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2019-11-20

Oskar Kanehl-Der junge Goethe im Urteile des jungen Deutschland-Einleitung. (2)

Der junge Goethe im Urteile des jungen Deutschland


Einleitung. 

Jung und Jung gesellt sich gern. So ist es kein Wunder, wenn die beiden literarischen Kräfte, die das neunzehnte Jahrhundert durch das Eigenschaftswort „jung" zu zwei besonders charakteristischen Einheiten zusammengefaßt hat, das junge Deutschland und der junge Goethe, in dem Sinne sich zusammenfanden, daß das junge Deutschland durch Goethes Jugendwerke mächtig angezogen wurde. Aber mit dieser Feststellung ist im Grunde noch nichts geschehen. Die ganze Wesensart jenes göttlichen Geistes hätte das junge Deutschland nicht ertragen, und so kommt es erst darauf an festzustellen, welche' besonderen Züge jenes Universums die Jungdeutschen sich herausholten, wie sie sich sein Bild zurechtlegten und beleuchteten, um es begreifen zu können. War doch das Verhältnis der jungen Romantiker zum jungen Goethe ein durchaus anderes gewesen.

Als Vorarbeit ist die Rechenschaftslegung über den Ursprung und die Klarheit der in unserer Frage enthaltenen Begriffe erforderlich. In einer Einleitung wollen wir deshalb der Untersuchung zu Grunde legen, was und wen wir mit dem Begriff des jungen Deutschland meinen, woher und wie wir den Begriff des jungen Goethe fassen, in welcher Weise schließlich wir uns das Urteil des jungen Deutschland über den jungen Goethe verständlich machen wollen. Mit einer bloßen Sammlung von Aussprüchen jungdeutscher Autoren über den jungen Goethe ist offenbar nichts geleistet.

Die Jahrhundertwende ist ebensowenig wie Goethes Tod ein literarhistorischer Markstein. Für die — ja nicht allein literarischen — sondern allgemein kulturellen Gärungen, die um diese Zeit jedem fühlbar werden, ist jene ein zu früh, diese ein zu spät angesetztes Datum. Beide mögen etwa als die Grenzen gelten, innerhalb deren sich eben das zu regen beginnt, was wir als ein Neues anzusprechen genötigt werden, und was uns jetzt mit dem Namen „Jungdeutscher Sturm und Drang' am treffendsten gekennzeichnet scheint. Trotz Treitschkes Protest jung und deutsch. Beides aus dem Gefühl heraus, in eine Zeit geworfen zu sein, die in Stagnation auf allen Gebieten zu versanden drohte, aus dem unbehaglichen Gefühl heraus, Epigonen eines Blütezeitalters: Friedrichs des Großen, Goethes und Schillers zu heißen. In den Jungdeutschen wohnt der tragische Schmerz ihrer Abstammung von Göttereltern. Steckt Eigenblut in solchen Söhnen, so sind sie die geborenen Protestier. Jugendliche Geister wollen sich nicht einlullen lassen vom Ruhm der Vorfahren, sie wollen ihre Nachkommen, aber nicht ihre Nachtreter sein. Jeder Jungdeutsche, auch der, dessen psychische Anlage auf andere Wege weist, ist daher Kämpfer, Kritiker, Programmatiker und ausgesprochener Gegenwartsmensch. Politik, Religion, Literatur, Gesellschaft, alles überhaupt ist dem in eine neue Zukunft Schauenden Feld, seinen Reformationstrieb auszuleben. Sich vom Anker des starrsten Absolutismus loszureißen und wieder in den Strom lebendigen Lebens zu steuern fühlen sie als ihrer Jugend Beruf. So hören wir den einen: „Wie sich aber unser nationales Leben in Zukunft gestalten und entfalten wird, so viel scheint gewiß zu sein, daß die Hoffnung der Zukunft einerseits beruhe auf der Jugend andererseits auf der Wahl desselben Weges, auf dem Luther den ersten Riesenschritt machte und auf dem ihn die Pygmäen der Folgezeit im Stich gelassen haben. Ich meine auf dem Wege des Protestierens, des Protestierens gegen alle Unnatur und Willkühr, gegen den Druck des freien Menschengeistes., gegen todtes und hohles Formelwesen, Protestieren wider die Ertödtung des jugendlichen Geistes".

