Das Wesen des Dichters
Diesmal safsen sie bei altem Rheinwein und gutem Biskuit. Goethe summte Undeutliches vor sich hin; er war jetzt achtzig Jahre alt, ein freundliches Brummen war ihm längst zur Gewohnheit geworden. Eckermann, dem der Wein das Blut rascher in den Adern rinnen liefs, dachte an ein Gedicht, das ihm der Alte gestern sehr schön vorgelesen hatte. Es waren Verse, die vor vierzig Jahren in Italien sich eingefunden hatten :
„Cupido, loser, eigensinniger Knabe,
Du batst mich um Quartier auf einige Stunden :
Wie viele Tag' und Nächte bist du geblieben
Und bist nun herrisch und Meister im Hause geworden !
Von meinem breiten Lager bin ich vertrieben;
Nun sitz' ich an der Erde, Nächte gequälet!
Dein Mutwill' schüret Flamm' auf Flamme des Herdes,
Verbrennet den Vorrat des Winters und senget mich Armen!
Du hast mir mein Gerät verstellt und verschoben;
Ich suche und bin wie blind und irre geworden.
Du lärmst so ungeschickt! Ich fürchte, das Seelchen
Entflieht, um dir zu entfliehen, und räumet die Hütte."
„Ich kann das Gedicht nicht wieder los werden," sagte Eckermann und er fing laut an zu wiederholen:
„Du hast mir mein Gerät verstellt und verschoben;
Ich suche und bin wie blind und irre geworden" — — —
„Es bringt uns einen düsteren Zustand vor Augen," meinte Goethe.
„Es macht mir den Eindruck eines Bildes," versetzte der Jüngere, „eines niederländischen."
So ging das Gespräch weiter.
,,Es ist mir immer, als wäre es gereimt, und doch ist es nicht so. Woher kommt das?"
,,Das liegt im Rhythmus", antwortete Goethe und zeichnete mit einem Bleistifte den eigenartigen Tonfall auf, zuerst einen Vorschlag, dann Trochäen, gegen das Ende einen Daktylus, der eigenartig wirkt.
„Der Takt," fuhr er fort, „kommt aus der poetischen Stimmung wie unbewufst. Wollte man darüber denken, wenn man ein Gedicht macht, man würde verrückt und brächte nichts Gescheites zustande."
Gerade dieses Rätselhafte an dem Gedichte war es eben, was Eckermann beschäftigte.
,,Wie Sie zu dem Gefühl eines solchen Zustandes gekommen sind, begreife ich kaum; das Gedicht ist wie aus einer anderen Zeit und aus einer anderen Welt." ,,Ich werde es auch nicht zum zweitenmale machen," antwortete Goethe, ,,und wüfste auch nicht zu sagen, wie ich dazu gekommen bin."
So ging es Goethe mit manchem Gedichte. Im Februar 18 18 kehrte er in nächtiger Stunde von Camsdorf bei Jena nach der Gasthofsmansarde zurück, wo er damals wohnte; der klare Sternhimmel brachte ihn in eine wundersame Stimmung, und plötzlich stand ein Gedicht vor ihm; er konnte selber nicht sagen, woher es kam und wohin es wollte. Es war so wunderlichunverständlich wie die Stimmung, aus der es geboren, aber gerade dieser rätselhaften Herkunft wegen liebte es Goethe und hörte es gern, wenn es ihm später vor- gesungen wurde :
„Um Mitternacht ging ich nicht eben gerne,
Klein-kleiner Knabe, jenen Kirchhof hin
Zu Vaters Haus, des Pfarrers ; Stern am Sterne,
Sie leuchteten doch alle gar zu schön
Um Mitternacht.
Wenn ich dann ferner in des Lebens
Weite Zur Liebsten mufste, mufste, weil sie zog,
Gestirn und Nordschein über mir im Streite,
Ich gehend, kommend, Seligkeiten sog
Um Mitternacht
Bis dann zuletzt des vollen Mondes
Helle So klar und deutlich mir ins Finstre drang,
Auch der Gedanke willig, sinnig, schnelle
Sich ums Vergang'ne wie ums Künft'ge schlang.
