> Gedichte und Zitate für alle: Oskar Kanehl-Der junge Goethe im Urteile des jungen Deutschland- Die Frauen. (4)

2019-11-20

Oskar Kanehl-Der junge Goethe im Urteile des jungen Deutschland- Die Frauen. (4)



Die Frauen. 


„Wer einst die organische Entwicklung unserer neuen Literatur zeichnen will, darf den Sieg nicht verschweigen, den drei durch Gedanken, ein Gedicht und eine Tat ausgezeichnete Frauen über die Gemüter gewannen", so versichert Gutzkows Aufsatz ,,Rahel, Bettina, die Stieglitz". In besonderem Grade muß uns dieser Sieg beschäftigen, da er auch ein Sieg war in Hinsicht einer Renaissance der Goetheverehrung. Gegenüber Bettina und Rahel, denen der Dienst im Tempel dieses göttlichen Sohnes des göttlichen Apoll tiefster Lebenssinn war, ist die Rolle der Charlotte Stieglitz bescheidener. Erst als sie den poetisch viel verklärten, in Wirklichkeit wohl auch durch eigne Verzweiflung am Leben herbeigeführten freiwilligen Tod gefunden hatte, beschäftigte sich die Welt mit ihr. Theodor Mundt, der ihr in platonischer Liebe anhing, setzte ihr sein „Denkmal" . Der Literarhistoriker erkennt, insbesondere aus den diesem Buche beigegebenen Briefen und Tagebuchblättern, wie sehr auch diese Frau in ihrem Wesen durch Goethe bestimmt ist, gleichzeitig aber auch, daß ihre Hingebung keine uneingeschränkte ist, sondern daß sie gerade an dem im Berliner Goethekult so verehrten klassischen und Spätwerken des Meisters offene Kritik übt. Den Schluß der Iphigenie wie den des Tasso findet Charlotte ,,zu nüchtern" und ..Goethes unwürdig". Die „Vornehmheit" seiner Prosa wird stark gegeisselt ; „sie sieht immer aus, als hab' ein Bürgermeister frische Wäsche angezogen und schreite mit Manschetten und Stab einher". „ Goethe steht in seiner letzten Periode immer dem Publikum gegenüber wie ein absoluter König. Ich bin der König. Er geruht dieses und jenes dem Volke zu übergeben. Keine Kammern, die ihn constitutionsmäßig mit dem Volke verbinden. Jean Paul und Schiller sind durch die Herzkammern mit dem Volke vereint", so eifert sie. Sie verurteilt die Herausgabe des Goethe Zelterschen Briefwechsels und spottet vom zweiten Teil des Faust, er wäre „das objektivste Werk von Goethe — denn er ist zum größten Teil gar nicht dabei". Er ist wie ein Werk des alten Goethe, nicht aber des alten Goethe" , jenes Goethe der so war wie sie auch sein möchte, „zuweilen unkonsequent hellauflodernd, himmelhochjauchzend, zum Tode betrübt!" Schillers Tod hätte in ihm eine neue Jugend hervorbringen müssen. Nicht nur, daß die jungdeutschen Zeitgenossen bei ihrem Tod an jenen des jungen Jerusalem dachten und der Meinung waren, „wer das Genie Goethes besäße und es aushalten könnte, daß man von Nachahmungen sprechen würde, könnte hier ein Seitenstück zu Werther geben" , sondern sie lasen ihre Briefe und Tagebuchblätter und erkannten, daß auch der Lebensinhalt der Verfasserin viel Wesensverwandtes mit jener Zeit aufwies, an die ihr Tod so auffallend erinnerte. 

Einen weitaus stärkeren direkten Einfluß auf ihr Urteil über Goethe erfuhren die Jungdeutschen durch die Vermittlung der beiden anderen Frauen, der romantischen Goetheschwärmerin Bettina von Arnim und der ,, Goethepriesterin" Rahel. Zwei Frauen, an derselben Quelle trinkend, auf getrennten Wegen sich von ihr entfernend, berauscht die eine, still beglückt die andere, schwärmend jene, predigend diese, hinreißend die sinnenfrohe Bettina, überzeugend die gedankenreiche Rahel. Selten wohl haben zwei so verschieden geartete Menschen an ein und derselben Lebensquelle sich so satt getrunken. 

