> Gedichte und Zitate für alle: Wilhelm Bode- Goethes Ästhetik- Das Geniefsen der Kunstwerke. (Seite 2 )

2019-11-28

Wilhelm Bode- Goethes Ästhetik- Das Geniefsen der Kunstwerke. (Seite 2 )



Alles Aufnehmen der Kunst mufs eben in wörtlichem Sinne „erbaulich", konstruktiv sein. Wenn ein Ausländer in unserer Sprache sich uns verständlich zu machen sucht, so helfen wir ihm; wir suchen zu erraten, was er sagen möchte. Auch dem Künstler sollen wir helfen; auch von ihm dürfen wir uns nicht abwenden, wenn er einmal nur stammelt, statt flüssig zu reden, denn dafs er hinter seinem Ideale zurückbleibt, ist ganz natürlich. Der alte Wieland scherzte: „Man könnte die Leute wohl amüsieren, wenn sie nur amusabel wären" ; Goethe sagt uns die gleiche Wahrheit ausführlicher und ernster:

„Jeder Dichter baut sein Werk aus Elementen zusammen, die freilich der eine organischer zu verflechten vermag als der andere, doch kommt es auch viel auf den Beschauer an, von welcher Maxime dieser ausgeht. Ist er zur Trennung geneigt, so zerstört er mehr oder weniger die Einheit, welche der Künstler zu erringen strebt; mag er lieber verbinden, so hilft er dem Künstler nach und vollendet gleichsam dessen Absicht. Man kann in Rafaelischen Freskogemälden zeigen, wie sie teilweise ausgeführt worden, wie die Arbeit dem Künstler einen Tag besser gelang als den andern; dazu mufs man aber das Bild ganz nah untersuchen, und jedes Bild will doch aus einiger Ferne genossen sein. Wenn gewisse mechanische Behandlungsweisen, wie Kupferstich und Mosaik, in der Nähe vor dem Auge sich in ihre technischen Atome zerlegen, so fallen die höchsten Kunstwerke, Odyssee und Ilias, vor dem Scharfblick eines trennenden Kritikers auseinander. Ja, wer wird leugnen, dafs selbst Sophokles manchmal seine Purpurgewänder mit weifsem Zwirn zusammengenäht habe! Das alles soll nur soviel andeuten, dafs der Dichter, besonders der moderne, der lebende, Anspruch an die Neigung des Lesers, des Beurteilers machen und voraussetzen darf, dafs man konstruktiv mit ihm verfahre und nicht durch eine disjunktive Methode ein zartes, vielleicht schwaches Gewebe zerreifse oder den etwa schon vorhandenen Rifs vergröfsere."

Goethe erinnert einmal an die Zeit, wo es in Deutschland mehr als sonst Sitte war, Druckschriften zu verteilen, die als „Manuskript für Freunde" bezeichnet waren. ,,Wem dies befremdlich sein könnte, der bedenke, dafs doch am Ende jedes Buch nur für Teilnehmer, für Freunde, für Liebhaber des Verfassers geschrieben sei."

Goethe hat oft erklärt, dafs er nur für Freunde und Geistesverwandte schreibe. „Die ,Wahlverwandtschaften' schickte ich eigentlich als ein Zirkular an meine Freunde, damit sie meiner wieder einmal an manchen Orten und Enden gedächten. Wenn die Menge dieses Werkchen nebenher auch liest, so kann es mir ganz recht sein. Ich weifs, zu wem ich eigentlich gesprochen habe und wo ich nicht mifsverstanden werde. "