Um Mitternacht. "
Nicht alle Poesie Goethes ist so inkommensurabel, fast an das Nonsensikalische mancher Volkslieder erinnernd, aber viele Strophen sind doch in gleicher Weise entstanden.
Schon als junger Mann war er dazu gelangt, das ihm innewohnende dichterische Talent als Natur zu betrachten. „Die Ausübung dieser Dichtergabe konnte zwar durch Veranlassung erregt und bestimmt werden; aber am freudigsten und reichlichsten trat sie unwillkürlich, ja wider Willen hervor."
„Durch Feld und Wald zu schweifen,
Mein Liedchen wegzupfeifen,
So ging's den ganzen Tag."
,,Auch beim nächtlichen Erwachen trat derselbe Fall ein, und ich hatte oft Lust, wie einer meiner Vorgänger, mir ein ledernes Wams machen zu lassen und mich zu gewöhnen, im Finstern durch's Gefühl das, was un- vermutet hervorbrach, zu fixieren. Ich war so ge- wohnt, mir ein Liedchen vorzusagen, ohne es wieder zusammenfinden zu können, dafs ich einigemale an den Pult rannte und mir nicht die Zeit nahm, einen quer liegenden Bogen zurechtzurücken, sondern das Gedicht von Anfang bis zu Ende, ohne mich von der Stelle zu rühren, in der Diagonale herunterschrieb. In eben diesem Sinne griff ich weit Heber zu dem Bleistift, welcher williger die Züge hergab ; denn es war mir einigemale begegnet, dafs das Schnarren und Spritzen der Feder mich aus meinem nachtwandlerischen Dichten aufweckte, mich zerstreute und ein kleines Produkt in der Geburt erstickte."
Auch zu Boisseree sagte Goethe einmal, dafs ihm die Gedichte auf einmal und ganz in den Sinn kämen, wenn sie recht wären; dann müfste er sie aber auch gleich aufschreiben, sonst finde er sie nie wieder; darum hüte er sich, auf den Spaziergängen etwas auszudenken. Es sei ein Unglück, wenn er es nicht ganz im Gedächtnis behalte; sobald er sich besinnen müfste, würde es nicht wieder gut, auch ändere er selten etwas. Ebenso sei es ein Unglück, wenn er Gedichte träume, das seien meist verlorene. Ein italienischer Poet habe sich aus diesem Grunde ein ledernes Wams machen lassen, worauf er im Bett habe schreiben können.
Solches unbewufste Schaffen war nach Goethes Urteil Kennzeichen des wahren Künstlers. ,,Vom eigentlich Produktiven ist niemand Herr, und sie müssen es alle nur so gewähren lassen," sagt er in seinen , Maximen und Reflexionen', und in den , Zahmen Xenien':
,,A11 unser redlichstes Bemüh'n
Glückt nur im unbewufsten Momente
Wie möchte denn die Rose blüh'n,
Wenn sie der Sonne Herrlichkeit erkennte!"
Und ebenda heifst es weiter:
„Ja, das ist das rechte Gleis,
Dafs man nicht weifs, Was man denkt,
Wenn man denkt;
Alles ist als wie geschenkt."
