> Gedichte und Zitate für alle: Wilhelm Bode- Goethes Ästhetik- Das Kritisieren. (Seite 2 )

2019-11-29

Wilhelm Bode- Goethes Ästhetik- Das Kritisieren. (Seite 2 )



Denselben Kritiker betraf Goethe auch einmal bei dem gleichfalls häufigen Vergehen, ein Werk nicht nach seinen Eigenschaften, sondern nach der Person des Verfassers zu beurteilen. Im Jahre 1797 erschien ein Roman, Agnes von Lilien'; er war von Karoline v. Wolzogen, der Schwägerin Schillers, verfafst, aber sie hatte sich auf dem Titel nicht genannt. Irgendwie entstand in Jena das Gerücht, der Roman sei von Goethe, und auch Schiller widersprach nicht, da es ihm Spafs machte, die Wirkungen des Irrtums zu verfolgen. Einige fanden, Goethe habe nie etwas Besseres geschrieben; Andere rissen das Buch herunter. Am pikantesten war für Schiller, dafs Herr und Frau v. Beulwitz den Roman überschwenglich lobten und später erfahren mufsten, dafs ihn die erste, durch Scheidung von ihm getrennte Frau des Herrn v. Beulwitz gedichtet hatte. Ernster aber war, dafs auch ein solches litterarisches Licht wie Schlegel ohne weiteres dem falschen Gerüchte glaubte. „Es wird doch zu arg mit diesem Herrn Friedrich Schlegel", schreibt Schiller am 17. Mai 1797 an Goethe. „So hat er kürzlich dem Alexander Humboldt erzählt, dafs er die Agnes im Journal Deutschland rezensiert habe und zwar sehr hart. Jetzt aber, da er höre, sie sei nicht von Ihnen, so bedaure er, dafs er sie so streng behandelt habe. Der Laffe meinte also, er müsse dafür sorgen, dafs Ihr Geschmack sich nicht verschlimmere." — Aber was war da zu thun? Goethe wufste ja schon längst^ dafs fast bei allen Urteilen nur der gute oder der böse Wille gegen die Person waltet, und mit einem kräftigen Worte gegen die Fratze des Parteigeistes wandte er sich dem Schlüsse von seinem neuesten Gedichte zu.

„Ein deutscher Schriftsteller — ein deutscher Märtyrer!" sagte er in seinen letzten Jahren zu Eckermann.  ,Ja, mein Guter, Sie werden es nicht anders finden. Und ich selbst kann mich kaum beklagen; es ist allen Andern nicht besser gegangen, den meisten sogar schlechter, und in England und Frankreich ganz wie bei uns. Was hat nicht Moliere zu leiden gehabt, und was nicht Rousseau und Voltaire! Byron ward durch die bösen Zungen aus England getrieben und würde zuletzt ans Ende der Welt geflohen sein, wenn ein früher Tod ihn nicht den Philistern und ihrem Hafs enthoben hätte."

,,Und wenn noch die bornierte Masse höhere Menschen verfolgte! Nein, ein Begabter und ein Talent verfolgt das andere. Platen ärgert Heine und Heine Platen, und Jeder sucht den Andern schlecht und verhafst zu machen, da doch zu einem friedlichen Hinleben und Hinwirken die Welt grofs und weit genug ist, und jeder schon an seinem eigenen Talent einen Feind hat, der ihm hinlänglich zu schaffen macht!"

Der Parteigeist zeigt sich besonders auch als Cameraderie; das Sprichwort ,,Eine Hand wäscht die andere" wird auch in die hohen Gefilde der Kunst und Wissenschaft hinaufgetragen. Gar mancher richtet die Ergebnisse seines Denkens danach ein, dafs er äufserliche Vorteile, Stellung und Reichtum gewinne. „Ich hätte die Erbärmlichkeit der Menschen und wie wenig es ihnen um wahrhaft grofse Zwecke zu thun ist, nie so kennen gelernt," meinte Goethe, ,,wenn ich mich nicht durch meine naturwissenschaftlichen Bestrebungen an ihnen versucht hätte. Da aber sah ich, dafs den meisten die Wissenschaft nur etwas ist, insofern sie davon leben, und dafs sie sogar den Irrtum vergöttern, wenn sie davon ihre Existenz haben. Und in der schönen Litteratur ist es nicht besser. Auch dort sind grofse Zwecke und echter Sinn für das Wahre und Tüchtige und dessen Verbreitung sehr seltene Erscheinungen. Einer hegt und trägt den Andern, weil er von ihm wieder gehegt und getragen wird, und das wahrhaft Grofse ist ihnen widerwärtig, und sie möchten es gern aus der Welt schaffen, damit sie selber nur etwas zu bedeuten hätten. So ist die Masse, und einzelne Hervorragende sind nicht viel besser."