D. F. Straußens „Leben Jesu" protestiert gegen die Verdogmatisierung religiösen Lebens, Arnold Rüge, der temperamentvolle Herausgeber der Hallischen Jahrbücher, protestiert gegen die Verabsolutierung politischen Lebens. Ein ..jugendlicher Geist" überall;  "junger Kopf und junges Herz".

Dazu kommt das Merkmal eines neuen Deutschtums. Gewiß, Patrioten waren auch die Romantiker, aber in einem anderen Sinne: als Lobsinger deutscher Art und Kunst der Vergangenheit. Der Jungdeutsche zeigt seine Vaterlandsliebe durch praktisches Eingreifen in seine politische Gegenwart. Der Romantiker war stolz auf sein Vaterland und umdichtete es; der Jungdeutsche schämt sich seines Vaterlandes und übt Kritik an ihm. Er ist deutsch nicht als Lokalpatriot, sondern in einem noch zukunftsunsicheren, etwas kosmopolitisch, humanitätsidealistisch gefärbten Begriff eines deutschen Reichsbürgers. Der romantische Patriotismus war ein dichterischer und kulturgeschichtlicher, der jungdeutsche ein praktischer und politischer Patriotismus. Börne und Gutzkow sind deshalb keine schlechteren Patrioten als die Brüder Grimm oder Arnim und Brentano. Dieses „junge Deutschland" — und das ist das weitere Neue — strebt mit Bewußtsein, im Gegensatz zu seiner Vätergeneration eine realistische Wirksamkeit, eine Nützlichkeits- ja Tageswirksamkeit an. An Stelle des romantischen Gefühlsüberschwangs tritt eine Verstandesnüchternheit, an Stelle aristokratischer Abgeschiedenheit eine Menschenverbrüderung. Sehnen wird in dieser Zeit Forschen, Glauben wird Wissen. Die gläubig kühne Wissenschaft der Schlegel und Grimm weicht der strengen Observation der Lachmann und Ranke. Der Nebel schwindet. Hegels starre Systematik sucht man zu verlebendigen, Schellings erdfremde Naturphilosophie ins Erdenhafte zu ziehen. Ins Allerheiligste dringt kritische Kühnheit, die Gottheiten selbst kommen vor menschlichen Richterstuhl. Diese Zeit ist die Geburtsstunde der Heimatkunst eines Auerbach und der Dialektdichtungen der Klaus Groth und Fritz Reuter mit allen ihren Ausläufern bis zu den naturalistischen Dialektkünstlern, die Geburtsstunde der Schöpfungen der ersten bildnerischen Realisten ebenso wie der Richard Wagners, sie ist die Wiege des Sozialismus, die Wiege der Großmacht Naturwissenschaft. Symbole von gestern und heute sind Postkutsche und Eisenbahn.

Man denkt an den großen Jungfranzosen Honore de Balzac. Alle Falten menschlicher Gesellschaft durchsucht auch das beobachtende Auge der Jungdeutschen, und wo sie künstlerisch produktiv werden, sind sie wie jener Realist. ,, Vertiefung in die gemeine Wirklichkeit", wie ein Verächter des jungen Deutschland sagt, „ist das Wesen der jungdeutschen Literatur" , von Heines Lyrik ebensogut wie vom Roman und Drama der Gutzkow und Laube. Aus der romantischen Mondnacht gingen sie in einen jungdeutschen lichtvollen Tag. Im goetheschen Sinne ,, zeitgläubig" glaubten sie alle wie Gutzkow: „Nur wer seiner Zeit sich widmet, der gehört auch den späteren Zeiten an"  So gedreht und gezwungen sich Gutzkows „Glaubensbekenntnis" im Phönix auch liest, es ist das Bekenntnis der Zeitgenossen:  „Ich glaube an die Zeit, die allmächtige Schöpferin Himmels und der Erden, und ihren eingeborenen Sohn, die Kunst, welche viel gelitten hat unter Pontius und Pilatus, von Crethi und Plethi, und doch die Welt erlösen helfen wird, und bis dahin glaub' ich an den heiligen Geist der Kritik, welchen die Welt gesandt hat, zu richten die Lebendigen und die Todten".