Goethe wufste wohl, dafs nicht alle Dichter so traumhaft, so nachtwandlerisch schaffen, wie er es oft that; namentlich an seinem grofsen Freunde bemerkte er zu seinem Erstaunen eine ganz andere Art. ,,Es war nicht Schillers Sache, mit einer gewissen Bewufstlosigkeit und gleichsam instinktmäfsig zu verfahren, vielmehr mufste er über jedes, was er that, reflektieren," aber als der geborene Dichter erschien ihm auch nicht eigentlich Schiller, sondern von seinen Zeitgenossen Byron. ,,Er ist ein grofses Talent, ein geborenes", sagte er von diesem, „und die eigentlich poetische Kraft ist mir bei niemand gröfser vorgekommen als bei ihm . . . Alles, was er produzieren mag, gelingt ihm, und man kann wirklich sagen, dafs sich bei ihm die Inspiration an die Stelle der Reflexion setzt. Er mufste immer dichten, und da war denn alles, was vom Menschen, besonders vom Herzen ausging, vortrefflich. Zu seinen Sachen kam er wie die Weiber zu schönen Kindern; sie denken nicht daran und wissen nicht wie." — Auch an Wieland rühmt Goethe sein genialisches Verfahren : ,,Ohne Vorsatz und Selbstbewufstsein." Und von seinen eigenen Jugendwerken meinte er im Alter, er wolle sie trotz ihrer Mängel nicht schelten: „Ich war freilich noch dunkel und strebte in bewufstlosem Drange vor mir hin, aber ich hatte ein Gefühl des Rechten, eine Wünschelrute, die mir anzeigte, wo Gold war."
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Dieses unbewufste Schaffen des Dichters kann man freundlich oder feindlich als göttliche Eingebung oder als Wahnsinn auffassen. Beide Auslegungen finden wir bei unserm Dichter. Er klagte noch wenige Tage vor seinem Tode, dafs man eine heute noch vor sich gehende göttliche Einwirkung allenfalls in religiösen und moralischen Dingen zugebe, dagegen in Dingen der Wissenschaft und Künste lauter Irdisches und nichts weiter als ein Produkt rein menschlicher Kräfte wahr- nehmen wolle. „Versuche es aber doch nur einer und bringe mit menschlichem Wollen und menschlichen Kräften etwas hervor, das den Schöpfungen, die den Namen Mozart, Rafael oder Shakespeare tragen, sich an die Seite setzen lasse!"
Das antike Bild für die göttliche Inspiration des Dichters ist der Besuch der Musen; Goethe brauchte es häufig, da es für seine eigene Erfahrung so richtig pafste. ,,Ich fürchtete, die Musen niemals wieder zu sehen/' schreibt er einmal an Schiller,-) ,,wenn man nicht aus Erfahrung wüfste, dafs diese gutherzigen Mädchen selbst das Stündchen abpassen, um ihren Freunden mit immer gleicher Liebe zu begegnen!"
Wie nahe der echte Dichter dem Wahnsinnigen verwandt ist, hat Goethe zeitweilig auch an sich erfahren; deutlich hat er es dann im ,Tasso' und anderwärts dargestellt. Sein eigener Verstand war ja so nüchtern, klar und scharf, dafs seiner Umgebung der Respekt davor nie fehlte; aber zuweilen, in enthusiastischen Stimmungen, schien er ihnen doch wie im Wahne zu reden. ,,Höre, Goethe schwärmt!" flüsterten sich dann die Damen ins Ohr, oder sie redeten ihn gar an: ,,Sie närrischer Geheimerat!" Von seinen Gedichten sagte er selber ,,
Andere verschlafen ihren Rausch,
Meiner steht auf dem Papiere."
Und 1812 schrieb er an die Gräfin O' Donnell, er habe sich abgewöhnen müssen, von der Kaiserin von Österreich, die er in ihrer Gesellschaft oft gesehen, zu seinen Freunden zu sprechen, denn die bravsten und sonst fürs Vortreffliche empfänglichen Menschen enthielten sich nicht, mir zu versichern, ich rede enthusiastisch, wenn ich nichts als die reine Prosa zu sprechen glaubte. Es kann zwar sein, dass, wie jener Prosa machte, ohne es zu wissen, ich unbewufst poetisch rede. Wäre ich aber auch ein anerkannter Nachtwandler, so will ich doch nicht aufgeweckt sein und halte mich daher fern von den Menschen, welche nur das Wahre zu sehen glauben, wenn sie das Gemeine sehen."