Er selber war das Muster eines wohlwollenden Kunstfreundes, obwohl er viel zu scharfsichtig war, um die Mängel ganz zu übersehen. Wir wissen, wie sehr er den Humoristen Sterne rühmte. ,, Sterne war der schönste Geist, der je gewirkt hat; wer ihn liest, fühlt sich sogleich frei und schön." „Sagazität und Penetration sind bei ihm grenzenlos," ruft er aus, und dann kommt gleich die Einschränkung: ,,er ist in nichts ein Muster," aber darauf wieder das grofse Lob, er sei in allem ein Andeuter und Erwecker, der eben dadurch die Leser zum Produzieren ihrer selbst reize. Ebenso nahm er die Bauten des italienischen Architekten Palladia auf. „Ich habe nichts Höheres, nichts Vollkommeneres gesehn!" ruft er begeistert aus; vier Tage später gesteht er zu: ,,An den ausgeführten Werken Palladios, besonders an den Kirchen, habe ich manches Tadelnswürdige neben dem Köstlichsten gefunden," aber er fährt fort: ,,Wenn ich nun so bei mir überlegte, inwiefern ich recht oder unrecht hätte gegen einen solchen aufserordentlichen Mann, so war es, als ob er dabei stände und mir sagte : Das und das habe ich wider Willen gemacht, aber doch gemacht, weil ich unter den gegebenen Umständen nur auf diese Weise meiner höchsten Idee am nächsten kommen konnte." Ebenso sah Goethe damals auch die Werke der italienischen Maler an. Er war durchaus nicht gegen alle frommen Gemälde; die Madonna mit dem Kinde war ihm ein Lieblingsgegenstand; der Jünger, der auf den Wellen schreiten kann, so lange er glaubt, und dergleichen Stoffe, die zugleich Schönes, Erfreuliches, beständig Gültiges darbieten, wollte er auch gern im christlichen Gewände gemalt haben, aber einen förmlichen Abscheu hatte er vor den nicht wenigen geistlichen Büdern, die an den Rabenstein und den Schindanger erinnern und uns nur Bosheit und schmähliches Leiden der Menschen vorführen. Da suchte denn sein Auge, um auch hier noch Gewinn zu haben, nach den Nebenfiguren, die der Künstler aus eigener Neigung hinzugefügt, oder er bewunderte die Faltenmäntel, die der Maler mit gröfserer Lust gemalt als die grämlichen Gesichter und die verwundeten Leiber der heiligen Märtyrer. Worauf der Künstler Wert gelegt hat, müssen wir immer zuerst bedenken. „Bei Betrachtung der Bilder mufs man zuerst fragen, was wollte der Künsder mit diesem Bilde sagen? Man mufs die Idee des Künstlers sich eigen zu machen streben und nicht kleine, in Eile hingeworfene Verzeichnisse aufsuchen und hierauf sein Urteil gründen."

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Viele Kunstwerke können wir erst in einem höheren Lebensalter, nach ernsten Lebenserfahrungen, nach einer vielseitigen Ausbildung richtig aufnehmen. Diese Erfahrung gilt für Einzelne und für ganze Nationen. Niemand wufste das besser als Goethe, denn er hatte ja erlebt, dafs seine Jugendwerke sofort zündeten, während für seine späteren Arbeiten nur winzig kleine Teile der Nation reif waren. Das Volk konnte sich nicht so schnell verfeinern wie der durch sein Genie und besondere Verhältnisse so sehr begünstigte einzelne Dichter. Schon Herder urteilte: „Im ganzen ist der Silberbleistift von Goethe für das heutige Publikum zu zart; die Striche, die er zieht, sind zu fein, zu unkenntlich, ich möchte fast sagen: zu ätherisch. Das an so arge Vergröberungen gewöhnte Auge kann sie deshalb zu keinem Charakterbilde zusammenfassen. Die jetzige litterarische Welt will durchaus mit einem reich ergiebigen Farbenquast bedient sein." Als Falk dieses Urteil Goethen wieder sagte, antwortete er: „Das hat der Alte gut und recht aufgefafst." Und fünfzehn Jahre später sagte Goethe zu Eckermann, der wie Carlyle den ,Wilhelm Meister' zum Besitz jedes Gebildeten gemacht sehen wollte :

„Liebes Kind, ich will Ihnen etwas vertrauen, das Sie sogleich über Vieles hinaushelfen und das Ihnen lebenslänglich zu gute kommen soll. Meine Sachen können nicht populär werden; wer daran denkt und dafür strebt, ist in einem Irrtum. Sie sind nicht für die Masse geschrieben, sondern nur für einzelne Menschen, die etwas Ähnliches wollen und suchen und die in ähnlichen Richtungen begriffen sind."

Goethe hätte auch sagen können, sie sind für reife gut gebildete Männer und Frauen geschrieben, und für diese auch nicht zu schwer. Ein junger Engländer sagte ihm einmal, dafs in Deutschland der ,Tasso' für schwer gelte,  „Die Hauptsache beim ,Tasso antwortete Goethe, ,,ist die, dafs man kein Kind mehr sei und gute Gesellschaft nicht entbehrt habe. Ein junger Mann von guter Familie mit hinreichendem Geist und Zartsinn und genügsamer äufserer Bildung, wie sie aus dem Umgange mit vollendeten Menschen der höhern und höchsten Stände hervorgeht, wird den ,Tasso' nicht schwer finden."