Dann dachte der alte Dichter an seinen grofsen Vorgänger, der mit eisernem Besen den Hof der deutschen Litteratur vom Gröbsten gereinigt hatte. „Ein Mann wie Lessing thäte uns not. Denn wodurch ist dieser so grofs als durch seinen Charakter, durch sein Festhalten! So kluge, so gebildete Menschen giebt es viele, aber wo ist ein solcher Charakter! Viele sind geistreich genug und voller Kenntnisse, allein sie sind zugleich voller Eitelkeit, und um sich von der kurzsichtigen Masse als witzige Köpfe bewundern zu lassen, haben sie keine Scham und Scheu und ist ihnen nichts heilig."

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Der schlechte Charakter offenbart sich am bösartigsten, wenn der Kritiker eines Kunstwerkes das Privatleben des Urhebers in sein Urteil hineinzieht und vielleicht giftige Andeutungen über den Menschen macht, wo doch das Publikum es nur mit einem Buche oder Bilde zu thun hat. Die unsympathischste Person in Weimar war für Goethe der Theaterdichter August v.Kotzebue; viele Ärgerlichkeiten hatte er von ihm gehabt, aber gerade deshalb betonte er häufig, dafs dieser selbe Kotzebue ein sehr hervorragendes theatralisches Talent sei, und er führte seine Stücke fleifsig auf. Er verstand es, dafs ein fanatischer Student den verächtlich gewordenen Kotzebue ermordete,  aber die Brauchbarkeit seiner Stücke hing von ganz anderen Dingen als von Kotzebues Privatleben ab.

Freilich, das grofse Publikum und leider auch mancher Kritiker kann Person und Sache nicht trennen, vermischt ästhetisches und moralisches Urteil und sitzt überhaupt ganz unnötiger Weise zu Gericht. ,,Das Publikum, im ganzen genommen, ist nicht fähig, irgend ein Talent zu beurteilen; denn die Grundsätze, wonach es geschehen kann, werden nicht mit uns geboren, der Zufall überliefert sie nicht, durch Übung und Studium allein können wir dazu gelangen. Aber sittliche Handlungen zu beurteilen, dazu giebt Jedem sein eigenes Gewissen den vollständigsten Mafsstab, und Jeder findet es behaglich, diesen nicht an sich selbst, sondern an einen andern anzulegen. Deshalb sieht man besonders Litteratoren, die ihren Gegnern vor dem Publikum schaden wollen, ihnen moralische Mängel, Vergehungen, mutmafsliche Absichten und wahrscheinliche Folgen ihrer Handlungen vorwerfen. Der eigentliche Gesichtspunkt, was einer als talentvoller Mann dichtet oder sonst leistet, wird verrückt, und man zieht diesen zum Vorteile der Welt und der Menschen besonders Begabten vor den allgemeinen Richterstuhl der Sittlichkeit, vor welchen ihn eigentlich nur seine Frau und Kinder, seine Hausgenossen, allenfalls Mitbürger und Obrigkeit zu fordern hätten. Niemand gehört als sittlicher Mensch der Welt an. Die schönen, allgemeinen Forderungen mache Jeder an sich selbst; was daran fehlt, berichtige er mit Gott und seinem Herzen, und von dem, was an ihm wahr und gut ist, überzeuge er seine Nächsten. Hingegen als das, wozu ihn die Natur besonders gebildet, als Mann von Kraft, Thätigkeit, Geist und Talent, gehört er der Welt. Alles Vorzügliche kann nur für einen unendlichen Kreis arbeiten, und das nehme denn auch die Welt mit Dank an und bilde sich nicht ein, dafs sie befugt sei, in irgend einem anderen Sinne zu Gericht zu sitzen."

