Ausgaben vermißt wurde. Er war fröhlich und heiter, doch hatte dieser ganze Vorfall eine sehr ernste Wirkung bei ihm zurückgelassen. Er hatte sich überzeugt, daß der Mensch Kraft habe, das Gute zu wollen und zu vollbringen; er glaubte nun auch, daß dadurch der Mensch das göttliche Wesen für sich interessieren und sich dessen Beistand versprechen könne, den er eben so unmittelbar erfahren hatte. Mit großer Freudigkeit entdeckte er nun dem Vater seinen Plan, sich in jenen Gegenden niederzulassen. Er stellte die Anstalt in ihrem ganzen Werte und Umfange vor; der Vater war nicht abgeneigt, und die Mutter entdeckte heimlich ihrem Gatten das Verhältnis Ferdinands zu Ottilien. Diesem gefiel eine so glänzende Schwiegertochter, und die Aussicht, seinen Sohn ohne Kosten ausstatten zu können, war ihm sehr angenehm.« »Diese Geschichte gefällt mir«, sagte Luise, als der Alte geendigt hatte, »und ob sie gleich aus dem gemeinen Leben genommen ist, so kommt sie mir doch nicht alltäglich vor. Denn wenn wir uns selbst fragen und andere beobachten, so finden wir, daß wir selten durch uns selbst bewogen werden, diesem oder jenem Wunsche zu entsagen; meist sind es die äußern Umstände, die uns dazu nötigen.«
»Ich wünschte«, sagte Karl, »daß wir gar nicht nötig hätten, uns etwas zu versagen, sondern daß wir dasjenige gar nicht kennten, was wir nicht besitzen sollen. Leider ist in unsern Zuständen alles zusammengedrängt, alles ist bepflanzt, alle Bäume hängen voller Früchte, und wir sollen nur immer drunter weggehen, uns an dem Schatten begnügen und auf die schönsten Genüsse Verzicht tun.« »Lassen Sie uns«, sagte Luise zum Alten, »nun Ihre Geschichte weiter hören.« DER ALTE: »Sie ist wirklich schon aus.« LUISE: »Die Entwicklung haben wir freilich gehört; nun möchten wir aber auch gerne das Ende vernehmen. « DER ALTE: »Sie unterscheiden richtig, und da Sie sich für das Schicksal meines Freundes interessieren, so will ich Ihnen, wie es ihm ergangen, noch kürzlich erzählen.
Befreit von der drückenden Last eines so häßlichen
Vergehens, nicht ohne bescheidne Zufriedenheit mit
sich selbst, dachte er nun an sein künftiges Glück und
erwartete sehnsuchtsvoll die Rückkunft Ottiliens, um
sich zu erklären und sein gegebenes Wort im ganzen
Umfange zu erfüllen. Sie kam in Gesellschaft ihrer
Eltern; er eilte zu ihr, er fand sie schöner und heiterer
als jemals. Mit Ungeduld erwartete er den Augenblick,
in welchem er sie allein sprechen und ihr seine
Aussichten vorlegen könnte. Die Stunde kam, und mit
aller Freude und Zärtlichkeit der Liebe erzählte er ihr
seine Hoffnungen, die Nähe seines Glücks und den
Wunsch, es mit ihr zu teilen. Allein wie verwundert
war er, ja wie bestürzt, als sie die ganze Sache sehr
leichtsinnig, ja man dürfte beinahe sagen, höhnisch
aufnahm. Sie scherzte nicht ganz fein über die
Einsiedelei, die er sich ausgesucht habe, über die
Figur, die sie beide spielen würden, wenn sie sich als
Schäfer und Schäferin unter ein Strohdach flüchteten,
und was dergleichen mehr war.
Betroffen und erbittert kehrte er in sich zurück; ihr
Betragen hatte ihn verdrossen, und er ward einen Augenblick
kalt. Sie war ungerecht gegen ihn gewesen,
und nun bemerkte er Fehler an ihr, die ihm sonst verborgen
geblieben waren. Auch brauchte es kein sehr
helles Auge, um zu sehen, daß ein sogenannter Vetter,
der mit angekommen war, ihre Aufmerksamkeit auf
sich zog und einen großen Teil ihrer Neigung gewonnen
hatte.
