Es ist auf keinen Fall angängig, Ludwig Börne in das von Wolfgang Menzel geleitete Orchester zu setzen. Der Haß derer um Menzel gegen Goethe war einfach die aus einem verbohrten Kraftpatriotismus und rigorosen Moralismus geborene reaktionäre Reflexbewegung zu einer übertriebenen Verehrung des Dichters.
Die blinde Kritik der Menzel löst die sehende Ludwig Börnes ab. Sein Haß gewinnt Gestalt, er wendet sich nicht gegen Goethe überhaupt, sondern gegen die Schwächen, die er an Goethe zu erkennen glaubt: sie haßt er, und über sie bemüht er sich auch, seinen Zeitgenossen die Augen zu öffnen. Er setzt sich nicht auf einen literaturpäpstlichen Stuhl und wettert unfehlbare Bannurteile in die Welt, sondern in feiner Erkenntnis seines Selbst bekennt er die künstlerische Unmaßgeblichkeit seiner Literaturkritik. Menzels „polizeilicher Kritik" steht Börnes persönliche Kritik gegenüber. „Philosophie und Kunst mögen sie beurteilen, verurteilen darf man sie nie." Und von der positiven Kraft dieser seiner persönlichen Kritik denkt er recht bescheiden. „Der Kritiker befördert so wenig die schöne Kunst, als der Scharfrichter die Tugend befördert." Börne ist ein subjektiver Kritiker: „Wie ein Geschworener urteilte ich nach Gefühl und Gewissen; um die Gesetze bekümmerte ich mich, ja ich kannte sie gar nicht. Was Aristoteles. Lessing, Schlegel, Tieck, Müllner und andere der dramatischen Kunst befohlen oder verboten, war mir ganz fremd. Ich war ein Naturkritiker". Das stellt er schon 1829 seiner ersten Gesamtausgabe vor den Pariser Briefen voran, und diese Meinung hat er auch beibehalten bis zu seinem Tode.
Menzels Goethehaß ist überzeugter Parteihaß, der Börnesche ist der Haß des freien Mannes. Menzel schimpft, Börne urteilt. Menzel will ohne Goethe, Börne über Goethe, weiter.
Zum Verständnis Börnes und seiner Goethekritik muß vor allem das gesagt werden: Börne ist im stärksten Sinne ein Charakter, ein Mann mit tiefeingewurzelten Grundsätzen, schönen Grundsätzen, wie wir hinzusetzen dürfen. Eine heiße Vaterlandsliebe bewegt ihn, eine Liebe, die auf ihrer Höhe Haß werden kann. Ihn treibt eine Leidenschaft zur Wahrheit, die, wenn sie ihr Ziel am schärfsten im Auge hat, Unwahrheiten sagen kann. „Ich meyne etwas anderes als ich sage — ." Börne kann aus Liebe hassen, aus Wahrheitsliebe lügen. Börne ist ein verzweifelter, ein tragischer Charakter. Und damit ist er ein Sohn seiner Zeit, und — einer ihrer Besten. ,,Ich bin nur krank an meinem Vaterlande; es werde frei und ich gesunde." So ist es auch mit seiner Stellung zum Altmeister Goethe. Wäre er jung, er wäre Börnes bester Freund. Ein junger Goethe, das gerade fehlte seiner Zeit. Und wie ersehnt ihn Börne. Börne ist ein Verzweifelter. Ein neues Jahrhundert ringt in ihm zum Licht. Börne ist einer der ersten, der verzweifeltsten Kämpfer einer neuen Zeit, ein Vorposten eines neuen Jahrhunderts, ein siegkündendes Opfer.