Goethe wirkte auf Bettinen, sagt Gutzkow in seintr drastischen Weise, „wie ein kräftiger Bogenstrich auf Sand, dessen Klangfigur sie wurde" . Eine durchaus sinnliche Natur, die sie war, begnügte sie sich nicht wie die Rahel, in der Verehrung der einmal erkannten »Schönheit reiche Befriedigung zu finden, sondern sie jagte der Schönheit nach, fassen wollte sie sie, festhalten, besitzen. Goethen war diese Verfolgung bekanntlich gar nicht immer lieb. In seinen kurzen Antworten auf  Bettinens Briefe bleibt er ,, recht vornehm und gnädig kalt". „Eigentlich", meint die mit so feinem Verständnis ihre Gegenwart anschauende und beurteilende, Henriette Feuerbach, „kann man es ihm nicht verdenken, denn sie hat ihn mit ihrer Liebe gräulich malträtiert" . Nicht ganz mit Unrecht sagt die sympathische Mutter des großen Anselm: „Das Ganze ist Coquetterie, aber es hat etwas unendlich Anregendes". Die Koketterie dieses liebreizenden romantischen Kindes nimmt einen gefangen. Daß es sich schon um ein recht ausgewachsenes Kind handelt, vergißt man. Von einem Kobold umgaukelt, umspielt, tut einem schließlich wie ihm nur noch alles das wohl, „was den Erdenleib verleugnet", man empfindet „dies Leben'' als „Gefängnis" und kennt als einzige „Aussicht in die Freiheit . . . die eigene Seele"; man wird mit einem Wort romantisch und weiß wie damals auch die Jungdeutschen, den Briefwechsel ,, nicht genug zu loben und zu lieben". 

Von ihr, bei der alles Jugend ist, wundert es uns nicht, daß sie Goethen deshalb verehrt, weil er einmal der junge Goethe gewesen ist, und von Börnes prachtvoller erster Kritik bis zu den jüngsten Forschungen hat man erkannt, daß es nur der Götz, der Faust, der Egmont, diese „höchst revolutionären Poesien" und vor allem Goethes Jugendlyrik waren, die aus Bettina Brentano eine Goetheschwärmerin machten. Tüchtig zankt sie um den Meister und überhaupt mit all den abgeklärten, klassischen Werken ihres Olympiers, mit seinen politischen Ansichten, mit seinem „Philister"verkehr. Jugend sucht sie in ihm, und Jugend weckt sie ihm. Das ist auch der Zug, wegen dessen sie die Jungdeutschen zu den ihren zählen. Nur ein Zeugnis dafür : „Bettina gehört der Bewegung an, und wenn man bedenkt, daß Goethe jenes Feuer entzündete und nährte, so wird man kaum Etwas dagegen haben können, wenn die junge Literatur seiner . . . wieder mit einigem Enthusiasmus gedenkt, nachdem bereits ein unzeitiger Frost, ein gewisser patriotischer Nebel eingetreten war, der von dem Dichter nichts mehr sehen ließ, als einige kleine zufällige Schwächen, nämlich daß er ein ganzer Hofmann war, daß er sich in seinen letzten Jahren viel mit Nebendingen beschäftigte, daß er Gelegenheitsgedichte schrieb usw. Ich glaube, daß in diesem Krater, der freilich kaum noch eine Rauchsäule emporsendete, doch viel Lavaströme flössen, daß hier noch alle jene vulkanische Masse gährte, die sich einst im „Faust", im „Egmont" Bahn brach und über die Unterhaltbarkeiten der Gesellschaft und des Staates Verderben ausströmte". Um die Mitarbeiterschaft Bettinens bei der „Deutschen Revue" 1835 zu gewinnen, berufen sich Wienbarg und Gutzkow darauf, daß sie sich „so wacker für Goethe geschlagen, und darob die Gunst so manches blindeifrigen Zeitgenossen eingebüßt" haben. 

Bettina sah in Goethe den, der er nicht mehr war, die Jungdeutschen sahen ihn, wie er war, und erinnerten sich bei der Lektüre des ,, Briefwechsels", daß es auch einmal einen anderen Goethe gegeben hatte, einen Goethe der ihnen verständlicher war, den auch sie aufrichtig lieben konnten. 