Bei dem unleidlichen Schmerz, den Ferdinand empfand, nahm er sich doch bald zusammen, und die Überwindung, die ihm schon einmal gelungen war, schien ihm zum zweiten Male möglich. Er sah Ottilien oft und gewann über sich, sie zu beobachten; er tat freundlich, ja zärtlich gegen sie und sie nicht weniger gegen ihn; allein ihre Reize hatten ihre größte Macht verloren, und er fühlte bald, daß selten bei ihr etwas aus dem Herzen kam, daß sie vielmehr nach Belieben zärtlich und kalt, reizend und abstoßend, angenehm und launisch sein konnte. Sein Gemüt machte sich nach und nach von ihr los, und er entschloß sich, auch noch die letzten Faden entzweizureißen. Diese Operation war schmerzhafter, als er sich vorgestellt hatte. Er fand sie eines Tages allein und nahm sich ein Herz, sie an ihr gegebenes Wort zu erinnern und jene Augenblicke ihr ins Gedächtnis zurückzurufen, in denen sie beide, durch das zarteste Gefühl gedrungen, eine Abrede auf ihr künftiges Leben genommen hatten. Sie war freundlich, ja man kann fast sagen, zärtlich; er ward weicher und wünschte in diesem Augenblicke, daß alles anders sein möchte, als er sich vorgestellt hatte. Doch nahm er sich zusammen und trug ihr die Geschichte seines bevorstehenden Etablissements mit Ruhe und Liebe vor. Sie schien sich darüber zu freuen und gewissermaßen nur zu bedauern, daß dadurch ihre Verbindung weiter hinausgeschoben werde. Sie gab zu erkennen, daß sie nicht die mindeste Lust habe, die Stadt zu verlassen; sie ließ ihre Hoffnung sehen, daß er sich durch einige Jahre Arbeit in jenen Gegenden in den Stand setzen könnte, auch unter seinen jetzigen Mitbürgern eine große Figur zu spielen. Sie ließ ihn nicht undeutlich merken, daß sie von ihm erwarte, daß er künftig noch weiter als sein Vater gehen und sich in allem noch ansehnlicher und rechtlicher zeigen werde. Nur zu sehr fühlte Ferdinand, daß er von einer solchen Verbindung kein Glück zu erwarten habe, und doch war es schwer, so vielen Reizen zu entsagen. Ja vielleicht wäre er ganz unschlüssig von ihr weggegangen, hätte ihn nicht der Vetter abgelöst und in seinem Betragen allzuviel Vertraulichkeit gegen Ottilien gezeigt. Ferdinand schrieb ihr darauf einen Brief, worin er ihr nochmals versicherte, daß sie ihn glücklich machen würde, wenn sie ihm zu seiner neuen Bestimmung folgen wollte, daß er aber für beide nicht rätlich hielte, eine entfernte Hoffnung auf künftige Zeiten zu nähren und sich auf eine ungewisse Zukunft durch ein Versprechen zu binden.
Noch auf diesen Brief wünschte er eine günstige Antwort; allein sie kam nicht, wie sein Herz, sondern wie sie seine Vernunft billigen mußte. Ottilie gab ihm auf eine sehr zierliche Art sein Wort zurück, ohne sein Herz ganz loszulassen, und ebenso sprach das Billett auch von ihren Empfindungen; dem Sinne nach war sie gebunden und ihren Worten nach frei. Was soll ich nun weiter umständlich sein? Ferdinand eilte in seine friedlichen Gegenden zurück, seine Einrichtung war bald gemacht; er war ordentlich und fleißig und ward es nur um so mehr, als das gute, natürliche Mädchen, die wir schon kennen, ihn als Gattin beglückte und der alte Oheim alles tat, seine häusliche Lage zu sichern und bequem zu machen. Ich habe ihn in spätern Jahren kennenlernen, umgeben von einer zahlreichen, wohlgebildeten Familie. Er hat mir seine Geschichte selbst erzählt; und wie es Menschen zu gehen pflegt, denen irgend etwas Bedeutendes in früherer Zeit begegnet, so hatte sich auch jene Geschichte so tief bei ihm eingedrückt, daß sie einen großen Einfluß auf sein Leben hatte. Selbst als Mann und Hausvater pflegte er sich manchmal etwas, das ihm Freude würde gemacht haben, zu versagen, um nur nicht aus der Übung einer so schönen Tugend zu kommen, und seine ganze Erziehung bestand gewissermaßen darin, daß seine Kinder sich gleichsam aus dem Stegreife etwas mußten versagen können. Auf eine Weise, die ich im Anfang nicht billigen konnte, untersagte er zum Beispiel einem Knaben bei Tische, von einer beliebten Speise zu essen. Zu meiner Verwunderung blieb der Knabe heiter, und es war, als wenn weiter nichts geschehen wäre.