Alle Jungdeutschen sind — und das Ist die Folge der vorher genannten Eigenschaften — bis zu einem gewissen Grade Journalisten, manche ausschließlich. Sie waren es, die bei uns den Journalismus nach einem Worte Balzacs zur „Religion der modernen Gesellschaft" gemacht haben. „Zur Schönheit fehlt's an Ruhe, aber zur Wahrheit ist stachelnde Aufforderimg da" . Es haftet deshalb einem großen Teile ihres Schrifttums das Merkmal an, das Wienbarg seinem Programmbuch, den „Ästhetischen Feldzügen" in der Zueignung voranschickt: „Flüchtige Ergüsse wechselnder Aufregung"; ebenso aber auch das andere: „alle aus der Sehnsucht des Gemüths nach einem besseren und schöneren Volksleben entsprungen". Wenn man bedenkt, mit welchen äußeren Schwierigkeiten obendrein diese Jugend zu kämpfen hatte in jener Zeit, wo. wie Gutzkow witzelt, „ein politischer Prozeß" möglich war, „wenn ein Naturforscher auf den Flügeln eines Schmetterlings Farben gefunden hatte, die zu den verbotenen gehörten", so kann man der unbeirrten Charakterfestigkeit eines Börne, Gutzkow und Wienbarg nur Bewunderung zollen. All diese Kämpfe aber machen die jungdeutsche Zeit zu einer zerrissenen Zeit. Und das ist das letzte allgemein typisch Neue. Widerspruchsvolle Menschen treten uns entgegen, ohne den Duktus der geschlossenen Persönlichkeit. „Alles ist in Gährung gebracht. Nichts kann als stabil gelten ; es wankt Alles, Alles ist flüssig und flüchtig. Der Geist der Unruhe bezeichnet unsere dermalge Literatur", so schreibt der Berichterstatter über die Jahre 1835 und 36 im „Deutschen Taschenbuch auf das Jahr 1837", Hermann Marggraff. Im Gegensatz zu der beschaulichen Ruhe des alten Goethe und der behaglich unbekümmerten Welt-Vergessenheit romantischer Helden ist die Physiognomie der neuen Zeit „ähnlich wie die des Janus, wie die eines Doppelgesichts, wovon das eine einer geordneten Vergangenheit, das andere einer ungeordneten in Geburtswehen begriffenen Zukunft angehört, welche wird durch die Kräfte, die in der Gegenwart sich rühren.

Die Einheit der Romantik, alles nach ihrem künstlerischen Gesichtspunkt einzustellen, wird bei den Jungdeutschen, nicht zu ihrem Vorteil, zerrissen. Wie zwischen Himmel und Erde schweben sie zwischen Kunst und Leben, zwischen Ewigkeit und Heute. An Börne schreiben Wienbarg und Gutzkow anläßlich der „Deutschen Revue": „Wir sind zu sehr Demagog, um Kastraten der Kunst zu werden: und wieder zu eifersüchtig auf das was man Schiller und Goethe nennt, um ein ausschließlicher Demagog zu sein. Das sind Halbheiten, die uns sehr unglücklich machen." Börne fordert zwar mit Nachdruck die Synthese, aber diese Übergangszeit ist eben in ihrem Besten eine fordernde Zeit, eine kritische, abtuende und wegweisende Zeit. Deshalb ist allen Jungdeutschen dieser furcht- und mitleiderregende, tragische Zug gemein, diese Doppelseeligkeit eines fordernden, starken Tatenmenschen und eines resignierenden, weichen Gefühlsmenschen, die sogar ihre Opfer haben mußte.

Neben den von uns genannten Zeichen eines Neuen , die uns während der ersten Jahrzehnte des neuen Jahrhunderts zu wachsen scheinen und zu ihrem sichtbarsten und höchsten Ausdruck sich vielleicht im Jahre 1835 sammeln, tritt nun speziell literarisch noch das Zeichen einer neuen Wendung in der Verehrung Goethes hinzu. In der anonym erschienen Broschüre „Goethe und sein Jahrhundert" aus ebendem Sturm- und Drangjahre 1835 lesen wir (S. 10) : „Seit mehr als vierzig Jahren stürmt es unaufhörlich am literarischen Himmel von Deutschland. Es bläst immerfort aus allen Ecken! Dazwischen ertönt beständig Goethe ! Goethe ! Da dieser aber so viele Gestalten hat, muß man jedesmal fragen, welche es denn ist, die angerufen wird ?" Aus diesem Stimmengewirr nun erkennen wir den jungdeutschen Goetheruf deutlich als einen Ruf nach dem „jungen" Goethe.