So erschien auch Goethe gelegentlich wie Tasso seinen Freundinnen:
,,Sein Auge weilt auf dieser Erde kaum;
Sein Ohr vernimmt den Einklang der Natur;
Was die Geschichte reicht, das Leben giebt,
Sein Busen nimmt es gleich und willig auf;
Das weit Zerstreute sammelt sein Gemüt,
Und sein Gefühl belebt das Unbelebte.
Oft adelt er, was uns gemein erschien,
Und das Geschätzte wird vor ihm zu nichts. — — —
Er scheint uns anzusehn, und Geister mögen
An unsrer Stelle seltsam ihm erscheinen."
Die Gegner der Poesie haben für diese Dichternatur ganz andere Worte, wie wir aus demselben Drama wissen. Schon Demokrit hat gesagt, dafs die Dichter wahnsinnig seien; im Koran heifst es von ihnen, dafs sie umherschweifen und irren, den Lügnern und Bösewichtern folgend; Goethe verteidigt gegen dieses harte Wort den Poeten in seinem ,Divan,' indem er ihn als Unbewufsten, Unzurechnungsfähigen hinstellt:
,,Weifs denn der, mit wem er geht und wandelt?
Er, der immer nur im Wahnsinn handelt !
Grenzenlos, von eigensinn'gem Lieben
Wird er in die Öde fortgetrieben,
Seiner Klagen Reim, in Sand geschrieben,
Sind vom Winde gleich verjagt:
Er versteht nicht, was er sagt;
Was er sagt, wird er nicht halten."
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Zu einem unfreiwilligen Handeln, einer Art Geisteszwang wird das künstlerische Schaffen namentlich, sobald die Anfänge eines Werkes entstanden sind. Da gewinnt das Werk unmerklich ein eigenes Leben, es läfst den Urheber nicht los, es scheint ihn hierhin und dahin zuziehen; schliefslich wird unklar, wer eigentlich Herr ist, wer eigentlich schafft. Man sollte oft unpersönlich sagen: es dichtet, es malt in mir. Der Vergleich mit einem, Diebesabenteuer liegt nahe : auch da sind wir höchstens im ersten Anfang völlig Meister unseres Handelns.
,, Zufällig naht man sich, man fühlt, man bleibt,
Und nach und nach wird man verflochten ;
Es wächst das Glück, nun wird es angefochten;
Man ist entzückt, dann kommt der Schmerz heran.
Und eh' man sich's versieht, ist's eben ein Roman "
Eine kleine Erzählung dachte Goethe zu schreiben, als er den Plan zu den , Wahlverwandtschaften' entwarf; ein Roman von zwei Bänden wurde daraus. Als der Erzieher von Schillers nachgelassenen Kindern, Abeken, warm für das Werk gegen seine zahlreichen Kritiker eintrat, freute sich Goethe besonders darüber, dass der junge Mann das Buch als ein für sich bestehendes, mit eigenem Leben begabtes Ganzes angesehen. ,,Ein solches Werk," sagte nachher der Dichter zu ihm, ,, wächst einem unter den Händen und legt einem die Notwendigkeit auf, alle Kraft aufzubieten, um seiner Meister zu bleiben und es zu vollenden."
Schon bei seinem ersten Drama war es ihm eben so gegangen; die ersten Akte des ,Götz' wurden ungefähr das, was sie werden sollten; in den folgenden aber, besonders gegen das Ende, rifs ihn eine wundersame Leidenschaft unbewufst hin. Er hatte sich, indem er Adelheid liebenswürdig zu schildern trachtete, selbst in sie verliebt, unwillkürlich war seine Feder nur ihr gewidmet, das Interesse an ihrem Schicksal nahm überhand, während Götz immermehr in den Hintergrund trat.
