Wenn die Verbindung mit Helena nur der poetische Ausdruck für einen Vorgang in Fausts Seele
ist, so kann das Wesen, das aus der Ehe hervorgeht,
nicht anders beurteilt werden.
In den Fausthandschriften wird der Knabe Lenker
zuweilen Euphorion genannt (Szenar zu Vers 5 5 20,
5535) 5552, 5560). Dadurch wird das bestätigt, was
Eckermann unter dem 20. Dez. 1829 berichtet. Goethe habe ihm gesagt, der Knabe Lenker sei mit Euphorion
identisch. Als Eckermann sein Befremden über diese
Behauptung äußerte, antwortete Goethe: ,,Der Euphorion ist kein menschliches, sondern nur ein allegorisches Wesen. Es ist in ihm die Poesie personifiziert, die an keine Zeit, an keinen Ort und an keine
Person gebunden ist. Derselbige Geist, dem es später
beliebt Euphorion zu sein, erscheint jetzt als Knabe
Lenker."
Wie früher dargelegt wurde (S. 8 f.), ist ,, Poesie"
hier nicht in dem uns geläufigen Sinn zu verstehen,
das Wort bezeichnet vielmehr die produktive Phantasie,
die ein Gemeingut der Menschheit ist und sich in
Einzelnen , besonders Bevorzugten zu dem steigert,
was Goethe sonst poetischen Bildungstrieb, innere
Schöpfungskraft nennt. ,,In dem Menschen ist eine
bildende Natur", so heißt es in dem Aufsatz ,,Von
deutscher Baukunst", ,,die gleich sich tätig beweist,
wenn seine Existenz gesichert ist. Sobald er nichts zu sorgen und zu fürchten hat, greift der Halbgott,
wirksam in seiner Ruhe, umher nach Stoff, ihm seinen
Geist einzuhauchen. — Da seht ihr bei Nationen und
einzelnen Menschen dann unzählige Grade. Je mehr
sich die Seele erhebt zu dem Gefühl der Verhältnisse,
die allein schön und von Ewigkeit sind, deren Hauptakkorde man beweisen, deren Geheimnisse man nur
fühlen kann, in denen sich allein das Leben des gottgleichen Genius in seligen Melodien herumwälzt: jemehr diese Schönheit in das Wesen eines Geistes eindringt, daß sie mit ihm entstanden zu sein scheint,
daß ihm nichts genug tut als sie, daß er nichts aus
sich wirkt als sie: desto glücklicher ist der Künstler,
desto herrlicher ist er, desto tief gebeugter stehen wir
da und beten an den Gesalbten Gottes."
Auch in Faust ist der poetische Bildungstrieb
mächtig. Nachdem die Schönheit von seinem Geist
Besitz ergriffen hat, will er selbst das Schöne schaffen.
Dieses Streben ist in Euphorien persönlich dargestellt.
Zu selbständigem Leben weiterentwickelt, ist die Personifikation zum Genius des Schönen geworden.
„Und so regt er sich gebärdend, sich als Knabe
schon verkündend
Künftigen Meister alles Schönen, dem die ewigen
Melodien
Durch die Glieder sich bewegen."
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