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Auch wenn er die Person des Urhebers ganz beiseite läfst, vergreift sich der moralisierende Idealist in der Kritik sehr leicht, weil er sein Ideal fordert, wo der Künstler Wahrheit zu geben verpflichtet ist. Man ist leicht enttäuscht, wenn uns der Dichter bei politischen oder moralischen oder sonstigen Entwickelungen nicht das bietet, was wir wünschen, sondern statt des idealen Seinsollenden das wahrhafte Sein. Eckermann erfreute sich eines Morgens an des ,Nadowessiers Totenlied', „Sie sehen," sagte Goethe dazu," „wie Schiller ein grofser Künstler war und wie er auch das Objektive zu fassen wufste, wenn es ihm als Überlieferung vor Augen kam. Gewifs, die ,Nadowessische Totenklage' gehört zu seinen allerbesten Gedichten, und ich wollte nur, dafs er ein Dutzend in dieser Art gemacht hätte.

Aber können Sie denken, dafs seine nächsten Freunde ihn dieses Gedichtes wegen tadelten, indem sie meinten, es trage nicht genug von seiner Idealität? — Ja, mein Guter, man hat von seinen Freunden zu leiden gehabt ! Tadelte doch Humboldt auch an meiner Dorothea, dafs sie bei dem Überfall der Krieger zu den Waffen gegriffen und dreingeschlagen habe! Und doch, ohne jenen Zug ist ja der Charakter des aufserordentlichen Mädchens, wie sie zu dieser Zeit und zu diesen Zuständen recht war, sogleich vernichtet, und sie sinkt in die Reihe des Gewöhnlichen herab. — Aber Sie werden bei weiterm Leben immer mehr finden, wie wenige Menschen fähig sind, sich auf den Fufs dessen zu setzen, was sein mufs, und dafs vielmehr alle nur immer das loben und das hervorgebracht wissen wollen, was ihnen selber gemäfs ist."

In gröberer Form finden wir bei weniger gebildeten Leuten, dafs sie den Künstler nach den Illusionen beurteilen, die er ihnen giebt, und nach den Schmeicheleien, die er ihnen sagt. Schon 1786 erkennt Goethe: „Man verdient wenig Dank von den Menschen, wenn man ihr inneres Bedürfnis erhöhen, ihnen eine grofse Idee von ihnen selbst geben, ihnen das Herrliche eines wahren, edeln Daseins zum Gefühl bringen will. Aber wenn man die Vögel belügt, Märchen erzählt, von Tag zu Tag ihnen forthelfend sie verschlechtert, da ist man ihr Mann."

