Die Frauen.
„Wer einst die organische Entwicklung unserer neuen
Literatur zeichnen will, darf den Sieg nicht verschweigen, den
drei durch Gedanken, ein Gedicht und eine Tat ausgezeichnete
Frauen über die Gemüter gewannen", so versichert Gutzkows
Aufsatz ,,Rahel, Bettina, die Stieglitz". In besonderem
Grade muß uns dieser Sieg beschäftigen, da er auch ein Sieg war in Hinsicht einer Renaissance der Goetheverehrung.
Gegenüber Bettina und Rahel, denen der Dienst im Tempel
dieses göttlichen Sohnes des göttlichen Apoll tiefster Lebenssinn war, ist die Rolle der Charlotte Stieglitz bescheidener.
Erst als sie den poetisch viel verklärten, in Wirklichkeit
wohl auch durch eigne Verzweiflung am Leben herbeigeführten
freiwilligen Tod gefunden hatte, beschäftigte sich die Welt
mit ihr. Theodor Mundt, der ihr in platonischer Liebe anhing,
setzte ihr sein „Denkmal" . Der Literarhistoriker erkennt,
insbesondere aus den diesem Buche beigegebenen Briefen und
Tagebuchblättern, wie sehr auch diese Frau in ihrem Wesen
durch Goethe bestimmt ist, gleichzeitig aber auch, daß ihre
Hingebung keine uneingeschränkte ist, sondern daß sie gerade an dem im Berliner Goethekult so verehrten klassischen
und Spätwerken des Meisters offene Kritik übt. Den Schluß
der Iphigenie wie den des Tasso findet Charlotte ,,zu nüchtern" und ..Goethes unwürdig". Die „Vornehmheit" seiner Prosa
wird stark gegeisselt
; „sie sieht immer aus, als hab' ein
Bürgermeister frische Wäsche angezogen und schreite mit
Manschetten und Stab einher". „ Goethe steht in seiner
letzten Periode immer dem Publikum gegenüber wie ein
absoluter König. Ich bin der König. Er geruht dieses und
jenes dem Volke zu übergeben. Keine Kammern, die ihn constitutionsmäßig mit dem Volke verbinden. Jean Paul und
Schiller sind durch die Herzkammern mit dem Volke vereint", so eifert sie. Sie verurteilt die Herausgabe des Goethe
Zelterschen Briefwechsels und spottet vom zweiten Teil
des Faust, er wäre „das objektivste Werk von Goethe —
denn er ist zum größten Teil gar nicht dabei". Er ist wie
ein Werk des alten Goethe, nicht aber des alten Goethe" , jenes Goethe der so war wie sie auch sein möchte, „zuweilen
unkonsequent hellauflodernd, himmelhochjauchzend, zum
Tode betrübt!" Schillers Tod hätte in ihm eine neue Jugend
hervorbringen müssen. Nicht nur, daß die jungdeutschen
Zeitgenossen bei ihrem Tod an jenen des jungen Jerusalem
dachten und der Meinung waren, „wer das Genie Goethes
besäße und es aushalten könnte, daß man von Nachahmungen
sprechen würde, könnte hier ein Seitenstück zu Werther
geben" , sondern sie lasen ihre Briefe und Tagebuchblätter
und erkannten, daß auch der Lebensinhalt der Verfasserin viel Wesensverwandtes mit jener Zeit aufwies, an die ihr Tod
so auffallend erinnerte.
Einen weitaus stärkeren direkten Einfluß auf ihr Urteil
über Goethe erfuhren die Jungdeutschen durch die Vermittlung der beiden anderen Frauen, der romantischen Goetheschwärmerin Bettina von Arnim und der ,, Goethepriesterin"
Rahel. Zwei Frauen, an derselben Quelle trinkend, auf getrennten Wegen sich von ihr entfernend, berauscht die eine,
still beglückt die andere, schwärmend jene, predigend diese,
hinreißend die sinnenfrohe Bettina, überzeugend die gedankenreiche Rahel. Selten wohl haben zwei so verschieden geartete Menschen an ein und derselben Lebensquelle sich so
satt getrunken.
