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2019-11-21

J.W.v.Goethe: VOSS UND STOLBERG (AP)



VOSS UND STOLBERG 

Man erlebt wohl, daß nach einem zwanzigjährigen Ehestand ein im geheimen mißhelliges Ehepaar auf Scheidung klagt, und jedermann ruft aus: „Warum habt ihr das so lange geduldet, und warum duldet ihrs nicht bis ans Ende?“

Allein dieser Vorwurf ist höchst ungerecht. Wer den hohen würdigen Stand, den die eheliche Verbindung in gesetzlich gebildeter Gesellschaft einnimmt, in seinem ganzen Werte bedenkt, wird eingestehen, wie gefährlich es sei, sich einer solchen Würde zu entkleiden; er wird die Frage aufwerfen : ob man nicht lieber die einzelnen Unannehmlichkeiten des Tags, denen man sich meist noch gewachsen fühlt, übertragen und ein verdrießliches Dasein hinschleifen solle, anstatt übereilt sich zu einem Resultat zu entschließen, das denn leider wohl zuletzt, wenn das Fazit allzu lästig wird, gewaltsam von selbst hervorspringt.

Mit einer jugendlich eingegangenen Freundschaft ist es ein ähnlicher Fall. Indem man sich in ersten, hoffnungsreich sich entwickelnden Tagen einer solchen Verbindung hingibt, geschieht es ganz unbedingt: an einen Zwiespalt ist jetzt und in alle Ewigkeit nicht zu denken. Dieses erste Hingeben steht viel höher als das von leidenschaftlich Liebenden am Altar ausgesprochene Bündnis, denn es ist ganz rein, von keiner Begierde, deren Befriedigung einen Rückschritt befürchten läßt, gesteigert; und daher scheint es unmöglich, einen in der Jugend geschlossenen Freundschaftsbund aufzugeben, wenn auch die hervortretenden Differenzen mehr als einmal ihn zu zerreißen bedrohlich obwalten.

Bedenkt man die Beschwerden von Voß gegen Stolberg genau, so findet sich gleich bei ihrem ersten Bekanntwerden eine Differenz ausgesprochen, welche keine Ausgleichung hoffen läßt.

Zwei gräfliche Gebrüder, die sich beim Studentenkaffee schon durch besseres Geschirr und Badewerk hervortun, deren Ahnenreihe sich auf mancherlei Weise im Hintergründe hin und her bewegt, wie kann mit solchen ein tüchtiger, derber, isolierter Autochthon in wahre dauernde Verbindung treten? Auch ist der beiderseitige Bezug höchst lose: eine gewisse jugendliche liberale Gutmütigkeit bei obwaltender ästhetischer Tendenz versammelt sie, ohne zu vereinigen; denn was will ein bißchen Meinen und Dichten gegen angeborne Eigenheiten, Lebenswege und Zustände!

Hätten sie sich indessen von der Akademie nach Norden und Süden getrennt, so wäre ein gewisses Verhältnis in Briefen und Schriften noch allenfalls fortzuhalten gewesen; aber sie nähern sich örtlich, verpflichten sich wechselsweise zu Dienst und Dank, nachbarlich wohnen sie, in Geschäften berühren sie sich, und im Innern uneins, zerren sie sich an elastischen Banden unbehaglich hin und wider.

Die Möglichkeit aber, daß eine solche Quälerei so lange geduldet, eine solche Verzweiflung perennierend werden konnte, ist nicht einem jeden erklärbar; ich aber bin überzeugt, daß die liebenswürdig-vermittelnde Einwirkung der Gräfin Agnes dieses Wunder geleistet.

Ich habe mich selbst in ihren blühenden, schönsten Jahren an ihrer anmutigsten Gegenwart erfreut und ein Wesen an ihr gekannt, vor dem alsobald alles Mißwillige, Mißklingende sich auflösen, verschwinden mußte. Sie wirkte nicht aus sittlichem, verständigem, genialem, sondern aus frei-heiterm, persönlich-harmonischem Übergewicht. Nie sah ich sie wieder, aber in allen Relationen, als Vermittlerin zwischen Gemahl und Freund, erkenn ich sie vollkommen. Durchaus spielt sie die Rolle des Engel Grazioso in solchem Grade lieblich, sicher und wirksam, daß mir die Frage blieb: ob es nicht einen Calderon, den Meister dieses Faches, in Verwunderung gesetzt hätte?

Nicht ohne Bewußtsein, nicht ohne Gefühl ihrer klaren Superiorität bewegt sie sich zwischen beiden Unfreunden und spiegelt ihnen das mögliche Paradies vor, wo sie innerlich schon die Vorboten der Hölle gewahr werden.

Die Göttliche eilt zu ihrem Ursprung zurück: Stolberg sucht nach einer verlorenen Stütze, und die Rebe schlingt sich zuletzt ums Kreuz. Voß dagegen läßt sich von dem Unmut übermeistern, den er schon so lange in seiner Seele gehegt hatte, und offenbart uns ein beiderseitiges Ungeschick als ein Unrecht jener Seite. Stolberg mit etwas mehr Kraft, Voß mit weniger Tenazität hätten die Sache nicht so weit kommen lassen. Wäre auch eine Vereinigung nicht möglich gewesen, eine Trennung würde doch leidlicher und läßlicher geworden sein.

Beide waren auf alle Fälle zu bedauern; sie wollten den früheren Freundschaftseindruck nicht fahren lassen, nicht bedenkend, daß Freunde, die am Scheidewege sich noch die Hand reichen, schon voneinander meilenweit entfernt sind.

Nehmen die Gesinnungen einmal eine entgegengesetzte Richtung, wie soll man sich vertraulich das Eigenste bekennen! Gar wunderlich verargt daher Voß Stoibergen eine Verheimlichung dessen, was nicht auszusprechen war, und das, endlich ausgesprochen, obgleich vorhergesehen, die verständigsten, gesetztesten Männer zur Verzweiflung brachte.

Wie benahm sich Jacobi und mancher andere! Und wird man die Sache künftig so wichtig finden, als sie im Augenblick erschien? Das weiß ich nicht, aber ein gleicher Skandal wird sich ganz gewiß ereignen, wenn Katholizismus und Protestantismus, wären sie auch noch so lange im Trüben nebeneinander hergeschlichen, plötzlich im einzelnen Falle in schreienden Konflikt geraten.

Aber nicht allein Religion wird solche Phänomene hervorbringen: politische, literarische unvermutet entdeckte Differenzen werden das gleiche tun. Man erinnere sich nur an die unglückliche Entdeckung von Lessings geheimer spinozistisdier Sinnesart durch Friedrich Jacobi, worüber Mendelssohn in buchstäblichem Sinne sich den Tod holte.

Wie hart war es für die Berliner Freunde, die sich mit Lessing so innig zusammengewachsen glaubten, auf einmal erfahren zu sollen, daß er einen tiefen Widerspruch vor ihnen zeit- lebens verheimlicht habe!
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