Es ist keine Frage, daß Börne Goethes Größe anerkannt hat. In seinen besten Augenblicken sehen wir des Verzweifelten wahres Gesicht. Eben deshalb preist er Goethe glücklich, weshalb er ihm sein Leben lang grollte. Da ist der wahre Börne, es ist eine wichtige Stelle in ,, Menzel der Franzosenfresser". ,,Ich liege in meinem Wagen in aller Länge ausgestreckt, denn es ist ein Wiener Schlafwagen, demjenigen ähnlich, in dem einst Goethe nach der Champagne gereist, und der ihm so wert war, und von dem er so viel erzählte, daß er ganz die französische Revolution darüber vergaß. Der Glückliche!" In der intimsten Aussprache, wenn er ungehindert sein Herz ausschütten kann, sehen wir des Verzweifelten Seele klar. In „Vertraulichen Briefen" an Jeannette Wohl finden wir: ,,Alle Fehler Goethe's und Jean Paul's stehen in meinem Register verzeichnet, aber von dem, was sie Edles haben, erfährt nur mein Herz, in den seltenen Stunden der Rührung." Diese Menschen, die der Geist eines neuen Jahrhunderts bewegt, müssen etwas anderes sagen als sie fühlen. Es ist eine Zeit des Scheins und Trugs, aber die Geschichte erkennt das Wahre auch unter einem Schleier. Goethe und Schiller möchte der junge Börne sein, seitdem er Madame Herz kennt. — „Nichts ist wunderlicher" , sagt er, „als die Art wie man über Goethe spricht — ich sage die Art; ich sage nicht, es sei wunderlich, daß man ihn hochpreist; das ist erklärlich und verzeihlich." Ins Französische möchte er seine Urteile über Goethe nicht übersetzt wissen. Die Franzosen dürften das Gefühl der Hochachtung vor Goethe nicht verlieren. Im behaglichen Gefühl ist auch Goethe bei ihm: „Es ist doch herrlich in Paris! Da sitze ich abends 8 Uhr auf meinem Zimmer, rauche eine Pfeife, lese einen Band von Goethe und bekümmere mich um die ganze Welt nicht, kann man das in Deutschland auch haben?" Goethe und Schiller sind ihm die „zwei größten Geister", „Vormund des Volkes". Aber daß diese „zwei größten Geister in ihrem Hause ... so nichts . . . sind . . . das ist ein Wunder". „Der Vormund eines Volkes muß auch sein Anführer sein; einer Themis ohne Schwert wirft man die Wage an den Kopf." Deshalb gerade verzweifelt Börne : „Und so — ohne Führer, ohne Vormund, ohne Rechtsfreund, ohne Beschützer — wird das unglückliche Land eine Beute der Könige und das Volk der Spott der Völker." Der scharfsichtige Börne hat sich und seine Zeit erkannt. Zerrissen ist seine Seele von der zerrissenen Zeit; ein Mann könnte retten. Einen großen Mann ersehnt Börne, einen Retter, der seine Mitmenschen und sein Vaterland glücklich macht. Und immer wieder taucht ihm — Goethe bei solchen Gedanken vor seinem inneren Auge auf. Er bittet ihn, er ruft ihn, er mahnt ihn — er haßt ihn schließlich, als er ein verschlossenes Ohr findet. Goethe ist alt geworden; Börne suchte einen jugendlichen Feuerkopf, beseelt von den Tendenzen der Zeit. Und da ist Goethe, „dieser Mann eines Jahrhunderts . . . eine ungeheuer hindernde Kraft, er ist ein grauer Staar im deutschen Auge" . Er „hätte ein Herkules sein können, sein Vaterland von großem Unräte zu befreien, aber er holte sich bloß die goldenen Äpfel der Hesperiden, die er für sich behielt, und dann setzte er sich zu den Füßen der Omphale und blieb da sitzen". Deshalb erhebt der abgewiesene Bittende, der unerhörte Rufer, der zurückgestoßene Mahner — deshalb erhebt er zornbegeistert seine Stimme und spricht über Goethe den Fluch aus: „Er wird hundert Jahre erreichen, aber auch ein Jahrhundert geht vorüber und ewig sitzt die Nachwelt. Sie, die furchtlose, unbestechliche Richterin wird Goethe fragen: Du warst ein hoher Geist, hast Du je die Niedrigkeit beschämt? Der Himmel gab Dir eine Feuerzunge, hast Du je das Recht verteidigt? Du hattest ein gutes Schwert, aber Du warst nur immer Dein eigener Wächter! Glücklich hast Du gelebt, aber Du hast gelebt."