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Zu den üblichsten Fehlern der Kritiker gehört das Haften an Kleinigkeiten. Von einer herrlichen Kirche sehen sie oft weiter nichts als ein paar schadhafte Stellen. Manche Laien treten zu nahe an das Ölgemälde heran und verderben sich dadurch das Bild; die Kritiker begehen den gleichen Fehler in mancher Hinsicht. ,,An meinen Bildern müfst ihr nicht schnüffeln, die Farben sind ungesund," hat schon Rembrandt ausgerufen, Goethe zitiert das Wort mit Behagen. Eine solche Schnüffelei ist z. B. die nach Fremdwörtern. Goethe hat selbst eifrig nach Sprachreinheit gestrebt hat oft die ihm zuerst in die Feder geflossenen fremdländischen Worte später verdeutscht; er hatte auch Riemer Gewalt gegeben, in seinen Handschriften Fremdwörter auszumerzen. Aber er schreibt demselben Riemer doch auch:  ,,. . . allein das mufs ich Ihnen gegenwärtig vertrauen, dafs ich im Leben und Umgang mehr als einmal die Erfahrung gemacht habe, dafs es eigentlich geistlose Menschen sind, welche auf die Sprachreinigung mit so grofsem Eifer dringen. Denn da sie den Wert eines Ausdrucks nicht zu schätzen wissen, so finden sie gar leicht ein Surrogat, welches ihnen ebenso bedeutend erscheint, und in Absicht auf Urteil haben sie doch etwas zu erwähnen und an den vorzüglichsten Schriftstellern etwas auszusetzen, wie es Halbkenner vor gebildeten Kunstwerken zu thun pflegen, die irgend eine Verzeichnung, einen Fehler der Perspektive mit Recht oder Unrecht rügen, ob sie gleich von den Verdiensten des Werkes nicht das Geringste anzugeben wissen. Überhaupt ist hier der Fall, der öfters vorkömmt, dafs man über das Gute, was man durch Verneinung und Abwendung hervorzubringen sucht, dasjenige vergifst, was man bejahend fördern könnte und sollte." Ebensowenig wie die Fremdwörterjäger liebte Goethe die NationaHsten, die bei Kunstwerken fragten, ob dies und das daran auch wohl deutsch sei. Dieselben Leute essen und trinken doch auch wohlschmeckende Sachen, die aus anderen Ländern eingeführt werden. „Lafst uns doch vielseitig sein!" ruft Goethe aus. ,, Märkische Rübchen schmecken gut, am besten gemischt mit Kastanien. Und diese beiden edeln Früchte wachsen weit auseinander. Erlaubt uns in unseren vermischten Schriften doch neben den abend- und nordländischen Formen auch die morgen- und südländischen !" Eine andere Liebhaberei der Kleinlichen ist das Vergleichen, ein ganz unnützes Vergleichen. Sie messen jedes neue Werk an einem früheren desselben Verfassers, das sie ergriffen zu haben glauben, oder sie messen den einen Künstler an einem anderen, oder gar die eine Nation an einer anderen. So hat Goethe darunter gelitten, dafs man von ihm immer wieder ähnliche Werke verlangte, als er früher geschrieben hatte. Ebenso wie die Damen im Badeörtchen böse waren, weil der ernste, steife Goethe, der achtlos zwischen ihnen hindurch schritt, nicht dem Bilde entsprach, das sie sich nach seinen Gedichten von ihm gemacht hatten, so zürnten auch die Rezensenten, wenn er sie zwang, ihn in eine neue Rubrik einzutragen; erst recht zürnten natürlich die Botaniker, Zoologen, Geologen, Optiker u. s. w., als sucht, dasjenige vergifst, was man bejahend fördern könnte und sollte." Ebensowenig wie die Fremdwörterjäger liebte Goethe die Nationalisten, die bei Kunstwerken fragten, ob dies und das daran auch wohl deutsch sei. Dieselben Leute essen und trinken doch auch wohlschmeckende Sachen, die aus anderen Ländern eingeführt werden. „Lafst uns doch vielseitig sein!" ruft Goethe aus. ,, Märkische Rübchen schmecken gut, am besten gemischt mit Kastanien. Und diese beiden edeln Früchte wachsen weit auseinander. Erlaubt uns in unseren vermischten Schriften doch neben den abend- und nordländischen Formen auch die morgen- und südländischen !"

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Eine andere Liebhaberei der Kleinlichen ist das Vergleichen, ein ganz unnützes Vergleichen. Sie messen jedes neue Werk an einem früheren desselben Verfassers, das sie ergriffen zu haben glauben, oder sie messen den einen Künstler an einem anderen, oder gar die eine Nation an einer anderen. So hat Goethe darunter gelitten, dafs man von ihm immer wieder ähnliche Werke verlangte, als er früher geschrieben hatte. Ebenso wie die Damen im Badeörtchen böse waren, weil der ernste, steife Goethe, der achtlos zwischen ihnen hindurch schritt, nicht dem Bilde entsprach, das sie sich nach seinen Gedichten von ihm gemacht hatten, so zürnten auch die Rezensenten, wenn er sie zwang, ihn in eine neue Rubrik einzutragen; erst recht zürnten natürlich die Botaniker, Zoologen, Geologen, Optiker u. s. w., als  der berühmte Dichter plötzlich auch bei ihnen auftauchte. Es giebt nun aber unruhige Autoren die nicht in der Schublade liegen bleiben wollen, in die man sie bei ihrem ersten Auftreten gethan, sondern immer wieder neue, unbefangene Prüfung verlangen. Und Goethe sagt geradezu:

 „Die gröfste Achtung, die ein Autor für sein Publikum haben kann, ist, dafs — er niemals etwas bringt, was man erwartet, sondern was er selbst, auf der jedesmaligen Stufe eigner und fremder Bildung, für recht und nützlich hält."