Goethe wirkte auf Bettinen, sagt Gutzkow in seintr
drastischen Weise, „wie ein kräftiger Bogenstrich auf Sand,
dessen Klangfigur sie wurde" . Eine durchaus sinnliche
Natur, die sie war, begnügte sie sich nicht wie die Rahel,
in der Verehrung der einmal erkannten »Schönheit reiche
Befriedigung zu finden, sondern sie jagte der Schönheit nach,
fassen wollte sie sie, festhalten, besitzen. Goethen war diese
Verfolgung bekanntlich gar nicht immer lieb. In seinen kurzen
Antworten auf Bettinens Briefe bleibt er ,, recht vornehm und
gnädig kalt". „Eigentlich", meint die mit so feinem Verständnis ihre Gegenwart anschauende und beurteilende,
Henriette Feuerbach, „kann man es ihm nicht verdenken,
denn sie hat ihn mit ihrer Liebe gräulich malträtiert" . Nicht
ganz mit Unrecht sagt die sympathische Mutter des großen
Anselm: „Das Ganze ist Coquetterie, aber es hat etwas
unendlich Anregendes". Die Koketterie dieses liebreizenden
romantischen Kindes nimmt einen gefangen. Daß es sich
schon um ein recht ausgewachsenes Kind handelt, vergißt man. Von einem Kobold umgaukelt, umspielt, tut einem schließlich wie ihm nur noch alles das wohl, „was den Erdenleib
verleugnet", man empfindet „dies Leben'' als „Gefängnis" und
kennt als einzige „Aussicht in die Freiheit . . . die eigene
Seele"; man wird mit einem Wort romantisch und weiß wie damals auch die Jungdeutschen, den Briefwechsel ,, nicht
genug zu loben und zu lieben".
Von ihr, bei der alles Jugend ist, wundert es uns nicht,
daß sie Goethen deshalb verehrt, weil er einmal der junge Goethe
gewesen ist, und von Börnes prachtvoller erster Kritik bis zu den jüngsten Forschungen hat man erkannt, daß es nur
der Götz, der Faust, der Egmont, diese „höchst revolutionären Poesien" und vor allem Goethes Jugendlyrik waren,
die aus Bettina Brentano eine Goetheschwärmerin machten.
Tüchtig zankt sie um den Meister und überhaupt mit all den
abgeklärten, klassischen Werken ihres Olympiers, mit seinen
politischen Ansichten, mit seinem „Philister"verkehr. Jugend
sucht sie in ihm, und Jugend weckt sie ihm. Das ist auch der
Zug, wegen dessen sie die Jungdeutschen zu den ihren zählen.
Nur ein Zeugnis dafür : „Bettina gehört der Bewegung an, und wenn man bedenkt, daß Goethe jenes Feuer entzündete
und nährte, so wird man kaum Etwas dagegen haben können, wenn die junge Literatur seiner . . . wieder mit einigem
Enthusiasmus gedenkt, nachdem bereits ein unzeitiger
Frost, ein gewisser patriotischer Nebel eingetreten war, der von dem Dichter nichts mehr sehen ließ, als einige kleine
zufällige Schwächen, nämlich daß er ein ganzer Hofmann
war, daß er sich in seinen letzten Jahren viel mit Nebendingen
beschäftigte, daß er Gelegenheitsgedichte schrieb usw.
Ich glaube, daß in diesem Krater, der freilich kaum noch eine
Rauchsäule emporsendete, doch viel Lavaströme flössen,
daß hier noch alle jene vulkanische Masse gährte, die sich
einst im „Faust", im „Egmont" Bahn brach und über die
Unterhaltbarkeiten der Gesellschaft und des Staates Verderben
ausströmte". Um die Mitarbeiterschaft Bettinens bei
der „Deutschen Revue" 1835 zu gewinnen, berufen sich Wienbarg und Gutzkow darauf, daß sie sich „so wacker für Goethe geschlagen, und darob die Gunst so manches blindeifrigen Zeitgenossen eingebüßt" haben.
Bettina sah in Goethe den, der er nicht mehr war,
die Jungdeutschen sahen ihn, wie er war, und erinnerten
sich bei der Lektüre des ,, Briefwechsels", daß es auch einmal
einen anderen Goethe gegeben hatte, einen Goethe der ihnen
verständlicher war, den auch sie aufrichtig lieben konnten.
Jeder liest aus einem Buch nur immer sich selber heraus.