Durch unsere begriffliche Festlegung des „jungen Deutschland" ist gleichzeitig eine Auswahl der Namen gewonnen die uns in dieser Untersuchung begegnen werden. Die vielfachen Sonderentwicklungen, die wir neben dem jungdeutschen Sturm und Drang antreffen, schalten sich hier von selber aus, ohne daß wir auch in ihnen Spuren jener neuen Evolution leugnen. Nichts wird von drei eminent produktiven Naturen verlauten: Immermann, Platen, Annette v. Droste-Hülshoff. Ein abgesonderter, traditionsfester, stiller Sucher ist Immermann, und gerade was die neue Generation in erster Linie auszeichnet, hat man an ihm immer vermißt: die Jugendlichkeit. Seine Stellung zu Goethe nimmt daher auch nicht die Richtung die wir bei den Jungdeutschen erkennen. Ebensowenig den Zeichen einer neuen Epoche verwandt geht Platen einher. Er war „eine schönheitsdurstige Seele, der es nicht gelang, das Schöne in der Nähe zu finden" . „In einer Zeit der größten Ereignisse besaß Platen in staunenswert geringem Grade das Talent, etwas zu erleben". Er war einer, „dem die Kunst zu viel und das Leben zu wenig" galt, dem jungdeutschen Programm diametral entgegengesetzt. Auch die Droste war „mit dem Geschmack ihrer Zeit so gut wie mit ihren geistigen Tendenzen in Widerspruch und Kampf". Ihre „merkwürdig autochthone Poesie" ist „von dem mächtigen Stromgebiet unserer Klassiker wie durch steile Mauern abgeschnitten".

Aus gleichen Gründen werden überhaupt die vornehmlich lyrischen Talente dieser unlyrischen Zeit beiseite stehen müssen: Rückert, Simrock, Scherenberg, Hoffmann von Fallersleben, Kopisch ebenso wie Anastasius Grün, Lenau und Mörike.

Was wir sonst noch als Nebentriebe des jungen Deutschland genannt finden, Männer wie W. Alexis, H. König, A. Becker, 0. Müller, H. Kurz haben wohl diesen oder jenen Zug mit unseren Stürmern und Drängern gemein, etwa den politischen oder den zu realistischer Darstellungsweise, sind aber im Ganzen als Persönlichkeiten nicht durch jene Merkmale, besonders nicht das uns nächstangehende einer neuen Goetheverkündung bestimmt. Befragt man die zeitgenössische Zunft der Literarhistoriker nach ihrer Stellung zu Goethe: Koberstein, Vilmar, Kurz, Wackernagel oder Gervinus, so muß man gestehen, daß auch sie nur in sehr bescheidenem Maße davon erkennen lassen was in der gleichaltrigen Schriftstellergeneration zu Tage tritt. Meist von der Kritik der Schlegel ausgehend, halten sie sich entweder hinter wissenschaftlicher Parteilosigkeit verschanzt oder befinden sich gar im Lager der Goethegegner.

Welches ist nun dieses „Junge Deutschland" und welches sind die Namen, die uns die neue Wendung in der Geschichte des Fortlebens unseres größten Dichters zutragen ? Wir geben uns nicht der Täuschung hin, daß wir, nachdem wir so die Ernte dieses ersten Drittels des 19 Jahrhunderts durchsiebt haben, nun einen reinen jungdeutschen Weizen zurückbehalten. Auch jetzt noch müssen wir auswählen. Wir prüfen nicht die Allgemeinheit der jungdeutschen Menschen auf ihr Urteil über den jungen Goethe, etwa aus Tagebüchern oder Briefen, sondern die jungdeutschen Dichter und Schriftsteller, und unter ihnen auch nur die, bei denen uns das Material zu unserem Thema am reichlichsten fließt. Unbedingte Vollständigkeit ist ein Ideal, auf das keine Geisteswissenschaft Anspruch erheben kann.

Zum historischen Verständnis des jungdeutschen Urteils über Goethe scheint es uns zuerst nötig, einen Blick auf den nachromantischen Goethekult, den Goethehaß und die Frauen, Rahel Varnhagen, Bettina von Arnim und Charlotte Stieglitz zu werfen. Sie sind die Bedingung für die neue Wendung in der Beurteilung Goethes durch das junge Deutschland. Hiernach werden wir uns beschäftigen mit  Menzel, Börne, Heine und von den eigentlichen Jungdeutschen mit Gutzkow, Laube, Wienbarg, Mundt und Kühne.

