Die Kritiker sind gerade diejenigen, für die das Kunstwerk nicht bestimmt ist, und deshalb sind gerade ihre Urteile von geringem Wert. Denn unter Kritisieren verstehen wir doch gerade eine Thätigkeit des Geistes, die mit dem Produzieren und Reproduzieren von Schönheiten nichts gemein hat; eine Thätigkeit, die dem Schaffen, wie dem Geniefsen gleich feindlich ist; es ist kein Erbauen, sondern ein Einreifsen und Zerreifsen. Die Ausdehnung und Verallgemeinerung des Kritisierens ist eine krankhafte Begleiterscheinung ungesunder Überkulturen. ,,Die Kritik ist eine blofse Angewohnheit der Modernen," sagte Goethe im Alter zum Kanzler V. Müller. „Was will das heifsen? Man lese ein Buch und lasse es auf sich einwirken, gebe sich dieser Einwirkung hin, so wird man zum richtigen Urteil darüber kommen." Schon als Jüngling hatte er ein gesundes Mifstrauen gegen alles Rezensentenwesen. Er zog immer vor, von einem Autor zu erfahren, wie er dachte, als von einem Andern, wie der Autor hätte denken sollen.
Die Kritik erschien ihm neben der Satire als eine „von den beiden Erbfeinden alles behaglichen Lebens und aller heiteren, selbstgenügsamen, lebendigen Dichtkunst", und er wufste nicht, warum er sich für den damals berühmten Liskow hätte begeistern sollen, denn was war damit gewonnen, dafs jener das Alberne albern gefunden hatte ? Sehr bald bemerkte er auch, dafs selbst das klügste Vorwort eines Autors die Kritiklustigen nicht verhindern kann, an ihn die Forderungen zu stellen, die er von vornherein erklärt, nicht erfüllen zu wollen. ,,Mit einer verwandten Eigenschaft der Leser, die uns besonders bei denen, welche ihr Urteil drucken lassen, ganz komisch auffällt, ward ich gleichfalls früh bekannt. Sie leben nämlich in dem Wahn, man werde, indem man etwas leistet, ihr Schuldner und bleibe jederzeit noch weit zurück hinter dem, was sie eigentlich wollten und wünschten, ob sie gleich kurz vorher, ehe sie unsere Arbeit gesehn, noch gar keinen Begriff hatten, dafs so etwas vorhanden oder nur möglich sein könnte. "
Zeitlebens hat Goethe sich gegen die Kritik feindlich gestellt, womit er natürlich nicht alles Anzeigen und Besprechen von Kunstwerken verurteilen wollte. Der Satz „Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent!" ist ebenso aus seinem Inneren geflossen wie irgend ein Liebeslied. „Die wahre Liberalität ist Anerkennung" ist ein echt goethischer Satz. Schon als Jüngling höhnte er über die entsetzliche Verbohrtheit, die sich durch das Kritisieren der Schönheit kund giebt. Er erzählt z. B.,
wie er einen Freund zu einem wunderhübschen Mädel führt, um ihm einen rechten Genufs zu gönnen.'
Bald safs das Mädchen nett und freundlich ihnen gegenüber, aber der Begleiter des Dichters bleibt hölzern und kalt.
„Er spitzt die Nase, er stiert sie an,
Betracht't sie herüber, hinüber,
Und um mich war's gar bald gethan,
Die Sinne gingen mir über.
Der liebe Herr für allen Dank
Führt mich drauf in eine Ecken,
Und sagt', sie wäre doch allzu schlank
Und hätt' auch Sommerflecken.
Da nahm ich von meinem Kind Adieu
Und scheidend sah ich in die Höh:
Ach Herre Gott, ach Herre Gott,
Erbarm dich doch des Herren!"
In der Gemäldegalerie geht es ebenso. Unser Dichter fühlt sich gepackt und im Innersten ergriffen.
„,0 Maler! Maler!' rief ich laut,
,Belohn' dir Gott dein Malen!
Und nur die allerschönste Braut
Kann dich für uns bezahlen.'
Und sieh, da ging mein Herr herum
Und stochert' sich die Zähne,
Registriert' in Katalogum
Mir meine Göttersöhne.
Mein Busen war so voll und bang.
Von hundert Welten trächtig ;
Ihm war bald was zu kurz, zu lang,
Wägt' alles gar bedächtig.
Da warf ich in ein Eckchen mich,
Die Eingeweide brannten.
Um ihn versammelten Männer sich,
Die ihn einen Kenner nannten."