Jede Zeit hat ihren Goethe, jeder Mensch seinen eigenen
Goethe; Bettina steht zu Goethe bettinisch, die Rahel rahelisch. Um wieder einer Frau Urteil über die Frauen zu hören
:
Henriette Feuerbach schreibt: „Die Rahel ist gerade das
Gegenstück von Bettina. Nichts Fliegendes, nichts Phantastisches, lauter Reflexion, auflösende, fast vernichtende und
zerstörende Reflexion, geistige Anatomie". Deshalb ist sie auch nicht wie Bettine hinreißend und gefangennehmend,
sondern ,,auf das Höchste interessant". Bezeichnend fügt
die feinsinnige Künstlermutter hinzu: ,,wenn ich sagen sollte,
daß mirs an einer Frau gefiele, müßt ich lügen". Bezeichnend, daß es meist geistvolle Männer waren, die sich um sie versammelten, oder einen Briefwechsel mit ihr pflegten.
Bezeichnend, daß Rahels Würdigung unter den Frauen
erst gegenwärtig wieder lebhaft betrieben wird; bezeichnend, daß gerade Ellen Key, die „moderne" Frau, der Rahel
ein eingehendes, in seinem uneingeschränkten Lob vielleicht etwas zu weiblich verschwenderisches Buch gewidmet hat.
Obgleich Rahel nach „der Männerbildung, Kunst, Weisheit und Ehre " strebte, obgleich sich dem ,, großen Manne
Rahel" gegenüber ein Gentz als unendlich empfangendes
Wesen fühlte , obgleich beim ersten Zusehen das intellektuell Scharfsinnige, das oft streng Formulierte und Programmatische
ihrer Denk- und Schreibweise in der Tat an männliches
Wesen erinnern mögen, dem sich Vertiefenden läßt das
Sprunghafte, Zielunsichere, Widerspruchsreiche, von Äußerlichkeiten oft und leicht Bestochene ihrer Stimmungen und
Gedanken keinen Zweifel, eine von Frauenhand geführte
Feder vor sich zu haben. So hat sie auch von sich selbst gesagt: ,,. . für den ersten Blick haben auch meine Blätter
nicht das Ansehen, von einer Frau herzurühren: aber will man sie, bei einem zweiten, einem Manne zuschreiben, so geht das noch weniger." Männerliebe wird durch Kritik
vertieft, Frauenliebe kennt keine Kritik. Ellen Key steht
in restloser Bewunderung vor Rahels Goethereife, Rahel
steht restlos bewundernd vor Goethes Dichtergröße. Man
kann in solcher Beziehung Bettinnen männlicher nennen
als Rahel. Wo man einen Gedanken zu fassen glaubt, da
entflieht er auch schon wieder, wo man in offene Klarheiten zu sehen meint, sind abgründige Tiefen. Das ist das „Inkommensurable" des Ewig-Weiblichen. — Es ist schwer, an
Rahel irgend etwas zu beweisen. Sie hat Goethen geliebt
und verehrt wie eine echte Frau, kritiklos, alles aufnehmend,
alles verstehend. Ihre Kritik an Goethe ist ihre Persönlichkeit; nicht was sie über Goethe sagt, sondern was sie selber ist. Die jungdeutschen Raheljünger sahen deshalb
ihren neuen Goethe durch die Augen von Rahels Persönlichkeit, ohne sich an ihre Worte zu klammern.
,,Ich habe kein Talent als mein Dasein." „Hab
ich ein namhaftes Talent ? Das, das Leben zu fassen ; und
manchmal barock, in komisch- oder tragischer Hülle, es zu
nennen, was ich sah." ,,Ein bestimmtes Talent, irgend
etwas zu bilden, außer meiner Einsicht, hab' ich auch nicht." ,,Ich bin eine Art gesünderer, brünetter, vergnügterer
Hamlet". In solchen und anderen Bekenntnissen hat Rahel
sich selbst am besten erkannt.
Brandes' Analyse der Rahel, sie hätte „Sinn für das
Natürliche, Ursprüngliche", sie bewahre „trotz ihres durchdringenden Verstandes eine Naivität, eine Frische in Auffassung
und Ausdruck, wie etwa ein genial veranlagtes Kind", finde
ich in einem Selbstbekenntnis des dritten Bandes glänzend
bestätigt, wo sie von einem Nichtenkinde sagt : „Das
Mädchen gehört mir nicht. — Aber das Kind gehört, höheren
Ortes her, mir. Mein Blut, meine Nerven; meine Schnelligkeit: herzweich, herzstark. Vernunftkind nenne ich es . ." Ein genial veranlagtes Kind, ein „Vernunftkind", das ist ein
jungdeutscher Sproß. Diese unheilvolle Anlage zwischen
Esprit und Naivität macht sie zum „Meister im Verzweifeln",
treibt auch sie in die Bewegung. „Man weiß nicht wo ruhen
mit seinen Gedanken." Wie das Wetter trübe und hell,
sturmbewegt und behaglich -sonnig, lieblich warm und kalt
verschlossen ist Rahel, ,,— still bewegt", stark in allen Affekten und im Grunde verzweifelt, das Schulbeispiel eines
Übergangsmenschen, groß im Wegweisen, unausgeglichen
im Ganzen, eine rechte Erzieherin jungdeutscher Wesenheit.