Es ist nicht immer dasselbe, wenn zwei dasselbe tun. Wenn Menzels Goethepolemik mit seiner Zeit verklang, so leitete die Börnesche eine neue Ästhetik ein, deren Ausläufer sich bis in unsere Zeit verzweigen. Menzels Feuer brannte lodernd auf, leuchtete weithin, war aber bald erloschen. Börne wirkte fort und Männer wie Grillparzer empfanden es: ,,Wenn dieser Börne streitet, ist etwas in ihm was an Lessing erinnert" und erklärten sich auch seinen Goethehaß. Börnes Ästhetik gebar die Zeit. Auch Menzel lebte zum Teil in ihr. Nur stieg sie bei Börne auf die Schwelle des Bewußtseins und gewann Formulierung. Wir können uns hier mit dieser Ästhetik, die auch für die übrigen Schriftsteller der Zeit bestimmend war, nur so weit befassen, als sie zum Verständnis des Börneschen Urteils über Goethe nötig scheint. Ihr Grundcharakter ist der, daß sie die Bewegung und Unruhe ihrer Zeit als künstlerischen Wertmaßstab aufnimmt. Danach wird Goethe beurteilt. Goethe ,, hasset alles Werden, jede Bewegung, weil das Werdende und das Bewegte sich zu keinem Kunstwerke eignet, das er nach seiner
Weise fassen und bequem genießen kann". ,,Es hüte sich der junge Dichter, an seinen Werken jene steinerne Ruhe herauszuarbeiten, von welcher Goethe so verlockende Beispiele gab . . . Die Ruhe der Gleichgültigkeit schafft nur Werke die gleichgültig lassen." „Der Bewegungslose wird nie bewegen, und nur der bewegte Dichter, kann dem bewegten Herzen Ruhe geben." Diese Ästhetik tritt natürlich dem olympischen Standpunkt des alten Goethe gerade gegenüber. Zu Ed. Beurmann äußert er im Gespräch: ,,Ich mag mich nicht so abrunden, daß ich der Kunst und dem Studium das Leben opfere." „Ich will es glauben", sagt er, „daß Goethe ein Gott war, aber unsere Welt ist nur für Menschen eingerichtet". Dabei ist nicht zu leugnen, daß er Goethes Dichtweise ganz richtig, wenn auch im Tone des Hasses, charakterisiert: ,, Alle Empfindungen fürchtet er als wilde mutwillige Bestien und sperrt sie, ihrer Meister zu bleiben, in den metrischen Käfig ein". „Goethe's Hofleute", spottet er, „bewundern das und nennen es Nachdenklichkeit; ich schlichter Bürger bemitleide das und nenne es Schwachdenklichkeit." Spätklassisch-jungdeutsch, historisch sowohl wie ästhetisch völlig verschiedene Standpunkte. Börnes Polemik gegen Goethe erwächst aus diesem fundamentalen Gegensatze.
Börnen erscheint der unsinnige Teutonismus Menzels oder Wolfgangs II., wie er ihn spöttisch nennt, ebenso lächerlich wie der übertriebene Goethekult. Beides wird zum Götzendienst. Den Götzendienst seiner Person, meint Börne zu Beurmann, hat Goethe „auf alle Weise unterstützt, er hat dazu beigetragen, daß man seine Person zu einer Autorität erhob .als man seine Werke dazu nicht mehr dazu gebrauchen konnte. So wird denn alles von ihm nach- und angebetet, sogar sein Unsinn". Gegen „die Goethianer", deren „Kunst und Poesie nichts als Formschneiderei" ist, richtet sich ein besonderer Artikel. Varnhagen von Ense nennt er den „wütendsten Goethepfaffen. Ein anderer,, Goethe-Pfaffe", erzählt er, ,,der so glücklich war eine ganze Brieftasche voll ungedruckte Zettelchen von seinem Gotte zu besitzen, breitete einmal seine Reliquien vor meinen Augen aus, fuhr mit zarten frommen Fingern darüber her und sagte mit Wasser im Munde: ,jede Zeile ist köstlich'!" So macht er sich lustig. Goethe, meint er, sei ,,so gut weggekommen", weil die Deutschen, wenn sie „ein Leben" beurteilen, es „mit der Ästhetik in der Hand" tun. „Ein Bewunderer Goethe's sagte mir einmal: um dessen