Das ist freilich das Traurigste, dafs der Nörgler und Tadler dem Publikum so oft als Kenner erscheint. „Man sagt: Eitles Eigenlob stinket; das mag sein. Was aber fremder und ungerechter Tadel für einen Geruch habe, dafür hat das Publikum keine Nase." „Bücher werden jetzt nicht geschrieben, um gelesen zu werden", klagt Goethe ein andermal „um sich daraus zu unterrichten und zu belehren, sondern um rezensiert zu werden, damit man wieder darüber reden und meinen kann, so ins Unendliche fort. Seitdem man die Bücher rezensiert, liest sie kein Mensch aufser dem Rezensenten, und der auch nur so." Oft hat Goethe erklärt, dafs der Dichter und jeder andere Künstler am besten thäte, sich um die Kritiker gar nicht zu kümmern. ,, Sonst war ich ein Freund von Narren," erzählt er einmal, er habe sie in sein Haus hinein gelassen:
,, Brachte jeder seinen Sparren,
Wollten Zimmermeister sein;
Wollten mir das Dach abtragen,
Ein andres setzen hinauf;
Sie legten das Holz zu Schrägen
Und nahmen's wieder auf;
Und rannten hin und wieder, —
Und stiefsen einander an ;
Das fuhr mir in die Glieder,
Dafs ich den Frost gewann."
Als nun der Dichter ein energisches : „Hinaus, ihr Narren!" ruft, fallen sie draufsen natürlich erst recht über ihn her sie ,,quarken ihn an"; er aber tröstet sich, dafs es immerhin besser sei, wenn die Unholde ihr Wesen draufsen treiben als in seinem Hause. Das englische Sprichwort ,,Mein Haus, meine Festung" war so recht nach Goethes Sinn; er verstand es meisterhaft, gegen die verschiedensten Plagegeister die Thore verschlossen und die Fallbrücken aufgezogen zu halten. ,,Es ist lustig zu sehen," schreibt er 1796 an Schiller, „wie wenig sie auch nur ahnen, in welcher unzugänglichen Burg der Mensch wohnt, dem es nur immer Ernst um sich und die Sachen ist." Und ein andermal äufsert er zum Kunstfreunde Meyer, als von den sehr verschiedenartigen Urteilen über den ,Wilhelm Meister' die Rede ist: „Man glaubt manchmal, man höre den Sand am Meere reden", oder er ruft gegen Schiller aus : „Möchte bei solchen Äufserungen nicht die Hippokrene zu Eis erstarren und der Pegasus sich mausen !" Aber er weifs auch, dafs all dies Nörgeln und Herunterreifsen nichts als ein böser Traum des Dichters ist; das Echte kann von den Kritikern immer nur scheinbar abgethan werden. ,,Das ganze Schriftsteller- und Rezensentenwesen ist doch immer nur dem fabelhaften Geisterstreite gleich, wo die gebeinlosen Heroen sich zur Lust in der Mitte von einander hauen und alle sogleich wieder hergestellt sich mit Vater Odin wieder zu Tische setzen."
In Frankreich mag eine boshafte und witzige Kritik auch dem Vorzüglichen recht gefährlich sein, ,,in Deutschland haben sich vor der persönlichen Satire nur die Anmafslichkeit und das Scheinverdienst zu fürchten. Alles Echte, es mag angefochten werden, wie es will,, bleibt der Nation im Durchschnitt wert, und man wird den gesetzten Mann, wenn sich die Staubwolken verzogen haben, nach wie vor auf seinem Wege gewahr"
Goethe hatte schon als junger Mann eine Schule der Abhärtung durchgemacht, da sein ,Werther' alle Welt zu einem Urteil aufregte und auch jedes neue Werk derartig empfangen wurde, dafs es im Dichter neue Gleichgültigkeit gegen seine selbsternannten Richter nach sich zog. Zu Eckermann sagte er 1825: ,, Schon an meinem ,Werther' tadelten sie so viel, dafs, wenn ich jede gescholtene Stelle hätte tilgen wollen, von dem ganzen Buche keine Zeile geblieben wäre. Allein aller Tadel schadete mir nichts, denn solche subjektiven Urteile einzelner, obgleich bedeutender Männer stellten sich durch die Masse wieder ins Gleiche."
In poetischer Übertreibung lesen wir das Gleiche in den , Zahmen Xenien':
,,Hätt' ich gezaudert zu werden,
Bis man mir's Leben gegönnt,
Ich wäre noch nicht auf Erden,
Wie ihr begreifen könnt,
Wenn ihr seht, wie sie sich gebärden,
Die, um etwas zu scheinen,
Mich gerne möchten verneinen."
Derber noch bekommt es einer seiner kritischen Freunde, Pustkuchen, zu hören:
„Hat doch der Walfisch seine Laus,
Mufs ich auch meine haben."