Als vom zweiten Teil des ,Faust' die Rede war, mufste freilich auch Goethe zugestehen, dafs einige Gelehrsamkeit und viel Lebens- und Weltkunde vorausgesetzt würden. ,,Es erscheint hier eine höhere, breitere hellere, leidenschaftslosere Welt, und wer sich nicht etwas umgethan und einiges erlebt hat, wird nichts damit anzufangen wissen. "

Aber auch als Leser erfuhr es Goethe, dass wir manches Werk erst dann richtig aufnehmen, wenn unsere eigene Entwicklung oder besondere Erlebnisse in uns ein Bedürfnis nach seinem Inhalt haben entstehen lassen. Es pafst auch auf Dichtungen und andere Kunstwerke, was er über die ,Dichtkunst' des Aristoteles an Schiller schrieb, als beide über poetische Stoffe und Formen diskutierten und dabei an den alten Theoretiker ihrer Kunst gerieten. ,,Ich bin sehr erfreut, dafs wir gerade zur rechten Stunde den Aristoteles aufgeschlagen haben. Ein Buch wird doch immer erst gefunden, wenn es verstanden wird. Ich erinnere mich sehr gut, dafs ich vor dreifsig Jahren die Übersetzung gelesen und doch auch von dem Sinne des Werks gar nichts begriffen habe. Ich hoffe,. mich bald mit Ihnen darüber weiter zu unterhalten."

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,,Es ist sonderbar, was für Säfte gewisse Tiere aus gewissen Pflanzen ziehen," schreibt Schiller an den Freund, und die Rede ist von seiner ehemaligen Geliebten Charlotte v. Kalb, der er den ,Alarcos' des jüngeren Schlegel zu lesen gegeben hatte. Was die Musik angeht, so bekennt auch Goethe, dafs sein Geniefsen von seinem Subjekt vornehmlich abhänge. Man sprach über die Melodie ,Einsam bin ich nicht alleine' in der ,Preciosa', und der Dichter meinte: „Solche reichliche sentimentale Melodieen deprimieren mich;, ich bedarf kräftiger frischer Töne, mich zusammenzuraffen, zu sammeln. Napoleon, der ein Tyrann war, soll sanfte Musik geliebt haben; ich, vermutlich weil ich kein Tyrann bin, liebe die rauschenden, lebhaften, heiteren. Der Mensch sehnt sich ewig nach dem, was er nicht ist.'

Man kann nun fragen, welche Wirkung denn ein Kunstwerk auf den normalen Leser machen werde, wenn er es in der richtigen Verfassung, unbefangen und gutwillig aufnimmt. Die natürliche Wirkung ist immer diejenige, dafs der Zustand des Künstlers im Aufnehmenden wieder hervorgerufen wird.

,,Jedes künstlich Hervorgebrachte versetzt uns in die Stimmung, in welcher sich der Verfasser befand; war :sie heiter und leicht, so werden wir uns frei fühlen; war sie beschränkt, sorglich und bedenklich, so zieht sie uns gleichmäfsig in die Enge."

„Es ist eigen an diesem Liede," sagte Eckermann, als von dem Gedichte ,Cupido, loser, eigensinniger Knabe' die Rede war, ,,dafs es in eine Art behaglich träumerische Stimmung versetzt, wenn man es sich rezitiert."

„Es ist aus solcher Stimmung hervorgegangen," antwortete Goethe, „und da ist denn auch mit Recht die Wirkung eine solche. "Ein andermal unterhielt man sich über eine schauspielerische Leistung. „Ich habe Unzelmann in dieser Rolle gesehen," sagte Goethe, „bei dem es einem immer wohl wurde, und zwar durch die grofse Freiheit seines Geistes, die er uns mitteilte. Denn es ist mit der Schauspielkunst wie mit allen übrigen Künsten. Was der Künstler thut oder gethan hat, setzt uns in die Stimmung, in der er selber war, da er es machte. Eine freie Stimmung des Künstlers macht uns frei, dagegen eine beklommene macht uns bänglich. Diese Freiheit im Künstler ist gewöhnlich dort, wo er ganz seiner Sache gewachsen ist, weshalb es uns denn bei niederländischen Gemälden so wohl wird, indem jene Künstler das nächste Leben darstellten, wovon sie vollkommen Herr waren. Sollen wir nun im Schauspieler diese Freiheit des Geistes empfinden, so mufs er durch Studium, Phantasie und Naturell vollkommen Herr seiner Rolle sein, alle körperlichen Mittel müssen ihm zu Gebote stehen, und eine gewisse jugendliche Energie mufs ihn unterstützen."