Dichtwerke zu verstehen, müsse man auch seine naturwissenschaftlichen Werke kennen. Diese kenne ich freilich nicht, aber was ist das für ein Kunstwerk, das sich nicht selbst erklärt ? . . . Aber Goethe hat durch sein diplomatisches Verfahren die Ansicht geltend gemacht, man müsse alle seine Werke kennen, um jedes einzelne gehörig aufzufassen ; er wollte in Bausch und Bogen bewundert sein". Börne ist weit entfernt davon, alles hinzunehmen, was der Olympier im Weimarer Tempel predigt. So groß Goethe ist, auch er muß sich dem kritischen Gerichtshofe stellen. Börne kommt bei seiner Prüfung mit der „Ästhetik des redlichen Herzens" zu dem Schluß: „Es wäre besser gewesen, nicht alle Worte Goethe's in Stein zu hauen", und er ist gewiß, „daß die erbende Zukunft Goethes Hinterlassenschaft nur cum beneficio inventarii antreten werde". Vor allen Dingen sollte man nicht immer gerade die schlechten Bücher noch einer eingehenden Kritik unterziehen. Das sei billig und fruchtlos ; denn sie zerstören sich durch ihren Unwert schon selbst. Erst bei der kritischen Beleuchtung des wahrhaft Bedeutenden kann auch die Kritik wirklich Großes leisten. Auch darf das Urteil einer Zeit nicht fortwirken auf die Zukunft. Was einmal groß genannt wurde in der Vergangenheit, muß sich der Gegenwart erst als groß erweisen. Direkt in Bezug auf Goethe sagt Börne: „Die Werke großer Schriftsteller stehen nicht in erblicher und pflichtschuldiger Gunst, jedes Werk wird an sich geprüft und dessen Wert bestimmt, und der berühmte Name eines Schriftsteller? entscheidet nie über das Los seiner Leistungen."
Wir erkennen schon hier, welcher Goethe bei einem Standpunkte wie dem Booleschen in einer Beurteilung Goethes mit größter Wahrscheinlichkeit ,,gut fortkommt". Bewegung, Leben, das ist bei Börne auch Jugend. Dieses wildgärende Herz des Jungdeutschen Börne, diese Zerrissenheit des Verzweifelten, dieses Eintreten für all das von Menschen sonst Verstoßene, Verachtete, Geknechtete, dieses Weinen mit den Weinenden, Kämpfen mit den Kämpfenden und Schmachten mit den Schmachtenden — wo anders soll dieses in allen Fasern bewegte Herz bei Goethe die engste Verwandtschaft fühlen als bei dem Straßburger Studenten, dem Prometheus- Goethe, dem sentimentalen Dichter des Werther, dem freiheitsdürstenden Dichter des Götz ? Da fühlt es Herzen schlagen, da sieht es Fäuste ballen, da sieht es Leidenschaft und bewegtestes Leben Da muß es lieben.
Der größte Teil von Börnes Urteilen über Goethe hat auch offensichtlich den Zuschnitt auf den alten Goethe. Der ,, zahme, geduldige, zahnlose Genius", dem ,,des Lebens Behaglichkeit das Leben selbst" ist, ist kein anderer als der altgewordene Weimarer Minister und erdferne Weltweise. Die vielen Bemerkungen über Goethes Stil können nur auf Goethes Alterstil Anwendung finden: ,, Goethes Stil ist kalt, marmorartig, er ist nicht malerisch". ,, Goethes Lehrstil beleidigt jeden freien Mann. Unter allem, was er spricht, steht: tel est notre plaisir." „Goethes Stil ist zart und reinlich : darum gefällt er. Er ist vornehm : darum wird er geachtet — von andern. Ich aber untersuchte, ob die so glatte Haut Kraft und Gesundheit bedecke, und ich fand es nicht; fand keine Ader, die von der lilienweißen Hand den Weg zum Herzen zeige . . . ." Ein laut schlagendes Herz und übersprudelndes Leben sind aber gerade die Hauptkennzeichen für den Stil des jungen Goethe; und eine vergleichende Stiluntersuchung würde zwischen Börne und dem jungen Goethe noch eine nähere Verwandtschaft aufzuzeigen haben.