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Der echte Künstler offenbart sich auch dadurch, dafs er nicht selten zwecklos schafft, ohne an Ruhm und Nutzen zu denken, und das allein läfst ihn oft schon unverständig erscheinen. Goethe hat vieles gedichtet, was nicht aufgeschrieben wurde, und vieles, was nachher gedruckt wurde, entstand zu einer Zeit, wo er an ein gröfseres Publikum gar nicht dachte. Als er den ,Götz' niedergeschrieben hatte, hatte er manches daran auszusetzen, und er setzte sich sogleich hin und gestaltete das Stück gänzlich um. Er dachte auch bei dieser zweiten Bearbeitung nicht daran, sie drucken zu lassen; es sollte nur eine Vorübung sein. Aber sein Freund Merck war anderer Meinung: was denn das ewige Arbeiten und Umarbeiten helfen solle; das Ding müsse heraus, damit man sehe, was es für eine Wirkung thue. Merck bezahlte den Druck und Goethe das Papier, und in ein paar Wochen machte das Stück ein Gerede in allen deutschen Landen.
Begonnen hat Goethe seine dichterische Laufbahn als Epiker, nämlich als Märchen- und Romanerzähler im Kreise seiner Freunde. Niemand dachte daran, diese Erfindungen drucken zu lassen. Aber auch, wenn er allein mit sich war, war ihm das Dichten ein Bedürfnis, er mufste in Gestalten denken. Freund Merck hatte ganz recht, als er ihm sagte : ,,Dein Bestreben, deine unablenkbare Richtung ist, dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben", und als er ihn scharf unterschied von den Stolbergs und anderen, die das sogenannte Poetische, das Imaginative zu verwirklichen suchten. So hatte Goethe als junger Mann, etwa um die Zeit, wo er den ,Götz' schrieb, die Gewohnheit, wenn er allein war, irgend eine Person seiner Bekanntschaft im Geiste zu sich zu rufen. „Er bat sie, niederzusitzen, ging an ihr auf und ab, blieb vor ihr stehen und verhandelte mit ihr den Gegenstand, der ihm eben im Sinne lag. Hierauf antwortete sie gelegentlich oder gab durch die gewöhnliche Mimik ihr Zu- und Abstimmen zu erkennen. Sodann fuhr der Sprechende fort, dasjenige, was dem Gaste zu gefallen schien weiter auszuführen, oder was derselbe mifsbilligte, zu bedingen, näher zu bestimmen, und gab auch wohl zuletzt seine These gefällig auf. Das Wunderlichste war dabei, dafs er niemals Personen seiner näheren Bekanntschaft wählte, sondern solche, die er nur selten sah, ja mehrere, die weit in der Welt entfernt lebten . . . Höchst wunderbar würde es manchen vorgekommen sein, wenn sie hätten erfahren können, wie oft sie zu dieser ideellen Unterhaltung berufen worden, da sich manche zu einer wirklichen wohl schwerlich eingefunden hätten." Von solchen phantastischen Gesprächen zu dem Briefwechsel .Die Leiden des jungen Werthers' war dann nur ein kleiner Schritt.
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Der wahre Dichter mufs dichten, aber warum mufs er es? Weil er sonst den Eindrücken unterliegen würde. Seine Empfänglichkeit und Empfindlichkeit sind so grofs, dafs er das, was auf seine Seele eindringt, zurückgeben, reproduzieren mufs. Gegen das Herrliche, Rührende, Erhabene haben wir alle keine andere Verteidigung als dafs wir es lieben oder bewundern; etwas Ähnliches wie Lieben und Bewundern ist das Dichten. Der Dichter ist ein besonders sensitiver, nicht selten ein nervöser Mensch. Selbst vom gefeierten Dichter gilt es :
,,Der Lorbeerkranz ist, wo er mir erscheint,
Ein Zeichen mehr des Leidens als des Glückes."
Eckermann drückte einmal seine Verwunderung aus, dafs man bei ausgezeichneten Talenten, besonders bei Poeten, so häufig eine schwächliche Konstitution finde.