Die Moral ist immer wieder:
„Nicht Augenblicke steh ich still,
Bei so verstockten Sündern,
Und wer mit mir nicht schreiten will,
Soll meinen Schritt nicht hindern."
Ja, man kann sogar seine Freude am Kläffen des Kritikers haben.
,,So will der Spitz aus unserm Stall
Uns immerfort begleiten,
Und seines Bellens lauter Schall
Beweist nur, dafs wir reiten."
Einen Nutzen für seine fernere Produktion konnte Goethe aus der Rezension früherer Schriften schon deshalb nicht haben, weil jedes vollendete Werk bei ihm gewissermafsen ein abgelegtes Kleidungsstück oder einen verlassenen Standpunkt bedeutete. Er kam gar nicht in Gefahr, die gleichen Sachen mit gleichen Fehlern der Welt wieder anzubieten. Darum kamen ihm die Kritiker immer wie Leute vor, die noch in Erfurt hinter ihm herriefen, wenn er schon längst in Weimar war. Als Friedrich Schlegel seine Werke in den Heidelberger Jahrbüchern besprochen hatte, sah Goethe für seine Entwickelung keinen Nutzen aus der Betrachtung des Vergangenen. ,,Es seien ja dies alles nur Fetzen und Lappen von seiner früheren Existenz," sagte er zu Riemer ,,da einmal ein alter Hut, und dort ein paar Schuhe, und dort ein Lappen von einem Rock, den er einmal getragen." Oder es kam ihm wieder der Vergleich mit Tieren, die sich häuten oder mausern.
,,Sie zerren an der Schlangenhaut, Die jüngst ich abgelegt. Und ist die nächste reif genung, Abstreif ich die sogleich Und wandle neubelebt und jung Im frischen Götterreich." „Es giebt überhaupt nichts Dümmeres," sagte Goethe in seinen letzten Jahren, ,,als einem Dichter zu sagen: Dies hättest du müssen so machen, und dieses so! Ich spreche als alter Kenner. Man wird aus einem Dichter nie etwas Anderes machen, als was die Natur in ihn gelegt hat. Wollt ihr ihn zwingen, ein Anderer zu sein, so werdet ihr ihn vernichten."
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Aber hat nicht Goethe selbst in jungen und alten Tagen Rezensionen geschrieben? War er nicht einige Male bei kritischen Zeitschriften als Mitherausgeber beteiligt? Nun, einen grofsen Raum nehmen die Stellen, wo er kritisiert, in seinen gesammelten Werken nicht in Anspruch, seine Rezensionen waren zumeist Anzeigen, Hinweise auf Vortreffliches, noch nicht genugsam Bekanntes, und wie er jedem Anfänger einen Meister gönnte, so hatte er in alten Tagen zweifellos das Recht, den nach ihm Kommenden aus seiner Erfahrung heraus nützliche Winke zu geben. Im Februar 1823 war er so schwer krank, dafs man sein Ende erwartete; da klagte er, mitten in Fieber-Phantasieen, besonders darüber, dafs seine Arbeiten liegen blieben. ,,Und doch ist die Anzeige der neuesten Boissereeschen Lieferungen so dringend, die mufs ich ja rühmen und beloben." Dieser Satz aus seinen Leiden heraus ist kennzeichnend für Goethe. Als einen rechten Kritiker pries er einmal Ludwig Tieck: ,,Bei ihm ruht das Urteil auf dem Genufs, der Genufs auf der Kenntnis, und was sich sonst aufzuheben pflegt, vereinigt sich hier zu einem erfreulichen Ganzen." Und seine Grundsätze für rechte Kritik teilt er dem Redaktor der Jenaischen Litteratur- Zeitung, die er beherrschte, mit folgenden Worten mit: „Man gebe einem Jeden sein entschiedenes, individuelles Talent mit Wohlwollen zu, man charakterisiere mit Einsicht und Schärfe und zeige hinterdrein den Gebrauch und Mifsbrauch desselben." Als Schiller des Freundes Besprechung von Hebels alemannischen und Grübels nürnbergischen Gedichten gelesen hatte, rühmt er ,,die es schöpferische Konstruieren der Werke und der Köpfe und dieses treffende Hinweisen auf die Wirkungspunkte",, das sonst bei Kritiken immer vermifst werde.
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Deutlicher sehen wir noch, wie wir Kunstwerke beurteilen sollen — was wir ja doch nicht ganz lassen können — wenn wir die Fehler betrachten, in die die Kritiker leicht verfallen.