Aber auch direkte Äußerungen zeigen, daß Börne für den Sturm- und Dranggoethe eine warme Verehrung und wirkliche Liebe hegt und daß ihn eine jugendliche Aufwallung des Alten begeistert. Freudig erregt ist er als er Goethes Vorrede zum letzten Bande seines Briefwechsels mit Schiller liest: ,, Dürfen wir unsern Augen trauen? Der Geheimrat von Göthe, der Karlsbader Dichter, wagt es deutsche Fürsten zu schelten, daß sie Schiller, den Stolz und die Zierde des Vaterlandes verkümmern ließen ? Er wagt es so von höchsten und allerhöchsten Personen zu sprechen ? Ist der Mann jung geworden in seinem hohen Alter?" Aber da meldet sich sogleich der Mahner, der schon so viel vergebliche Worte verschwendet hat: Aber das verdammt ihn, daß er nicht vierzig Jahre früher und auch bei jedem Anlasse so hervorgetreten — verdammt ihn, weil wir jetzt sahen und erkannten, wie er hätte wirken können, wenn er es getan."
Die meisten anerkennenden Urteile hören wir über den Werther. Das ist ein Werk nach Börnes Art. Neben der Darstellung einer Leidenschaft ein Hinwegsetzen über soziale Schichten, ein Auflehnen gegen gesellschaftlich Bevorzugte, ein lebendiges Mitgefühl für die Schwachen. Der „Werther" ist ihm das liebste von Goethes Werken. Er liest ihn gerne und hat eine rechte Auffassung von ihm. Hören wir ihn selbst im 6. Teil der „Briefe": ,,Wie freue ich mich auf den Frühling. Wie will ich lieben! Auch will ich sobald ich meinen letzten Brief aus Paris geschrieben habe eine Frühlingskur gebrauchen. Brunnenkresse, den Werther, oder was sonst das Blut reinigt." Aus der frühen Zeit schon finden wir die warme Zustimmung zu Goethes Jugendroman. Er schreibt an seine Freundin: „ . . Ich las in Göthes . . . 'Herbsttage am Rhein'. Behagt mir nicht. Seine Bilder kalt wie Marmor, seine Empfindung nur künstlerisch, so vornehm lächelnd, so herablassend zu den Gefühlen unserer niederen Brust. Ich habe ihn nie leiden können. In seinem Werther hat er sich ausgeliebt, abgebrannt, zum Bettler geschrieben." Im „Narr im weißen Schwan" heißt es: ,,Der Deutsche denkt, dichtet, malt mit dem Herzen; wer sein Herz fesselt, hat seinen Geist gefesselt. Laßt uns darben und frei sein. Goethe schrieb seinen Werther, ehe er an den Hof gekommen, und kann man auch nicht beweisen, woran sein Herz gestorben — denn seine Jugend hat seine Freiheit nicht überlebt — so weiß man es doch." Im Tagebuch 1830 nimmt er als einziges Werk Goethes, das er nicht mit dem Verstände, sondern mit dem Herzen gelesen hätte, den Werther aus. Und in dem Aufsatz „Goethianer" sagt er: „Goethe hatte seine Jugend wie die Blattern ausgehalten, der Werther blieb ihm als eine Narbe zurück." Im vierten Bande der nachgelassenen Schriften lesen wir : ,,Der Werther war eine Kriegserklärung des Naturlebens des Menschen gegen die Kunstregeln, worin es gesellige Übereinkunft, bürgerliche und kirchliche Ordnungen gefesselt hielt." „Rechtlich und sittlich" findet Börne „diesen Widerstand gegen eine mißbräuchliche und überzeitige Gewalt" im Werther. Im „Faust" hält er ihn für „unrechtlich und unsittlich, denn dort artete er in eine Empörung gegen die allgegenwärtigen und allzeitigen Gesetze der Natur aus".