Bei den verschiedensten Künsten, auch bei solchen, von denen keine Ästhetik spricht, haben wir einen schönen Genufs, sobald wir grofse, die gewöhnlichen Kräfte übersteigende Aufgaben spielend erfüllt sehen ; man denke an Akrobaten, Jongleure, Zirkusreiter, Kraftkünstler, Tierbändiger. Goethe meint sogar: ,,Das Schwierige leicht behandelt zu sehen, giebt uns das Anschauen des Unmöglichen." Und wer sähe ,, Wunder" nicht gern?

Weil das Kunstwerk nicht eigentlich „Verständnis finden," sondern Empfindung und Stimmung erwecken soll, da es ja aus solchen hervorgeht und nicht, aus Verstandesthätigkeiten , so braucht auch ein Gedicht nicht verständlich oder verständig zu sein. Auch Goethe hat zuweilen Halbunsinn gedichtet und als vollwertig in seine gesammelten Werke aufgenommen. ,Wanderers Sturmlied' z. B. nennt der Dichter selber ,,leidenschaftlich vor sich hingesungenen Halbunsinn", und wo er von überirdischen oder wunderlichen Dingen handelt, hat er auch in vollem Bewufstsein das Klar-Verständige vermieden.

Der Kanzler v. Müller hörte ihn oft behaupten, ,,ein Kunstwerk, besonders ein Gedicht, das nichts zu erraten übrig lasse, sei kein wahres, vollwürdiges; seine höchste Bestimmung bleibe immer, zum Nachdenken aufzureizen, und nur dadurch könne es dem Beschauer oder Leser recht lieb werden, wenn es ihn zwinge, nach eigener Sinnesweise es sich auszulegen und gleichsam ergänzend nachzuschaffen."

Von Hafis rühmt Goethe dieselbe Art, Noch heute singen Kamel- und Maultiertreiber die Lieder des Hafis, „keineswegs um des Sinnes halber, den er selbst mutwillig zerstückelt, sondern der Stimmung wegen, die er ewig rein und erfreulich verbreitet."  Namentlich unter den Volksliedern finden wir in allen Ländern „nonsensikalische", die auf das Gemüt eine wunderbare Wirkung haben. Gerade im Unverständlichen scheinen die Dämonen zu wirken. Zu Eckermann sagte Goethe im höchsten Alter einmal: „In der Poesie ist durchaus etwas Dämonisches, und zwar vorzüglich in der unbewufsten, bei der aller Verstand und alle Vernunft zu kurz kommt, und die daher auch so über alle Begriffe wirkt. Desgleichen ist es in der Musik im höchsten Grade, denn sie steht so hoch, dafs kein Verstand ihr beikommen kann, und es geht von ihr eine Wirkung aus, die alles beherrscht und von der niemand imstande ist, sich Rechenschaft zu geben." Wer die Künstler und die Kulturen der Menschheit kennt, wird aus solchen Thatsachen seine Schlüsse ziehen. Er wird solchen Kunstwerken aus dem Wege gehen, die aus düstern, wilden, trostlosen Epochen der Völker stammen, z. B. der mittelalterlichen Baukunst und Dichtung, wenn er den Geist des Mittelalters nicht liebt. Er wird ferner früh genug fragen, ob ein Autor, dem er sich anvertrauen soll, ein abgeklärter, heiterer, Wohlwollender Charakter gewesen oder etwa ein Mann von ungezügelter Leidenschaft, von verbissenem Hafs, von gedrücktem, mifstrauischem Wesen oder eine Frau von jener unerquicklichen männlich-weiblichen Halbnatur, wie wir sie unter Schriftstellerinnen oft finden. Goethe nahm beim Lesen ihrer Produkte die Stimmung der Schriftstellerin an und befand sich herzlich schlecht dabei, und uns Anderen wird es nicht besser gehen.

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Aus dem Kunstfreunde wird zuweilen ein Kunstkenner, und diesem erschliefsen sich neue Arten des Kunstgenusses. Wie aber kann man ein Kenner werden? Viel Sehen, Lesen und Hören, viele Theater und Sammlungen Besuchen genügt noch nicht. Berufen ist erst derjenige, „der sich selbst verleugnen, sich den Gegenständen unterordnen kann, der nicht mit einem starren, beschränkten Eigensinn sich und seine klägliche Einseitigkeit in die höchsten Werke der Natur überzutragen strebt."