Jeder liest aus einem Buch nur immer sich selber heraus. Jede Zeit hat ihren Goethe, jeder Mensch seinen eigenen Goethe; Bettina steht zu Goethe bettinisch, die Rahel rahelisch. Um wieder einer Frau Urteil über die Frauen zu hören : Henriette Feuerbach schreibt: „Die Rahel ist gerade das Gegenstück von Bettina. Nichts Fliegendes, nichts Phantastisches, lauter Reflexion, auflösende, fast vernichtende und zerstörende Reflexion, geistige Anatomie". Deshalb ist sie auch nicht wie Bettine hinreißend und gefangennehmend, sondern ,,auf das Höchste interessant". Bezeichnend fügt die feinsinnige Künstlermutter hinzu: ,,wenn ich sagen sollte, daß mirs an einer Frau gefiele, müßt ich lügen". Bezeichnend, daß es meist geistvolle Männer waren, die sich um sie versammelten, oder einen Briefwechsel mit ihr pflegten. Bezeichnend, daß Rahels Würdigung unter den Frauen erst gegenwärtig wieder lebhaft betrieben wird; bezeichnend, daß gerade Ellen Key, die „moderne" Frau, der Rahel ein eingehendes, in seinem uneingeschränkten Lob vielleicht etwas zu weiblich verschwenderisches Buch gewidmet hat.

Obgleich Rahel nach „der Männerbildung, Kunst, Weisheit und Ehre " strebte, obgleich sich dem ,, großen Manne Rahel" gegenüber ein Gentz als unendlich empfangendes Wesen fühlte , obgleich beim ersten Zusehen das intellektuell Scharfsinnige, das oft streng Formulierte und Programmatische ihrer Denk- und Schreibweise in der Tat an männliches Wesen erinnern mögen, dem sich Vertiefenden läßt das Sprunghafte, Zielunsichere, Widerspruchsreiche, von Äußerlichkeiten oft und leicht Bestochene ihrer Stimmungen und Gedanken keinen Zweifel, eine von Frauenhand geführte Feder vor sich zu haben. So hat sie auch von sich selbst gesagt: ,,. . für den ersten Blick haben auch meine Blätter nicht das Ansehen, von einer Frau herzurühren: aber will man sie, bei einem zweiten, einem Manne zuschreiben, so geht das noch weniger." Männerliebe wird durch Kritik vertieft, Frauenliebe kennt keine Kritik. Ellen Key steht in restloser Bewunderung vor Rahels Goethereife, Rahel steht restlos bewundernd vor Goethes Dichtergröße. Man kann in solcher Beziehung Bettinnen männlicher nennen als Rahel. Wo man einen Gedanken zu fassen glaubt, da entflieht er auch schon wieder, wo man in offene Klarheiten zu sehen meint, sind abgründige Tiefen. Das ist das „Inkommensurable" des Ewig-Weiblichen. — Es ist schwer, an Rahel irgend etwas zu beweisen. Sie hat Goethen geliebt und verehrt wie eine echte Frau, kritiklos, alles aufnehmend, alles verstehend. Ihre Kritik an Goethe ist ihre Persönlichkeit; nicht was sie über Goethe sagt, sondern was sie selber ist. Die jungdeutschen Raheljünger sahen deshalb ihren neuen Goethe durch die Augen von Rahels Persönlichkeit, ohne sich an ihre Worte zu klammern. 

,,Ich habe kein Talent als mein Dasein."  „Hab ich ein namhaftes Talent ? Das, das Leben zu fassen ; und manchmal barock, in komisch- oder tragischer Hülle, es zu nennen, was ich sah." ,,Ein bestimmtes Talent, irgend etwas zu bilden, außer meiner Einsicht, hab' ich auch nicht." ,,Ich bin eine Art gesünderer, brünetter, vergnügterer Hamlet". In solchen und anderen Bekenntnissen hat Rahel sich selbst am besten erkannt. 

Brandes' Analyse der Rahel, sie hätte „Sinn für das Natürliche, Ursprüngliche", sie bewahre „trotz ihres durchdringenden Verstandes eine Naivität, eine Frische in Auffassung und Ausdruck, wie etwa ein genial veranlagtes Kind", finde ich in einem Selbstbekenntnis des dritten Bandes glänzend bestätigt, wo sie von einem Nichtenkinde sagt : „Das Mädchen gehört mir nicht. — Aber das Kind gehört, höheren Ortes her, mir. Mein Blut, meine Nerven; meine Schnelligkeit: herzweich, herzstark. Vernunftkind nenne ich es . ." Ein genial veranlagtes Kind, ein „Vernunftkind", das ist ein jungdeutscher Sproß. Diese unheilvolle Anlage zwischen Esprit und Naivität macht sie zum „Meister im Verzweifeln", treibt auch sie in die Bewegung. „Man weiß nicht wo ruhen mit seinen Gedanken." Wie das Wetter trübe und hell, sturmbewegt und behaglich -sonnig, lieblich warm und kalt verschlossen ist Rahel, ,,— still bewegt", stark in allen Affekten und im Grunde verzweifelt, das Schulbeispiel eines Übergangsmenschen, groß im Wegweisen, unausgeglichen im Ganzen, eine rechte Erzieherin jungdeutscher Wesenheit. 