Götz und Egmont, das sind Stücke, die Börne nicht vom Bühnenrepertoir verschwinden zu sehen wünscht. „Frankfurt, das muß man rühmen, verzärtelt seine Kinder nicht. Unseres Goethes Egmont und Götz sind nie über unsere Bühne gegangen — nie! und sind uns so fremd, als es die Sakontala des Kalidas war, ehe Forster sie ins Vaterland verpflanzt." Die Freiheit ist ein poetischer Stoff, der die größten Wirkungen erzielt. Überall wo Börne ihn findet, bewillkommnet er ihn. ,, Sieht die Freiheit im Egmont nicht poetisch aus?" fragt er Ed. Beurmann. ,.Und hat nicht die Freiheit selbst den Stoff zum Faust geliefert ?" „Das Christentum ist eine Freiheit, und daß das Christentum Poesie sei, hat Goethe in seinem „Faust" zur Genüge anerkannt." Wir haben keinen Anlaß, den Berichten Beurmanns skeptisch gegenüber zu stehen ; sie sind zum mindesten im vollen Sinne Börnes. Gegen den Goetheschen Faust, sagte Börne, als er aufgefordert wurde den Lenauschen in der „Balance" zu besprechen, habe er „vieles einzuwenden". Auf jeden Fall aber steht der erste Faustteil seinen Anschauungen immer noch entschieden näher als Tasso, Iphigenie oder der zweite Faust. Dasselbe sagen uns die Mitteilungen der Jeanette Wohl- Strauß, denen Glauben zu schenken wir wohl auch berechtigt sind: „Börne liebte von Goethes Werken nur den Werther, Götz von Berlichingen und Egmont. Diese Dichtungen las er mit Vergnügen und hielt sie sehr hoch, weil er in denselben viel Jugendfeuer und die Sprache der Leidenschaft fand."
Neben diesen in Börnes Werken verstreuten Urteilen und Zeugnissen und dem schon benutzten zusammenhangenden Abschnitt im Tagebuch hat Börne an zwei Stellen in zusammenfassender Darstellung seine Meinung über Goethe kundgetan. Einmal im dritten Bande der „Briefe": „Tag- und Jahreshefte als Ergänzung meiner sonstigen Bekenntnisse, von 1789 bis 1806 ( Goethes Werke 31. Bd.)." Diese „Dornenlese aus Goethe'' kämpft gegen den alten Goethe, den greisen Einsiedler in Weimar, den die Ausbrüche der Revolution zu einer Oper begeistern, der „statt in der Hofgeschichte eine Weltgeschichte zu sehen,
in der Weltgeschichte eine Hofgeschichte sieht". Gegen diesen Goethe kämpft sie. Aber es ist eben eine „Dornenlese". Unverschleiert bleibt der Duft der Rose, an der die Dornen haften. Neben dem Tun und Treiben des Altmeisters steht Börne, verzweifelt grollend, daß dem Menschen nicht ewige Jugend gegeben ist, daß im langen Leben der Jugend das Alter folgt, der Leidenschaft die abgeklärte Ruhe. Er folgt Goethen nach Venedig und sieht ihn ,,— dort, die Sonne war untergegangen, das Abendrot überflutete Meer und Land, und die Purpurwellen des Lichtes schlugen über den felsigen Mann und verklärten den ewig Grauen — und vielleicht kam Werthers Geist über ihn, und dann fühlte er, daß er noch ein Herz habe, daß es eine Menschheit gebe um ihn, und dann erschrak er wohl über den Schlag seines Herzens, entsetzte sich über den Geist seiner verstorbenen Jugend; die Haare standen ihm zu Berge, und da, in seiner Todesangst, nach gewohnter Weise, um alle Betrachtungen los zu werden — verkroch er sich in einen geborstenen Schaf- Schädel und hielt sich da versteckt, bis wieder Nacht und Kühle über sein Herz gekommen! Und den Mann soll ich verehren ? Den soll ich lieben ?" Das ist der echte Börne; hier ist im Worte Zeitgeist kristallisiert. Börne und seine Zeitgenossen heben den gleichermaßen wie sie selbst vom Zeitgeiste zerrissenen jungen Goethe.