Die Rahel und Bettina leben der Chronologie nach noch in der Romantik, ihre Bücher treten aber erst um das von uns bezeichnete Jahr an die Öffentlichkeit; und eben den in ihnen steckenden neuzeitlichen Keimen verdanken sie ihre große Wirksamkeit. Ihre Persönlichkeit ist bestimmt durch Goethe, und gerade das hat, teils durch ihre Veröffentlichungen, teils durch persönlichen Verkehr Wirkung auf die jungdeutschen Gemüter gehabt. — Gehört Heine zum jungen Deutschland? Die Meinungen gehen auseinander. Wie jeder Große sträubt sich Heine dagegen zu einer literarischen Gruppe geschlagen zu werden. Zeiten und Richtungen sind in ihm zu Einem geworden. Große sind Vollender und Künder zugleich. Groß sind sie als Abschluß und Anfang. „Der Dichter steht auf einer höheren Warte als auf den Zinnen der Partei". Heine ist Dichter und Schriftsteller. Nicht Heines eigenes und das Urteil seiner Zeitgenossen allein bestimmen mich, den Schriftsteller auf jeden Fall als jungdeutsch in Anspruch zu nehmen. Zumal in einer Untersuchung über seine Beziehungen zu Goethe wird er von der Romantik abgerückt und einer neuen Zeit zugerechnet werden müssen.

Wieviel Einigendes wir auch bei den jungdeutschen Persönlichkeiten gefunden haben, es ist unberechtigt, ebenso wie bei der Romantik, sie unter dem Begriff einer Schule zu behandeln. Die Willkür, mit der Zensorenweisheit eine Reihe jungdeutschscher Literaten in dem zweifelhaft berühmten Bücherbannfluch vom 10. 12. 1835 zusammengeworfen hat, darf nicht irre führen. Wenn sich auch für diese Schriftstellergeneration, mehr als bei der Romantik, ein verhältnismäßig eindeutiger Begriff uns aufzudrängen scheint, eine große Anzahl Individualmerkmale, die Gattungsmerkmale sind, so wäre es doch eine Versündigung gegen die Persönlichkeiten die einzelnen Mitglieder, wenn man sie nach solcher gleichmachenden Methode abhandeln wollte. Marggraff sagt von den Zentraljahren der Bewegung: ,, Jeder von uns bildet jetzt eine Partei für sich" . . . Untereinander sind sie sich nicht Freunde, sie haben aber gemeinsame Feinde. Zeitblut macht sie verwandt, persönliches Blut scheidet sie. Es ist deshalb Erkenntnisnotwendigkeit, die Dinge zunächst für sich anzusehen, wie sie sind, aus ihnen dann eine Welt zusammenschauen zu kommen, ist wohlverdienter Lohn. Erst die Analyse, dann die Synthese — das ist der Weg aller Wissenschaft.

Goethe selbst, der erste Goethephilologe, hat in Dichtung und Wahrheit und an anderen Stellen sich zum Gegenstande historischer Betrachtung gemacht und es ausgesprochen, daß der Iphigenien- und Tasso-Dichter ein anderer sei als der Götz- und Wertherdichter. Fast mit Reue sah er auf die Früchte dieses Unreifen zurück. Wenn er es versucht, die Seele des jungen Goethe zu begreifen, so tut er dies von Gesichtspunkten aus, zu denen er als gereifter Klassiker gelangt ist. Er sieht den jungen Goethe im Gegensatz zum alten. Wie weit der philologische Vorgang bei Goethe selbst Vorbild für die Folgezeit geworden ist, läßt sich schwer entscheiden. Jedenfalls hat man seit Aug. Wilh. Schlegels erstem kritischen Versuch, dem Riesenwerk Goethes durch Trennung in einzelne Schaffensperioden näherzukommen, nicht aufgehört, durch Teilung, meist Dreiteilung, das schier Übermenschliche mit menschlichem Maß zu fassen. Der ,, junge Goethe" insbesondere wird fast zu einem Begriff eigenen Lebens. Das Jahr 1875 bringt die erste Gesamtausgabe seiner Briefe und Werke. Eine große Anzahl Einzeluntersuchungen dieses wie selbständig auftretenden Dichters, seiner Werke, seiner Sprache, seiner psychologischen, seiner Kunstanschauungen, seiner Beziehungen zu anderen Dichtern und anderer zu ihm, stützte sich auf diese Ausgabe; und jetzt, ein Menschenalter später, erfreuen wir im? schon einer neuen, die frühere reich ergänzenden und neuordnenden, sechsbändigen Ausgabe , die nun den ganzen Ertrag der Goetheschen Jugend von den Schülerarbeiten bis zum Urfaust vor uns ausbreitet .