Auch dafs man ihn immer wieder mit Schiller verglich, dafs man sich eifrig darüber stritt, wer von beiden der gröfsere Dichter sei, kam ihm unendlich thöricht vor. Schon in Rom hatte er die Sorte Litteratoren kennen gelernt, die ihren bescheidenen Geist an solchen überflüssigen Disputationen vergeudete. „Kaum hatte man von nationaler Dichtung zu sprechen angefangen und sich über ein und anderen Punkt zu belehren gesucht, so mufste man unmittelbar und ohne weiteres die Fragen vernehmen, ob man Ariost oder Tasso, welchen von beiden man für den gröfsten Dichter halte. Antwortet man, Gott und der Natur sei zu danken, dafs sie zwei solche vorzügliche Männer einer Nation gegönnt, deren jeder uns, nach Zeit und Umständen, nach Lagen und Empfindungen, die herrlichsten Augenblicke verliehen, uns beruhigt und entzückt — dies vernünftige Wort liefs niemand gelten. Nun wurde derjenige, für den man sich entschieden hatte, hoch und höher gehoben, der andere tief und tiefer dagegen herabgesetzt. Die ersten Male suchte ich die Verteidigung des Herabgesetzten zu übernehmen und seine Vorzüge geltend zu machen, dies aber verfing nicht, man hatte Partei ergriffen und blieb auf seinem Sinne , . . Leider war die Unterhaltung mit Künstlern und Kunstfreunden nicht erbaulicher ...

Bald war es Rafael, bald Michelangelo, dem man den Vorzug gab." Goethe wufste aus eigener Erfahrung,, dafs gerade von diesen beiden Künstlern, denen er zu gleicher Zeit nahe trat, der eine immer die unbefangene Aufnahme des andern zu verhindern schien, aber er kämpfte gegen diese Verwirrung sorgsam an. „Es ist so schwer, ein grofses Talent zu fassen, geschweige denn zwei zugleich. Wir erleichtern uns dieses durch Parteilichkeit, deshalb denn die Schätzung von Künstlern und Schriftstellern immer schwankt und einer oder der andere immer ausschliefslich den Tag beherrscht. Mich konnten dergleichen Streitigkeiten nicht irre machen, da ich sie auf sich beruhen liefs und mich mit unmittelbarer Betrachtung alles Werten und Würdigen beschäftigte." i). Bei diesem Grundsatze blieb er zum grofsen Vorteil seiner Genufsfähigkeit. Er lehnte es ab, wie andere Kenner der orientalischen Litteratur diese mit der griechischen oder römischen irgendwie zusammenzustellen. ,,Jedermann erleichtert sich durch Vergleichung das Urteil, aber man erschwert sich's auch; denn wenn ein Gleichnis, zu weit durchgeführt, hinkt, so wird ein vergleichendes Urteil immer unpassender, je genauer man es betrachtet . . . Man vergleiche sie (die Orientalen) mit sich selbst, man ehre sie in ihrem eigenen Kreise und vergesse doch dabei, dafs es Griechen und Römer gegeben . . . Haben wir Deutsche nicht unseren herrlichen Nibelungen durch solche Vergleiche (mit Homer) den gröfsten Schaden gethan? So höchst erfreulich sie sind, wenn man sich in ihren Kreis recht einbürgert und alles vertraulich und dankbar aufnimmt, so wunderlich erscheinen sie, wenn man sie nach einem Mafsstabe mifst, den man niemals bei ihnen an- schlagen sollte. Es gilt ja schon dasselbe von dem Werke eines einzigen Autors, der viel, mannigfaltig und lange geschrieben. Überlasse man doch der gemeinen, unbehülflichen Menge, vergleichend zu loben, zu wählen und zu verwerfen!"

Wohl war Goethe ein entschiedener, dankbarer Verehrer der klassischen Kunst, aber das durfte ihn nicht hindern, zeitweilig auch Werke des Mittelalters zu geniefsen.

,,Wie aber kann sich Hans von Eyck 
Mit Phidias nur messen? 
Ihr müfst, so lehr' ich, allsogleich 
Einen um den andern vergessen. 
Denn wärt ihr stets bei Einer geblieben, 
Wie könntet ihr noch immer lieben? 
Das ist die Kunst, das ist die Welt, 
Dafs eins ums andere gefällt."