Das übereilige, hochmütige Aburteilen ist die erste Gefahr. Als die , Wahlverwandtschaften' eben erschienen waren, wunderte sich ein Philister, wie Goethe zwei Bände über diese chemische Sache schreiben mochte, da er ja nichts als das Bekannte, was in einem Kapitel der Chemie erledigt werde, abhandle. Solche Schnellfertigkeit im Kritisieren ist so ganz selten nicht; gewöhnlich erscheint sie allerdings in müderen Formen. In Gemälde-Galerieen macht sie sich täglich breit: ,,Man spricht sein augenblickliches unvorbereitetes Urteil aus, ohne nur irgend zu bedenken, dafs jeder Künstler auf gar vielfache Weise bedingt ist durch sein besonderes Talent, durch Vorgänger und Meister, durch Ort und Zeit, durch Gönner und Besteller. Nichts von alledem, welches freilich zu einer reinen Würdigung nötig wäre, kommt in Betrachtung, und so entsteht daraus ein gräfsliches Gemisch von Lob und Tadel, von Bejahen und Verneinen, wodurch jeder eigentümliche Wert der fraglichen Gegenstände ganz eigentlich aufgehoben wird."
Goethe hielt es anders, wie wir schon angedeutet haben. Als er nach Italien reiste, hatte er sich doch auch schon manche Stunde mit bildender Kunst beschäftigt; dennoch schreibt er in München am 6. September 1786: ,,Im Antikensaale konnte ich recht bemerken, dafs meine Augen auf diese Gegenstände nicht geübt sind . . . Vieles sprach mich gar nicht an, ohne dafs ich sagen konnte, warum." Und in Verona bemerkt er am 17, September ähnlich: ,,Ich mache diese
wunderbare Reise nicht, um mich selbst zu betrügen, sondern um mich an den Gegenständen kennen zu lernen: da sage ich mir denn ganz aufrichtig, dafs ich von der Kunst, von dem Handwerk des Malers wenig verstehe." So sollte jeder Kritiker sich immer wieder fragen, ob nicht die Schuld an ihm selber liegt, wenn ein Kunstwerk nicht zu ihm spricht, ,,Wer einem Autor Dunkelheit vorwerfen will, sollte erst sein eigenes Innere beschauen, ob es denn auch da recht hell ist. In der Dämmerung wird eine sehr deutliche Schrift unlesbar." Aber :
,,Sie sagen: ,Das mutet mich nicht an!'
Und meinen, sie hätten's abgethan."
Schlimmer noch, wenn der Kritiker, weil er an das Werk des Autors nicht heranreicht, es irgendwie in seiner Phantasie und seinem Berichte karikiert, um es in seiner entstellten Form leicht abzuthun. Auch Goethe hatte zu klagen:
„Sie haben mir meine Gedanken verdorben
Und sagen: sie hätten mich widerlegt."
Die Kritiker vergessen gar gern, dafs sie vielleicht vor dem Künstler sich wie vor einem Fürsten zu verneigen alle Ursache hätten. Sie treiben ihr Geschäft ja nicht blofs an den Unbedeutenden, sondern oft gar an Heroen wie etwa Sophokles. Und doch: „Wenn ein moderner Mensch an einem so grofsen Alten Fehler zu rügen hätte, sollte es billig nicht anders geschehen, als auf den Knieen."
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Der Mangel an Bescheidenheit, der zum Geschäft des Kritikers zu gehören scheint, zeigt sich oft auch als Einseitigkeit, als Anwendung einer bestimmten Schablone; je nachdem etwas da hinein pafst oder nicht pafst, passiert es oder wird es verworfen. Von einem seiner hervorragendsten Zeitgenossen sagte Goethe 1827:
,,Es ist nicht zu leugnen, Schlegel weifs unendlich viel, und man erschrickt fast über seine aufserordentlichen Kenntnisse und seine grofse Belesenheit. Allein damit ist es nicht gethan. Alle Gelehrsamkeit ist noch kein Urteil. Seine Kritik ist durchaus einseitig, indem er fast bei allen Theaterstücken blofs das Skelett der Fabel und Anordnung vor Augen hat und immer nur kleine Ähnlichkeiten mit grofsen Vorgängern nachweist, ohne sich im mindesten darum zu bekümmern, was der Autor uns von anmutigem Leben und Bildung einer hohen Seele entgegenbringt. Was helfen aber alle Künste des Talents, wenn aus einem Theaterstücke uns nicht eine liebenswürdige oder grofse Persönlichkeit des Autors entgegenkommt, dieses Einzige, was in die Kultur des Volkes übergeht! In der Art und Weise, wie Schlegel das französische Theater behandelt, finde ich das Rezept zu einem schlechten Rezensenten, dem jedes Organ für die Verehrung des Vortrefflichen mangelt, und der über eine tüchtige Natur und einen grofsen Charakter hingeht, als wäre es Spreu und Stoppel."
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