Und so ließen die ältesten aus eigener Bewegung
manchmal ein edles Obst oder sonst einen Leckerbissen
vor sich vorbeigehen; dagegen erlaubte er ihnen,
ich möchte wohl sagen, alles, und es fehlte nicht an
Arten und Unarten in seinem Hause. Er schien über
alles gleichgültig zu sein und ließ ihnen eine fast unbändige
Freiheit; nur fiel es ihm die Woche einmal
ein, daß alles auf die Minute geschehen mußte. Alsdann
wurden des Morgens gleich die Uhren reguliert,
ein jeder erhielt seine Ordre für den Tag, Geschäfte
und Vergnügungen wurden gehäuft, und niemand
durfte eine Sekunde fehlen. Ich könnte Sie stundenlang
von seinen Gesprächen und Anmerkungen über
diese sonderbare Art der Erziehung unterhalten. Er
scherzte mit mir als einem katholischen Geistlichen
über meine Gelübde und behauptete, daß eigentlich
jeder Mensch sowohl sich selbst Enthaltsamkeit als
andern Gehorsam geloben sollte, nicht um sie immer,
sondern um sie zur rechten Zeit auszuüben.«
Die Baronesse machte eben einige Anmerkungen
und gestand, daß dieser Freund im ganzen wohl recht
gehabt habe; denn so komme auch in einem Reiche
alles auf die exekutive Gewalt an; die gesetzgebende
möge so vernünftig sein, als sie wolle, es helfe dem
Staate nichts, wenn die ausführende nicht mächtig sei.
Luise sprang ans Fenster, denn sie hörte Friedrichen
zum Hofe hereinreiten. Sie ging ihm entgegen
und führte ihn ins Zimmer. Er schien heiter, ob er
gleich von Szenen des Jammers und der Verwüstung
kam, und anstatt sich in eine genaue Erzählung des
Brandes einzulassen, der das Haus ihrer Tante betroffen,
versicherte er, daß es ausgemacht sei, daß der
Schreibtisch zu eben der Stunde dort verbrannt sei, da
der ihrige hier so heftige Sprünge bekommen hatte.
»In eben dem Augenblicke«, sagte er, »als der
Brand sich schon dem Zimmer näherte, rettete der
Verwalter noch eine Uhr, die auf eben diesem
Schreibtische stand. Im Hinaustragen mochte sich
etwas am Werke verrücken, und sie blieb auf halb
zwölfe stehen. Wir haben also, wenigstens was die
Zeit betrifft, eine völlige Übereinstimmung.« Die Baronesse
lächelte, der Hofmeister behauptete, daß,
wenn zwei Dinge zusammenträfen, man deswegen
noch nicht auf ihren Zusammenhang schließen könne.
Luisen gefiel es dagegen, diese beiden Vorfälle zu
verknüpfen, besonders da sie von dem Wohlbefinden
ihres Bräutigams Nachricht erhalten hatte; und man
ließ der Einbildungskraft abermals vollkommen freien
Lauf.
»Wissen Sie nicht«, sagte Karl zum Alten, »uns irgendein
Märchen zu erzählen? Die Einbildungskraft
ist ein schönes Vermögen, nur mag ich nicht gern,
wenn sie das, was wirklich geschehen ist, verarbeiten
will. Die luftigen Gestalten, die sie erschafft, sind uns
als Wesen einer eigenen Gattung sehr willkommen;
verbunden mit der Wahrheit, bringt sie meist nur Ungeheuer
hervor und scheint mir alsdann gewöhnlich
mit dem Verstand und der Vernunft im Widerspruche
zu stehen. Sie muß sich, deucht mich, an keinen Gegenstand
hängen, sie muß uns keinen Gegenstand aufdringen
wollen, sie soll, wenn sie Kunstwerke hervorbringt,
nur wie eine Musik auf uns selbst spielen, uns
in uns selbst bewegen, und zwar so, daß wir vergessen,
daß etwas außer uns sei, das diese Bewegung
hervorbringt.«
»Fahren Sie nicht fort«, sagte der Alte, »Ihre Anforderungen an ein Produkt der Einbildungskraft umständlicher auszuführen. Auch das gehört zum Genuß an solchen Werken, daß wir ohne Forderungen genießen; denn sie selbst kann nicht fordern, sie muß erwarten, was ihr geschenkt wird. Sie macht keine Plane, nimmt sich keinen Weg vor, sondern sie wird von ihren eigenen Flügeln getragen und geführt, und indem sie sich hin und her schwingt, bezeichnet sie die wunderlichsten Bahnen, die sich in ihrer Richtung stets verändern und wenden. Lassen Sie auf meinem gewöhnlichen Spaziergange erst die sonderbaren Bilder wieder in meiner Seele lebendig werden, die mich in frühern Jahren oft unterhielten. Diesen Abend verspreche ich Ihnen ein Märchen, durch das Sie an nichts und an alles erinnert werden sollen.« Man entließ den Alten gern, um so mehr, da jedes von Friedrichen Neuigkeiten und Nachrichten von dem, was indessen geschehen war, einzuziehen hoffte.
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