Goethe erwiderte : „Das Aufserordentliche, was solche Menschen leisten, setzt eine sehr zarte Organisation voraus, damit sie seltener Empfindungen fähig sein und die Stimme der Himmlischen vernehmen mögen. Nun ist eine solche Organisation im Konflikt mit der Welt und den Elementen leicht gestört und verletzt, und wer nicht, wie Voltaire, mit grofser Sensibilität eine aufserordentliche Zähheit verbindet, ist leicht einer fortgesetzten Kränklichkeit unterworfen. Schiller war auch beständig krank."
Diese Krankheit Schillers wollte Goethe nun freilich nicht als eine Förderung der Poesie hinstellen. Der Gärtner erklärt vielleicht, dafs ein angekränkelter Apfelbaum die besten Früchte trage, aber der ernstlich kranke Baum hat keinen Wert mehr. Als Goethe Tiecks Kritik des , Wallenstein' vor sich hatte, äufserte er:
,,Die meisten Stellen, an welchen Tieck etwas auszusetzen hat, finde ich Ursache, als pathologische zu betrachten. Hätte nicht Schiller an einer langsam tötenden Krankheit gelitten, so sähe das alles ganz anders aus. Unsere Korrespondenz, welche die Umstände, unter welchen ,Wallenstein' geschrieben worden, aufs deutlichste vorlegt, wird hierüber den wahrhaft Denkenden zu den würdigsten Betrachtungen veranlassen und unsere Ästhetik immer inniger mit Physiologie, Pathologie und Physik vereinigen, um die Bedingungen zu erkennen, welchen einzelne Menschen sowohl als ganze Nationen, die allgemeinste Weltepoche so gut als der heutige Tag unterworfen sind."
Goethe war viel gesünder als Schiller, wenn auch nicht so kräftig und kerngesund, wie er in der Phantasie seines Volkes fortlebt, aber er war gleichfalls sinnlich und seelisch so empfindlich, dafs er beständig nach Verteidigungsmitteln streben mufste. Schiller brauchte seine ganze Elastizität, um sich in der dunkelsten Zeit des Winters ,, gegen den herunterdrückenden Himmel Luft und Raum zu machen". Goethe fühlte ebenso; ihn quälte namentlich auch jeder tiefe Barometerstand. Seine Empfindlichkeit zeigte sich auch darin, dafs Kaffee und Thee wie Gift auf ihn wirkten und dafs ihm von Arzeneien kleinere Dosen verordnet werden mufsten, als andere bekamen. Gegen peinliche Eindrücke von aufsen mufste er sich sehr in Acht nehmen. Leichen sah er nie, wenn er es irgend vermeiden konnte; in ein Irrenhaus einzutreten, konnte man ihn nicht bewegen. Seinem Kunstfreunde Sulpiz Boisseree fiel es im Mai 1826 auf, dafs Goethe seine Schwiegertochter, die bei einem Falle vom Pferde sich das Gesicht verletzt hatte, nicht sehen wollte. Er mochte verdriefslich sein über die tollen Abenteuer Ottiliens, aber namentlich fürchtete er sich doch vor dem entstellten, verwundeten Antlitz. „Ich werde solche häfslichen Eindrücke nicht wieder los," erklärte er, und weiter: ,,Ich bin hinsichtlich meines sinnlichen Auffassungsvermögens so seltsam geartet, dafs ich alle Umrisse und Formen aufs schärfste und be- stimmteste in der Erinnerung behalte, dabei aber durch Mifsgestaltungen und Mängel mich aufs lebhafteste affiziert finde. Der schönste, kostbarste Kupferstich, wenn er einen Flecken oder Bruch bekommt, ist mir sofort unleidlich. Wie könnte ich mich aber über diese, oft freilich peinliche Eigentümlichkeit ärgern, da sie mit anderen erfreulichen Eigenschaften meiner Natur innigst zusammenhängt? Denn ohne jenes scharfe Auffassungs und Eindrucksvermögen könnte ich ja auch nicht meine Gestalten so lebendig und scharf individualisiert hervorbringen"
Durch diese Feinheit der Empfindung wird die poetische Thätigkeit eingeleitet; das Dichten ist aber auch eine positive Verteidigung gegen die mächtigen Eindrücke. Am tiefsten ergriffen unsern Dichter seine Verhältnisse zu Friederike Brion, Lotte Buff, Lili Schönemann, Charlotte v. Stein, Ulrike v. Levetzow; nur dichtend konnte er über sie zu leidlicher Ruhe gelangen.