Eine kleinliche Art, Kunstwerke zu betrachten, ist ;ferner die bei den Philologen beliebte Beschäftigung,

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Eine kleinliche Art, Kunstwerke zu betrachten, ist ;ferner die bei den Philologen beliebte Beschäftigung, die „Quellen" nachzuweisen. Als ob es bei einem prächtigen Gebäude sehr da,rauf ankomme, wer die Balken und Bausteine geliefert habe! „Die Frage: Woher hat's der Dichter? geht auch nur aufs Was, vom Wie erfährt dabei niemand etwas,"  und doch wäre gerade die Erklärung, wie ein grofses Gedicht im Geiste eines Dichters aus allerlei Material entsteht, viel wünschenswerter als der Nachweis, wo er diesen oder jenen Gedanken aufgelesen haben könnte. Die Frage nach den Quellen führt weiter zu einer argen Überschätzung des ,, Originalen". Und andrerseits möchten die belesenen Philologen glänzen, indem sie Gedanken, die auch jeder von uns leicht bildet, bei unsern Vorgängern schon nachweisen und uns nun anhängen, wir hätten sie unbewufst oder bewufst dem X. oder Y. entlehnt.

,,Das ist sehr lächerlich," sagte Goethe eines Tages,  „man könnte ebenso gut einen wohlgenährten Mann nach den Ochsen, Schafen und Schweinen fragen, die er gegessen und die ihm Kräfte gegeben. Wir bringen wohl Fähigkeiten mit, aber unsere Entwickelung verdanken wir tausend Einwirkungen einer grofsen Welt, aus der wir uns aneignen, was wir können und was uns gemäfs ist. Ich verdanke den Griechen und Franzosen viel, ich bin Shakespeare, Sterne und Goldsmith Unendliches schuldig geworden. Allein damit sind die Quellen meiner Kultur nicht nachgewiesen; es würde ins Grenzenlose gehen und wäre auch nicht nötig. Die Hauptsache ist, dafs man eine Seele habe, die das Wahre Hebt und die es aufnimmt, wo sie es findet."

Selbst Lord Byron, dessen starke Seite die Reflexion freilich nicht war, zerstückelte Goethes ,Faust' in dieser Philologen-Manier und wollte zeigen, wie Goethe das Eine hier, das Andere dort gefunden hatte.

,,Ich habe," sagte Goethe dazu, ,,alle jene von Lord Byron angeführten Herrlichkeiten gröfstenteils nicht einmal gelesen, viel weniger habe ich daran gedacht, als ich den ,Faust' machte. Aber Lord Byron ist nur grofs, wenn er dichtet; sobald er reflektiert, ist er ein Kind. So weifs er sich auch gegen dergleichen ihn selbst betreffende unverständige Angriffe seiner eigenen Nation nicht zu helfen; er hätte sich stärker dagegen ausdrücken sollen. Was da ist, das ist mein! hätte er sagen sollen, und ob ich es aus dem Leben oder aus dem Buche genommen, das ist gleichviel; es kam blofs darauf an, dafs ich es recht gebrauchte! Walter Scott benutzte eine Scene meines ,Egmont', und er hatte ein Recht dazu, und weil es mit Verstand geschah so ist er zu loben. So auch hat er den Charakter meiner Mignon in einem seiner Romane nachgebildet; ob aber mit ebenso viel Weisheit, ist eine andere Frage. Lord Byrons verwandelter Teufel' ist ein fortgesetzter Mephistopheles, und das ist recht. Hätte er aus origineller Grille ausweichen wollen, er hätte es schlechter machen müssen. So singt mein Mephistopheles ein Lied von Shakespeare, und warum sollte er das nicht? Warum sollte ich mir die Mühe geben, ein eigenes zu erfinden, wenn das von Shakespeare eben recht war und eben das sagte, was es sollte ? Hat daher auch die Exposition meines ,Faust' mit der des ,Hiob' einige Ähnlichkeit, so ist das wiederum ganz recht, und ich bin deswegen eher zu loben als zu tadeln."