„Im ganzen Verlaufe der Geistesgeschichte der Menschheit mögen wenige Persönlichkeiten erschienen sein, vor denen ein anschaulicher Begriff, umfassend und lebendig, so schwer zu gewinnen wäre, wie von Goethe", so lesen wir beim älteren Herausgeber. Er sagt sich : Die ganz Großen leben mehr als ein Leben. Um auch am ganz Großen, und gerade an ihm, verstehend wachsen zu können, versucht die Wissenschaft diese Einzelleben für sich zu erforschen. So teilt er Goethe ein in einen jungen und einen alten Goethe „Warum sollte das nicht gestattet sein?". Der Gedanke, der seine Sammlung hervorrief , war , ,ein durchaus wissenschaftlicher' . Dennoch wird diesem wissenschaftlichen Gedanken — und Bemays' feingeistige Einleitung bezeugt es uns — ebenso wie dem ersten kritischen Schritt Schlegels das vorangegangen sein, was jeder erfahren hat, der sich je in das wunderbare Leben dieses „jungen Goethe" einfühlte: er hat ihn erlebt. Der junge Goethe springt in seiner ganzen Wesenheit so von dem übrigen, klassischen oder alten Goethe ab, daß er ein Erlebnis für sich wird. Wie berechtigt immer Bernays' Warnung vor einer zu scharfen Sonderung sein mag, das Phänomen ist — auch in Goethe selbst —so einzig dastehend, als daß es nicht ein Recht auf selbstständige Betrachtung hätte.

Wir suchen ihn vom Sturm und Drang aus zu begreifen : „Empfindung im Gegensatz zu Verstand, selbstbewußte, übermütige Kraft im Gegensatz zu ängstlicher, anlehnungs bedürftiger Schwäche. Originalität im Gegensatz zum Durchschnitt, Erfahrung im Gegensatz zu toter Büchergelehrsamkeit, Natur im Gegensatz zur Verkünstelung und Unwahrheit, endlich ganzes und freies Menschentum im Gegensatz zum einseitigen und beschränkten Philisterwesen". Gewiß, das alles ist darin, aber es ist doch nicht der junge Goethe. Dieses Inkommensurable einer Genialität, deren Schaffen hervorquillt aus einem Reichtum ohne Grenzen mit einer selbstverständlichen Ursprünglichkeit, die uns wie Spiel anmutet, das ist es, was uns nicht mehr fragen läßt wie und woher, sondern was uns glauben macht. Eine Hand, die nur hinzugreifen braucht, um lichtes Gold herauf zu holen. Schöpfungen, die die Vollendung mit der Geburt haben, Dichtungen, die das Gefühl in seiner ganzen, nackten Schönheit offenbaren. Ein so sicheres Darauflosschaffen, wie es uns nicht anders das erste Moseskapitel vom Weltwerden erzählt. Es ist das da ein Mensch, sich über alles hinwegsetzend und doch alles in sich verwirklichend. Da wird nicht raisonniert und gepredigt, sondern wie er ist, das ist die Moral, wie er ist, das ist die Religion, wie er schafft, das ist die Kunst. Kein Wunder, wenn die Zeitgenossen nur im Superlativ von ihm reden: ,,le plus beau, le plus vif, le plus original, le plusardent, leplus impetueux, le plus doux, le plus seduisant et le plus dangereux pour le coeurd'une Femme", wenn sie gestehen: ,,er ist ein großes Genie, aber ein furchtbarer Mensch".