,,Und was Amor ihm entwendet,
Kann Apoll nur wiedergeben :
Ruh' und Lust und Harmonieen
Und ein kräftig rein Bestreben.''
So singt er im ,Deutschen Parnafs' und er hat uns berichtet, dafs dieses Verhalten, von dem er sein ganzes Leben nicht abweichen konnte, schon in seinen ersten Jünglingsjahren sich zeigte. Schon in Leipzig mufste er dasjenige, was ihn erfreute oder quälte oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht verwandeln und darüber mit sich selbst abschliefsen, um sowohl seine Begriffe von den äufseren Dingen zu berichtigen, als sich im Innern deshalb zu beruhigen. ,,Die Gabe hierzu war wohl niemand nötiger als mir, den seine Natur immerfort aus einem Extrem in das andere warf. Alles, was daher von mir bekannt geworden, sind nur Bruchstücke einer grofsen Konfession." — Sein launisches Verhältnis zu Ännchen Schönkopf zwang ihn ,,zu einer quälenden und belehrenden Bufse", die uns als das kleine Stück ,Die Laune des Verliebten übrig geblieben ist. Von der Zeit, wo der Schmerz um Friederike Brion ihn durchwühlte, schreibt er: „Ich setzte die hergebrachte poetische Beichte wieder fort, um durch diese selbstquälerische Büfsung einer Innern Absolution würdig zu werden." Und ,,ich fühlte mich wie nach einer Generalbeichte wieder froh und frei und zu einem neuen Leben berechtigt", erzählt er von den Tagen,, da der ,Werther', den er „ziemlich unbewufst, einem Nachtwandler ähnlich", niedergeschrieben hatte, vor ihm lag. Und er fügt hinzu, sein altes Hausmittel, die Wirklichkeit in Poesie zu verwandeln, sei ihm diesmal vortrefflich zu statten gekommen. An diese Zeit mag er auch gedacht haben, als er später bekannte:
„Meine Dichterglut war sehr gering,
So lang ich dem Guten entgegenging;
Dagegen brannte sie lichterloh,
Wenn ich vor drohendem Übel floh."
Schwächer als eigene Erlebnisse, aber immer noch überaus kräftig wirkten manche historische Berichte Sagen und Erzählungen aus dem bürgerlichen Leben auf ihn ein; sein ,Götz' und ,Clavigo' sind erste Beispiele. „Die Lebensbeschreibung des Erstem hatte mich im Innersten ergriffen," erzählt er selbst, ,,die Gestalt eines rohen, wohlmeinenden Selbsthelfers in wilder anarchischer Zeit erregte meinen tiefsten Anteil." Aber auch fremde Kunstwerke verlangten oft von ihm eine poetische Reaktion. So war es, als die sämtlichen Gedichte des Hafis in Hammers Übersetzung erschienen. „Ich mufste mich dagegen produktiv verhalten, weil ich sonst vor der mächtigen Erscheinung nicht hätte bestehen können . . . Alles, was dem Stoff und dem Sinne nach bei mir Ähnliches verwahrt und gehegt worden, that sich hervor, und dies mit umsomehr Heftigkeit, als ich höchst nötig fühlte, mich aus der wirklichen Welt ... in eine ideelle zu flüchten, an welcher vergnüglichen Teil zu nehmen meiner Lust, Fähigkeit und Willen überlassen war.
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