Goethes Sachlichkeit ist der richtige Weg als er acht Wochen in Italien gewesen, schrieb er: ,,Ich halte die Augen nur immer offen und drücke mir die Gegenstände recht ein. Urteilen möchte ich gar nicht, wenn es nur möglich wäre." In Sachen der bildenden Kunst war fast vier Jahrzehnte hindurch der Schweizer Heinrich Meyer seine grofse Autorität,, so dafs man wohl behauptete, Goethe urteile über ein neues plastisches Werk oder ein Gemälde erst, wenn er des ,,Kunschtmeyers" Meinung eingeholt habe. Warum Goethe diesen Freund als Lehrer annahm, lesen war aus einem Briefe heraus, den er an Meyer richtete.

,,Dafs Sie durch genaue Beobachtungen des Sinnes, in welchem die Kunstwerke gemacht sind, die Art, wie, und das Mittel, wodurch sie gemacht sind, neue und sichere Quellen des Beschauens und der Erkenntnis eröffnen würden, war ich durch Ihre Versuche in Dresden und durch Ihr ganzes Leben und Wesen überzeugt. Wer in dem immerfort dauernden Streben begriffen ist, die Sachen in sich und nicht, wie unsere lieben Landsleute, sich nur in den Sachen zu sehen, der mufs immer vorwärts kommen, indem er seine Kenntnisfähigkeit vermehrt und mehrere und bessere Dinge in sich aufnehmen kann." Demselben Freunde ruft er einige Monate später zu: „Es geht nichts über den Genufs würdiger Kunstwerke, wenn er nicht auf Vorurteil, sondern auf wahrer Kenntnis ruht."

 Auch die Malerin Angelika Kaufmann rühmte er als Lehrerin und er begleitete sie gern in die römischen Galerien. ,,Mit Angelika ist es gar angenehm, Gemälde zu betrachten, da ihr Auge sehr gebildet und ihre mechanische Kunstkenntnis so grofs ist. Dabei ist sie sehr für alles. Schöne, Wahre, Zarte empfindlich und unglaublich bescheiden.' Dagegen spottet er über jene andern, Kenner, die nur immer stritten, ob Rafael oder Michel Angelo gröfser sei.

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Welche Genüsse hat denn nun der Kenner für sich allein? Einige Beispiele giebt uns Goethe. Der Kenner beobachtet das Wachsen und Lernen eines Künstlers an seinen Werken und freut sich jeden Fortschritts. So hat Goethe beobachtet, wie bei den päpstlichen Teppichen Rafael dasselbe Thema zweimal behandelt und bei einer zweiten Behandlung Veränderungen und Steigerungen zu bewirken gewufst hat. Unser Dichter fügt hinzu: ,, Bekennen wir, dafs ein solches Studium uns zu den schönsten Freuden eines langen Lebens gedient hat." Ebenso sieht der Kenner, wie die einzelnen grofsen Künstler ihre Vorläufer übertroffen haben, und auch da bewundert er Leistungen, die der Laie gar nicht bemerken kann. Er geniefst in manchen Fällen auch die Absicht des Künstlers, wo sie gar nicht vollständig verwirklicht wurde. Skizzen und Handzeichnungen sind deshalb bei Kennern besonders beliebt. Goethe zeigte Eckermann den Entwurf eines italienischen Meisters, den Knaben Jesus darstellend im Tempel unter den Schriftgelehrten. Daneben zeigte er ihm einen Kupferstich, der nach dem ausgeführten Bilde gemacht war, und man konnte viele Betrachtungen anstellen, die alle zugunsten der Handzeichnung hinausliefen.

,,Ich bin in dieser Zeit so glücklich gewesen," sagte Goethe, „viele treffliche Handzeichnungen berühmter Meister um ein Billiges zu kaufen. Solche Zeichnungen sind unschätzbar, nicht allein weil sie die rein geistige Intention des Künstlers geben, sondern auch weil sie uns unmittelbar in die Stimmung versetzen, in welcher der Künstler sich in dem Augenblick des Schaffens befand. Aus dieser Zeichnung des Jesusknaben im Tempel blickt aus allen Zügen grofse Klarheit und heitere stille Entschiedenheit im Gemüte des Künstlers, welche wohlthätige Stimmung in uns übergeht, sowie wir das Bild betrachten."