Diese philologische Art, Gedichte anzusehen, hat Goethe auch sonst unangenehm empfunden. ,,Da wollen sie wissen, welche Stadt am Rhein bei meinem ,Hermann und Dorothea' gemeint sei. Als ob es nicht besser wäre, sich jede behebige zu denken! Man will Wahrheit, man will Wirklichkeit und verdirbt dadurch die Poesie."

,,Die Deutschen," klagte er ein andermal, ,, können die Philisterei nicht loswerden. Da quengeln und streiten sie jetzt über verschiedene Distichen, die sich bei Schiller gedruckt finden und auch bei mir, und sie meinen, es wäre von Wichtigkeit, entschieden herauszubringen, welche denn wirklich Schillern gehören und welche mir. Als ob etwas darauf ankäme, als ob etwas damit gewonnen würde, und als ob es nicht genug wäre, dafs die Sachen da sind!

,, Freunde wie Schiller und ich, jahrelang verbunden, mit gleichen Interessen, in täglicher Berührung und gegenseitigem Austausch, lebten sich ineinander so sehr hinein, dafs überhaupt bei einzelnen Gedanken gar nicht die Rede und Frage sein konnte, ob sie dem einen gehörten oder dem andern. Wir haben viele Distichen gemeinschaftlich gemacht, oft hatte ich den Gedanken und Schiller machte die Verse, oft war das Umgekehrte der Fall, und oft machte Schiller den einen Vers und ich den andern. Wie kann nun da von Mein und Dein die Rede sein! Man müfste wirklich selbst  noch tief in der Philisterei stecken, wenn man auf die Entscheidung solcher Zweifel nur die mindeste Wichtigkeit legen wollte."

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Die Hochwildjagd der Philologen ist aber erst der Angriff auf die Echtheit ganzer Gedichte oder einzelner Teile. Nicht die Wahrheit der Evangelien, nicht die Gröfse und Schönheit der Nibelungen oder der homerischen Gedichte suchen sie in sich aufzunehmen und Andern mitzuteilen, sondern ob diese uns überlieferten erhabenen Werke etwas mehr oder etwas weniger alt sind, ob sie von dem Einen oder Andern herrühren: damit quälen sie sich und ihre armen Schüler ab. Goethe schüttelte den Kopf zu alledem. ,, Unter mancherlei wunderlichen Albernheiten der Schulen kommt mir keine so vollkommen lächerlich vor als der Streit über die Echtheit alter Schriften alter Werke. Ist es denn der Autor oder die Schrift die wir bewundern oder tadeln? Es ist immer nur der Autor, den wir vor uns haben; was kümmern uns die Namen, wenn wir ein Geisteswerk auslegen? Wer will behaupten, dafs wir Virgil oder Homer vor uns haben, indem wir die Worte lesen, die ihnen zugeschrieben werden? Aber die Schreiber haben wir vor uns, und was haben wir weiter nötig?"

In seinen letzten Tagen kam Goethe unwillkürlich in eine grofse religiöse Rede hinein, und dabei
gedachte er auch der neuen Bibelkritik, in der die Bücher des Alten und Neuen Testaments eben so kritisch zerrissen wurden, wie früher der Homer von Wolff zersplittert war. Nicht ans Gläubigkeit, sondern vom gesunden Menschenverstande aus lehnte Goethe dieses Bemäkeln und Bezweifeln ab, ,,Echt oder unecht sind bei Dingen der Bibel gar wunderliche Fragen," sagte er. ,,Was ist echt als das ganz Vortreffliche,, das mit der reinsten Natur und Vernunft in Harmonie steht und noch heute unserer höchsten Entwickelungdient! Und was ist unecht als das Absurde, Hohle und Dumme, was keine Frucht bringt, wenigstens keine gute! Sollte die Echtheit einer biblischen Schrift durch die Frage entschieden werden, ob uns durchaus Wahres, überliefert worden, so könnte man sogar in einigen Punkten die Echtheit der Evangelien bezweifeln, wovon Markus und Eukas nicht aus unmittelbarer Ansicht und Erfahrung, sondern erst spät nach mündlicher Überlieferung geschrieben, und das letzte, von dem Jünger Johannes, erst im höchsten Alter. Dennoch halte ich die Evangelien alle vier für durchaus echt, denn es ist in ihnen der Abglanz einer Hoheit wirksam, die von der Person Christi ausging und die so göttlicher Art,, wie nur je auf Erden das Göttliche erschienen ist."