 ,,In allen seinen Affekten heftig", „himmelhoch jauchzend zum Tode betrübt", „schmelzend und wütend in einer Viertelstunde", ein Mensch der sich „treiben" läßt „Himmel auf und Höllen ab" „ . . . ein Ungeheuer doch drollig! Für einen Bären, hm, zu mild, Für einen Pudel zu wild, So zottig, tapsig, knollig", einer der „zugreift", der „ein offenes Herz" hat „das Gute zu genießen", dem der Verstand nichts, aber das Herz Alles ist . Und — ein Herz voll unendlicher Liebe, Liebe zu den Menschen , zur Natur , zur Welt. Wie sein ,, Werther" gewillt mit dem,, Sturmwinde die Wolken zu zerreißen, die Fluten zu fassen", wie er mit Leidenschaften ,,nie weit vom Wahnsinn". Solche Liebe und Leidenschaft machen den Künstler. ,,Was der Künstler nicht geliebt hat, nicht liebt, . . . kann er nicht schildern." „Ein volles, ganz von einer Empfindung volles Herz", das bringt den „Feuerblick des Moments", den „Rausch", in dem er „Gedichte fühlt". Da ist nichts „in die Seele hineingedacht", sondern da „quillt" es aus der Seele hervor, da ist nichts „gemessen", sondern alles „gefühlt". Das dichtet keine Lieder, das „steckt voller Lieder". „Und laßt diese Bildnerey aus den willkürlichsten Formen bestehn, sie wird ohne Gestaltsverhältnis zusammenstimmen, denn Eine Empfindung schuf sie zum charakteristischen Ganzen". Ein solcher Dichter — und hat ein anderer überhaupt ein wahres Recht auf diesen Namen ? — fragt nicht ängstlich was die Schönheit sei: „Einmal für alle- mal bleibt sie unerklärlich"; einem solchen ist auch das Gestalten der Schönheit im menschlichen Kunstwerk „ew"g Geheimnis".

Diese aus Zitaten zusammengestellte Darstellung der Seele des jungen Goethe, dieser Versuch einer Erklärung seines Schaffensprozesses in der Nuß, will und kann naturgemäß nicht erschöpfend sein, sie zeigt aber zur Evidenz, wie für sich das Phänomen des jungen Goethe in der ganzen Erscheinung des Dichters steht. Den wir unter dem Schlagwort der „Objektivität" vorgeschulmeistert bekommen, er ist der subjektivste Dichter, der je erhört war ; der in seinem Alter bewußt einem Bildungsideal nachstrebte, er ist der unbewußteste, triebhafteste künstlerische Schöpfer., der zu denken ist. Ebenso wie Goethe selber seine Jugendperiode im Gegensatze zu der klassischen sah, denken auch wir hinter dem Bild, das wir vom jungen Goethe entwerfen, das uns anerzogene Bild der goethischen Ganzheit.

Fragen wir nun nach der Grenze zwischen jungem und altem Goethe, so ist eine mathematische Antwort darauf unmöglich. Sie liegt weder in der Übersiedelung nach Weimar, noch beim Faustfragment, noch auch in der Italienreise, auch nicht bei einem biologisch berechneten Normaljugendende. Wir wollen nicht Grenzen fordern, wo keine Grenzen sind. Jeder wird mit uns einig sein, wenn wir als Schöpfungen des jungen Goethe zunächst die Werke bis zum Faustfragment einschließlich betrachten, darüber hinaus hier und und da den Egmont mit heranziehen. — Heute ist es uns unmöglich, den jungen Goethe literarhistorisch ohne Herder zu denken, ohne die anderen Stürmer und Dränger, aus denen der junge Goethe als der klassische junge Goethe herauswuchs. Wir werden deshalb auch die Urteile der Jungdeutschen über Herder und die übrigen Stürmer und Dränger nicht aus dem Auge verlieren, und vor allem dieses Problem zu lösen versuchen : Goethe war Stürmer und Dränger und mehr als Stürmer und Dränger. Er war die Erfüllung dessen was jene ersehnten, er war das „Gebilde", sie das „Gerede". Welchen jungen Goethe haben die Jungdeutschen auf ihren Schild gehoben, den der er wirklich war, oder den der er als Stürmer und Dränger war ?

In der Zeit, die der junggoetheschen voranging, war das Triebleben verknöchert, in der Zeit, die der jungdeutschen voranging, das Staats- und Gesellschaftsleben . Zum Rechtsschrei der natürlichen Natur kam der der gesellschaftlichen Natur im Menschen. Dem Wiedermenschwerden gesellte sich jetzt ein Wiederbürgerwerden hinzu. Gegen Erstarrung und lähmende Stagnation wenden sich beide. Beide sind lebendige, bewegte, revolutionäre, stürmende und drängende Zeiten. Beide tragen den Stempel der Jugend. Leidenschaftsdurchpeitscht reißen sie alles Baufällige nieder, verwerfen neben den morschen auch die noch festen Steine und errichten so ihr Herrenschloß, dessen Rohbau männliche Reife späterer Generationen erst zu wohnbaren Räumen machen muß.