Mit ihrer Goetheverehrung wurzelt Rahel im Goethekult. Auch in ihren Augen ist Goethe „ein Gott von Gaben, Größe, Beherrschung, Harmonie, Fülle, Weisheit und ewigem Wachstum". Sie liest ihn  ,,wie man die Bibel im Unglück liest". „ Niemanden hat Goethe so durchströmt, wie Herzblut selbst, als mich". ,, Durch all mein Leben begleitete mich der Dichter unfehlbar . . ." ,,Den Göttlichen hat man immer nötig".

 Obgleich Rahel fast unterschiedslos alle Hauptwerke Goethescher Poesie eifrig gelesen und wieder gelesen hat. obgleich sie fast unterschiedslos in ihren Briefen und Aufzeichnungen erscheinen und lobend besprochen werden, vielleicht der ,,Tasso" oder der „Meister " mit etwas größerer Ausführlichkeit, so hat doch schon Th. Mundt in seinem Aufsatz  ,, Rahel und ihre Zeit" die Stellen herausgeschält, die ihr ., modernes" Auffassen der Goethezeit gegenüber bekunden und uns Rahels Goethebild doch jugendlicher erscheinen lassen, als man es gemeinhin sieht. ,,Es gibt auch Völker, die in Zuständen leben, die nur einer rechtlichen, sittlichen Verbesserung fähig sind; auch sprungweise zu viel von der Gesamtbildung der Erde bekommen haben und die Periode ihrer Kunst . . überschritten haben Wie ich denn glaube, daß sie für jetzt überhaupt überschritten ist . . ." Rahel, meint Mundt7, „war es eigentlich, welche durch Ausbreitung seiner Dichtergröße im Privatleben die nochmalige enthusiastische Anerkennungsperiode für Goethe hatte vorbereiten helfen". Auch sie empfand, im Grunde nicht anders als ein Ludwig Börne, den alten Goethe als ein Hemmnis. Sie schreibt am 17. III. 1812 an Alexander von der Marwitz: „Wissen Sie, was ich bemerke, woraus großenteils das Unglück der Zeiten besteht ? Daß eine immer in die andere greift ; und nicht die neue in die alte, sondern die alte noch in die neue". Das Tagebuchblatt vom 10. 3. 1831 findet den Alten sogar „überrindet, ausgehöhlet von Jahren". 

Unter den Werken des jungen Goethe genießt ihre besondere Vorliebe der „Clavigo". Oft spricht sie durch den Mund des Carlos in diesem Stück. Clavigo, diesem Menschen ..zwischen zwei Empfindungen, von denen er keiner ganz angehört", vermag sie so recht nachzufühlen. Daneben findet besonders Goethes Lyrik in Rahel eine verständnisreiche Leserin. Das Jugendgedicht „Mit einem gemalten Bande" erfährt eine liebevolle Besprechung und auch an anderer Stelle wird Goethes Liedkunst hohes Lob gezollt. — Charakteristisch ist auch die Neigung für Heinse. tl Goethe, glaubte ich nur, könne so etwas."  Es kann nur Heinses Sturm- und Drangleidenschaft sein, die sie — in Gedanken an den Götz- und Wertherdichter — zu dem Ausspruche führt. Solche Unmittelbarkeit das Leben anzupacken, solche Unbekümmertheit um Sitte und Herkommen. „so etwas" konnte nur vom jungen Goethe geglaubt werden. 

Alle drei Frauen, wenn auch noch aus der alten Kirche des orthodoxen Goethekults, erweisen sich somit doch als Vermittlerinnen einer neuen Kirche, deren Gott der junge Goethe wird. Ehe es aber dahin kommt, war noch die Reaktion der vollkommenen Gottlosigkeit erforderlich, die erst den neuen Glauben inaugurierte.




Epigramme, Sprüche, Xenien

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