Ein Feuilletonliterarhistoriker freut sich über den „Treppenwitz der deutschen Geistesgeschichte, daß Börne sich am Ende seiner Laufbahn gezwungen sah, im Lager Goethes zu kämpfen", und hat dabei dessen Kritik von „Goethes Briefwechsel mit einem Kinde" vor sich, die allgemein und mit Recht als der wichtigste Abschnitt der Börneschen Goethekritik angesehen wird. Ein „Treppenwitz" war das nun durchaus nicht, sondern das organische Ergebnis der ganzen Polemik Börnes gegen Goethe, ein Ergebnis, dessen Richtigkeit man in Börnes ganzem Vorleben nachrechnen kann. Wir finden nichts, was wir nicht schon wüßten; als Bild wird ausgeführt, was einzelne Skizzen uns vorher verraten ließen. An der Spitze der Kritik als Motto stehen die bezeichnenden Worte des Goethe-Prometheus :
„Ich Dich ehren? wofür?
Hast Du die Schmerzen gelindert
Je des Beladenen ?
Hast Du die Tränen gestillet Je des Geängsteten ? — "
und sie erklären erschöpfend Börnes Stellung zu Goethe. Das ganze Buch Bettinens wird in Börnes Sinne ,,als Protestation gegen Goethe" aufgefaßt, gegen den Goethe natürlich, gegen den auch er protestiert. Bettinens „Buch, bekannt gemacht zur Verherrlichung Göthes, hat seine Blöße gezeigt, hat seine geheimsten Verbrechen aufgedeckt . . . Wäre die Liebe nicht blind, hätte sie statt zu Goethe für ihn gebetet, gebetet mit seinen eigenen schönen Worten :
Ist auf Deinem Psalter,
Vater der Liebe, ein Ton
Seinem Ohre vernehmlich,
So erquicke sein Herz!
Öffne den umwölkten Blick
Über die tausend Quellen
Neben dem Durstenden In der Wüste".
Ein ähnliches haben auch wir in Bettinens Briefen erkannt Nicht völlig unrichtig, wenn auch im Zerrbild, kennzeichnet Börne auch hier wieder Goethes Art zu dichten „Für Goethe war ein Kunstwerk der Sarg einer Idee, und hörte er etwas sich darin rühren, floh er entsetzt davon, ihm schauderte vor den lebendig Begrabenen." „Goethe hat nur verstanden, was tot war, und darum tötete er jedes Leben, um es zu verstehen." Als das Größte an Goethe wird seine Lyrik bewundert und verehrt. „Goethe lebt nur in seinen Liedern, da allein ist er ganz und vollständig." Börnes Kritik des Goetheschen Briefwechsels mit einem Kinde ist das Testament eines Verzweifelten: Goethe war
ein Großer. Aber hat er unserer Zeit geholfen ? das Vaterland muß ihn hassen. Mein Herz liebt Goethe und das Vaterland. Im Kampf zwischen Liebe und Liebe siegt das Vaterland in mir, und ich hasse Goethe. Es hebe ihn wer ihn lieben kann und mag. Ich kann es nicht, meiner Zeit bin ich schuldig ihn zu hassen. Die ihr nach mir seid, nicht mehr verzweifelt, seid glücklich, die Liebe zu eurem gesundeten Vaterlande mit der Liebe zu seinem großen Dichter zu vereinigen! —
Julian Schmidt sagt: „Die Stellung, die Börne in unserer Literatur einnimmt, steht in keinem Verhältnis zu seinem wirklichen Gehalt". Und er hat Recht. Nur im umgekehrten Sinne, als er sich dachte. In der Geschichte der Literatur überhaupt und in der Geschichte der literarischen Kritik und in der Geschichte Goethereife insbesondere ist Ludwig Börne eine Marke, die nicht übergangen werden darf. Von Menzel zu Börne ist ein Vorwärts im Urteil über Goethe. An den wenigen unterirdisch glimmenden Kohlen Menzels und vor allem an dem Feuer Börnes erwärmen die eigentlichen Jungdeutschen eine neue Goethebegeisterung, der Goethereife ein Stück entgegen.
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