Auch an den niederländischen Gemälden bewahrheitete sich nach Goethes Ansicht Tischbeins Bemerkung ,,dafs die flüchtigsten Bilder oft die glücklichsten Gedankenhaben. Es schien ihm, dass die Gewissenhaftigkeit der Künstler, dem Liebhaber und Kenner etwas vollkommen Würdiges überliefern zu wollen, den Aufflug des Geistes einigermafsen beschränke, dahingegen eine geistreich gefafste, flüchtig hingeworfene Skizze das eigenste Talent des Künstlers offenbare."

Den Kennern ist es ferner eigen, dafs sie von den Kopien zu den Originalen steigen, wobei die Freude des Aufwärtsdringens nicht ausbleibt. Goethe war dankbar, dafs er in jungen Jahren in Leipzig, Dresden und Mannheim Gipsabgüsse mancher antiken Werke hatte sehen können. „Diese edeln Gestalten waren eine Art von heimlichem Gegengift, wenn das Schwache, Falsche, Manierierte über mich zu gewinnen drohte.' Aber der Unterschied zwischen Original und Abgufs ist erstaunlich.

„Auf Jeden, der ein zwar ungeübtes, aber für das Schöne empfängliches Auge hat, wird ein stumpfer, unvollkommener Gipsabgufs eines trefflichen alten Werkes noch immer eine grofse Wirkung thun; denn in einer solchen Nachbildung bleibt doch immer die Idee, die Einfalt und Gröfse der Form, genug das Allgemeinste noch übrig, soviel als man mit schlechten Augen allenfalls in der Ferne gewahr werden könnte. Man kann bemerken, dafs oft eine lebhafte Neigung zur Kunst durch solche ganz unvollkommenen Nachbildungen entzündet wird. Allein die Wirkung ist dem Gegenstande gleich: es wird mehr ein dunkles, unbestimmtes Gefühl erregt, als dafs eigentlich der Gegenstand in seinem Wert und in seiner Würde solchen angehenden Kunstfreunden erscheinen sollte. Solche sind es, die gewöhnlich den Grundsatz äufsern, dafs eine allzugenaue kritische Untersuchung den Genufs zerstöre; solche sind es, die sich gegen eine Würdigung des Einzelnen zu sträuben pflegen. Wenn ihnen aber nach und nach, bei weiterer Erfahrung und Übung, ein scharfer Abgufs statt eines stumpfen, ein Original statt eines Abgusses vorgelegt wird, dann wächst mit der Einsicht auch das Vergnügen, und so steigt es, wenn Originale selbst wenn vollkommene Originale ihnen endlich bekannt werden.

„Gern läfst man sich in die Labyrinthe genauer Betrachtungen ein, wenn das Einzelne sowie das Ganze vollkommen ist; ja, man lernt einsehen, dafs man das Vortreffliche nur in dem Mafse kennen lernt, insofern man das Mangelhafte einzusehen imstande ist. Die Restauration von den ursprünglichen Teilen, die Kopie von dem Original zu unterscheiden, in dem kleinsten Fragmente noch die zerstörte Herrlichkeit des Ganzen zu schauen, wird der Genufs des vollendeten Kenners, und es ist ein grofser Unterschied, ein stumpfes Ganzes mit dunklem Sinne oder ein Vollendetes mit hellem Sinne zu beschauen und zu fassen." — — —

Ein Kenner sein und bleiben kann man aber nur^ wenn man sich in beständigem Verkehr mit den gröfsten Meistern hält, mit den Lichtgestalten wie Mozart, Moliere, Shakespeare, Rafael und vor allem mit den Griechen: Homer, Sophokles, Euripides, Phidias. Sie sind das Heilmittel, wenn die Seele alt und krank und feige werden will; den Umgang mit ihnen feierte Goethe 1823 als seine ,,Panacee".

„Sprich, wie du dich immer und immer erneu'st?" —
,,Kannst's auch, wenn du immer am Grofsen dich freus't. 
Das Grofse bleibt frisch, erwärmend, belebend, 
Im Kleinlichen fröstelt der Kleinliche bebend."
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An die Grofsen, die auf anderen Gebieten wirken, nahe heranzukommen, ihr Bestes mit ihnen zu teilen, ist nur Wenigen vergönnt; wir alle aber können Freunde der Meister werden, die sich in Kunstwerken ausgesprochen haben. Und „so eine wahre, warme Freude ist nicht in der Welt, als eine grofse Seele zu sehen, die sich gegen Einen öffnet."  ,, Trifft man wieder einmal auf eine Arbeit von Rafael, so ist man gleich vollkommen geheilt und froh," das erlebte Goethe in Italien; solche Seelenärzte täglich aufzusuchen, hat er oft geraten.


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