Gärende Jugendzeiten werden von der Geschichte öfters nicht ganz gerecht behandelt. Durch die lange Reihe der Verächter des jungen Deutschland abgeschreckt, die sich von Hengstenberg, V. A. Huber. Menzel, vor allem Gervinus, Julian Schmidt, Emil Kuh, Goedeke, H. v. Treitschke bis zu Viktor Hehn und R. M. Meyer verfolgen läßt, hat sich auch die Forschung lange von diesen Männern ferngehalten. Die andere Reihe, von dem Kirchenrat Paulus und dem Historiker Rüge ausgehend, hat vor allem zu den Forschungen R. Gottschalls, Klaars, Alfr. Sterns, Brandes', Geigers, Proelss' und Houbens geführt und hat bewirkt, daß man diese so stiefmütterlich behandelte wichtige Literaturperiode objektiver betrachtet und sich ihr wieder eifriger zuwendet. Dazu beitragen mag auch ein Gefühl der Verwandtschaft unserer eigenen Seelenartung mit jenen Sturm- und Drangmenschen.

Eine verwandtschaftliche Beziehung des Sturms und Drangs zu der Periode der jungen Deutschland ist auch schon des öftern — meist vergleichsweise — betont worden. Joh. Proelss nennt in seiner noch immer grundlegenden, wenn auch oft korrekturbedürftige Gesamtdarstellung das junge Deutschland „eine zweite Sturm- und Drangperiode, welche die Blütezeit des poetischen, wissenschaftlichen und politischen Realismus in unserem Jahrhundert ebenso einleitete, wie die Sturm- und Drangperiode der Geniezeit die Blüte unserer klassischen Literaturperiode im Zeichen einer geistigen Renaissance der Antike eingeleitet hat". Alfred Klaar, Georg Brandes und Houben stellen die Verwandtschaft fest, einzelne Züge derselben werden aufgedeckt. Im einzelnen ist noch wenig getan. Untersuchungen wie: Ernst Bergmann „Die ethischen Probleme in den Jugendschriften der Jungdeutschen", P. Przygodda ,, Heinrich Laubes Frühzeit", M. Ebert „Der Stil der Heineschen Jugendprosa", Dr. V. Schweitzer ,,L. Wienbarg", Otto Dräger „Theodor Mundt und seine Beziehungen zum jungen Deutschland" fördern die Verwandtschaft an verschiedenen Sonderpunkten, auch ohne daß es die Verfasser jedesmal betonen, klar zutage. Die einzige Arbeit — 1910 als Chicagoer Dissertation erschienen — die sich speziell mit dem Thema beschäftigt „Goethe und das junge Deutschland" von Noe, hat unbegreiflicherweise einen Unterschied zwischen der Beurteilung des jungen und des alten Goethe bei den Jungdeutschen weder betont noch nachgewiesen.

Konnten wir den jungen Goethe nicht fassen, ohne den alten dahinter zu denken, so können wir das Urteil des jungen Deutschland über den jungen Goethe auch nur begreifen, indem wir dieses Urteil sich von dem über den alten Goethe abheben lassen. Unsere Untersuchung wird zeigen, wie unberechtigt es ist, jedes ablehnende Urteil eines Jungdeutschen gegen Goethe auf den ganzen Goethe zu beziehen. Bewußt — als methodische Hilfe — teilt die Wissenschaft Goethes Riesenleben in mehrere Einzelleben, unbewußt — weil sie dem ganzen nicht gewachsen sind — nachfolgende Literaturperioden. Diese Generation kennt und liebt nur den jungen, jene kennt und verehrt nur den alten Goethe. Literaturrichtungen lehnen den einen ab und stimmen dem anderen lebhaft zu, verwerfen den einen und streben, dem anderen gleich zu werden. Wenige Glückliche, ihm Gleiche, können ihn ganz aufnehmen. Noch wenigere, die Überragenden der Zukunft, haben dann noch ein Eigenes für sich.

Seit Goethe gehen der Entwicklungslinien zahllose. Zwei davon heißen: Goethe, der alte, Platen, Stefan George; die andere: Goethe, der junge, das junge Deutschland, deutscher Naturalismus. Die letzte Linie ein Stück klärend und aufhellend verfolgt zu haben will die Aufgabe dieser Arbeit sein.





Epigramme, Sprüche, Xenien

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