Mit ihrer Goetheverehrung wurzelt Rahel im Goethekult. Auch in ihren Augen ist Goethe „ein Gott von Gaben,
Größe, Beherrschung, Harmonie, Fülle, Weisheit und ewigem Wachstum". Sie liest ihn ,,wie man die Bibel im Unglück
liest". „ Niemanden hat Goethe so durchströmt, wie Herzblut selbst, als mich". ,, Durch all mein Leben begleitete
mich der Dichter unfehlbar . . ." ,,Den Göttlichen hat man
immer nötig".
Obgleich Rahel fast unterschiedslos alle Hauptwerke
Goethescher Poesie eifrig gelesen und wieder gelesen hat.
obgleich sie fast unterschiedslos in ihren Briefen und Aufzeichnungen erscheinen und lobend besprochen werden,
vielleicht der ,,Tasso" oder der „Meister " mit etwas größerer
Ausführlichkeit, so hat doch schon Th. Mundt in seinem
Aufsatz ,, Rahel und ihre Zeit" die Stellen herausgeschält, die
ihr ., modernes" Auffassen der Goethezeit gegenüber bekunden
und uns Rahels Goethebild doch jugendlicher erscheinen
lassen, als man es gemeinhin sieht. ,,Es gibt auch Völker, die
in Zuständen leben, die nur einer rechtlichen, sittlichen Verbesserung fähig sind; auch sprungweise zu viel von der
Gesamtbildung der Erde bekommen haben und die Periode
ihrer Kunst . . überschritten haben Wie ich denn glaube,
daß sie für jetzt überhaupt überschritten ist . . ." Rahel,
meint Mundt7, „war es eigentlich, welche durch Ausbreitung
seiner Dichtergröße im Privatleben die nochmalige enthusiastische Anerkennungsperiode für Goethe hatte vorbereiten
helfen". Auch sie empfand, im Grunde nicht anders als ein
Ludwig Börne, den alten Goethe als ein Hemmnis. Sie
schreibt am 17. III. 1812 an Alexander von der Marwitz: „Wissen Sie, was ich bemerke, woraus großenteils das Unglück der Zeiten besteht ? Daß eine immer in die andere
greift ; und nicht die neue in die alte, sondern die alte noch
in die neue". Das Tagebuchblatt vom 10. 3. 1831 findet
den Alten sogar „überrindet, ausgehöhlet von Jahren".
Unter den Werken des jungen Goethe genießt ihre besondere Vorliebe der „Clavigo". Oft spricht sie durch den Mund des Carlos in diesem Stück. Clavigo, diesem Menschen
..zwischen zwei Empfindungen, von denen er keiner ganz
angehört", vermag sie so recht nachzufühlen. Daneben
findet besonders Goethes Lyrik in Rahel eine verständnisreiche
Leserin. Das Jugendgedicht „Mit einem gemalten Bande"
erfährt eine liebevolle Besprechung und auch an anderer Stelle wird Goethes Liedkunst hohes Lob gezollt. — Charakteristisch
ist auch die Neigung für Heinse. tl Goethe, glaubte ich nur, könne so etwas." Es kann nur Heinses Sturm- und Drangleidenschaft sein, die sie — in Gedanken an den Götz- und
Wertherdichter — zu dem Ausspruche führt. Solche Unmittelbarkeit das Leben anzupacken, solche Unbekümmertheit
um Sitte und Herkommen. „so etwas" konnte nur vom jungen
Goethe geglaubt werden.
Alle drei Frauen, wenn auch noch aus der alten Kirche
des orthodoxen Goethekults, erweisen sich somit doch als Vermittlerinnen einer neuen Kirche, deren Gott der junge
Goethe wird. Ehe es aber dahin kommt, war noch die Reaktion der vollkommenen Gottlosigkeit erforderlich, die erst den neuen Glauben inaugurierte.
Epigramme, Sprüche, Xenien
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