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Gegen alle solche Kritik mufs derjenige, der klug genug ist, um geniefsen und lernen zu wollen, sich die Ohren zuhalten; erst recht aber mufs der Künstler sie hartnäckig ignorieren. ,. Gegen die Kritik kann man sich weder schützen, noch wehren, man mufs ihr zum Trutz handeln, und das läfst sie sich nach und nach gefallen." Der Künstler mufs seine Freude zuerst im eigenen Schaffen suchen, sodann im Beifall der wenigen Wohlwollenden und Verständigen und endlich im Glauben an die unbefangenere Nachwelt. Der Ästhetiker Moritz führte im Gespräch mit Goethe und anderen römischen Freunden aus, dafs der höchste Genufs des Schönen doch immer nur dem schaffenden Genie, das es hervorbringt, gegönnt sei, dafs es deshalb seinen höchsten Zweck in der Entstehung schon erreiche.' In diesem -Sinne schreibt Goethe an Schiller: „Ich wünsche nur, dafs ich Sie wohl und poetisch thätig antreffen möge, denn es ist das nun einmal der beste Zustand, den Gott den Menschen hat gönnen wollen." Und an Herder heifst es schon früher: ,, Fahre du fort, Heber Bruder, zu sinnen, zu finden, zu vereinigen, zu dichten, zu schreiben, ohne dich um Andere zu bekümmern! Man mufs schreiben, wie man lebt, erst um sein selbst willen, und dann existiert man auch für verwandte Wesen."

Einige Geistesverwandte findet der hervorragende Dichter auch wohl zu jener Zeit schon, wo er sein Werk herausgiebt, und mit den Jahren nimmt ihre Zahl zu. Goethe hatte sich daran gewöhnt; er rechnete anfangs immer nur auf Freunde wie Schiller, Meyer, die -Brüder Humboldt, Körner, Zelter und einige mehr. An die ehemals so heifs geliebte, ihm später nicht mehr ganz nahe stehende Frau v. Stein schreibt er 1807 einmal:" ,,An Einigem, was ich vorbereite, werden auch Sie, verehrte Freundin, teilnehmen können.

Anderes wird auf Hoffnung hingeschrieben und gedruckt. Die Gegenwart stimmt selten zum Gegenwärtigen. Was neben einander existiert, scheint nur zum Streite berufen zu sein. Für einen Autor ist es darum eine tröstliche Aussicht, dafs alle Tage neue künftige Leser geboren werden."

Und gegen einen Anderen fährt er im Thema fort: „Die Deutschen haben die eigne Art, dafs sie nichts annehmen können, wie man's ihnen giebt; reicht man ihnen den Stiel des Messers zu, so finden sie ihn nicht scharf; bietet man ihnen die Spitze, so schreien sie über Verletzung, Sie haben so unendlich viel gelesen und für neue Formen fehlt ihnen die Empfänglichkeit, Erst wenn sie sich mit einer Sache befreunden, dann sind sie einsichtig, gut und wahrhaft liebenswürdig."

„Niemand soll herein rennen 
Auch mit den besten Gaben ; 
Sollen's die Deutschen erkennen, 
So wollen sie Zeit haben. 

 ,,Wie es die Welt jetzt treibt," klagt der altersmüde Dichter gegen Zelter, ,,mufs man sich immerfort sagen und wiederholen, dafs es tüchtige Menschen gegeben hat und geben wird, und solchen mufs man ein schriftliches gutes Wort gönnen und auf dem Papier hinterlassen." Es ist einmal das Los des Künstlers, der seiner Zeit voraus war, dafs sein Werk erst dann nach Gebühr aufgenommen wird, wenn sein Leib längst von der Erde verschwunden.

,,So wirkt mit Macht der edle Mann 
Jahrhunderte auf seinesgleichen: 
Denn was ein guter Mensch erreichen kann, 
Ist nicht im engen Raum des Lebens zu erreichen. 
Drum lebt er auch nach seinem Tode fort 
Und ist so wirksam, als er lebte; 
Die gute That, das schöne Wort, 
Es strebt unsterblich, wie er sterblich strebte."


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