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2019-11-27

Wilhelm Bode- Goethes Ästhetik- Der Stoff. (Seite 1 )





Der Stoff

Lafst uns auch so ein Schauspiel geben!" ruft die lustige Person im Vorspiel zum ,Faust' aus, und gemeint ist ein Schauspiel, wie es sich im Leben beständig abspielt, also „in bunten Bildern wenig Klarheit, viel Irrtum und ein Fünkchen Wahrheit." Das will die Menge ja auch haben, also

,, Greift nur hinein ins volle Menschenleben! 
Ein jeder lebt's, nicht vielen ist's bekannt, 
Und wo ihr's packt, da ist's interessant." 

Der Rat ist gut und schlecht zugleich. Wo der Künstler es packt, da wird schliefslich jedes Ding interessant, aber soll deshalb der Künstler irgend etwas herausgreifen, wie man Lose aus einem Topfe nimmt? Bekannt ist, dafs Goethe Friedrich den Grofsen und seine Kriege darum schätzte, weil sie in die deutsche Poesie erst recht würdige Stoffe und einen höheren Inhalt brachten. „Denn der innere Gehalt des bearbeiteten Gegenstandes ist der Anfang und das Ende der Kunst. Man wird zwar nicht leugnen, dafs das Genie, das ausgebildete Kunsttalent, durch Behandlung aus allem alles machen und den widerspenstigsten Stoff bezwingen könne. Genau besehen, entsteht aber alsdann immer mehr ein Kunststück als ein Kunstwerk."!

Goethe war ein warmer Verehrer Byrons, weil ihm dieser den geborenen Dichter zu verkörpern schien. Als er mit Eckermann einmal über Byrons ,Don Juan' sprach, meinte dieser, er habe in dem verwegenen Gedicht besonders die Darstellung der Stadt London bewundert, die man aus den leichten Versen heraus mit Augen zu sehen meine.

,,Und dabei macht er sich keineswegs viele Skrupel, ob ein Gegenstand poetisch sei oder nicht, sondern er ergreift und gebraucht alles, wie es ihm vorkommt, bis auf die gekräuselten Perrücken vor den Fenstern der Haarschneider und bis auf die Männer, welche die Strafsenlaternen mit Öl versehen." „Unsere deutschen Ästhetiker," sagt Goethe, „reden zwar viel von poetischen und unpoetischen Gegenständen und sie mögen auch in gewisser Hinsicht nicht ganz unrecht haben; allein im Grunde bleibt kein realer Gegenstand unpoetisch, sobald der Dichter ihn gehörig zu gebrauchen weifs."

Als Goethe die persischen Dichter studierte, erschrak er anfangs, wenn er sah, wie sie die edelsten und niedrigsten Bilder bunt durcheinander mischen, neben Blumen und Früchten Abwürflinge, Schalen und Strünke. Nisami wagt es sogar, uns das Aas eines faulenden Hundes zu zeigen, und er trägt kein Bedenken, die heiligste Gestalt daneben zu stellen:

„Herr Jesus, der die Welt durchwandert, 
Ging einst an einem Markt vorbei ; 
Ein toter Hund lag auf dem Wege, 
Geschleppt vor eines Hauses Thor; 
Ein Haufe stand ums Aas umher, 
Wie Geier sich um Äser sammeln. 
Der eine sprach: ,Mir wird das Hirn 
Von dem Gestank ganz ausgelöscht.' 
Der andre sprach: ,Was braucht es viel! 
Der Gräber Auswurf bringt nur Unglück.' 
So sang ein jeder seine Weise, 
Des toten Hundes Leib zu schmähen. 
Als nun an Jesus kam die Reih', 
Sprach ohne Schmäh'n er guten Sinns. 
Er sprach aus gütiger Natur:
,Die Zähne sind wie Perlen weifs'." — —

Ja, wer solches Ziel erreicht, darf uns eine Strecke durch Morast führen. Und sehen wir hier nicht, wie der Dichter und Jesus sich in gleicher Weise der Wirklichkeit gegenüberstellen, wie Ästhetik und Ethik in ihren Gesetzen verwandt sind?

Von Schiller schreibt Goethe einmal das schöne Wort, ihm sei eine Christus-Tendenz eingeboren
gewesen, berührte nichts Gemeines, ohne es zu veredeln. Seine innere Beschäftigung ging dahin." Ja, das Dichten ist ein Veredelungsprozefs, kein Herbeischaffen von Rohstoffen.

Brauchbar also wird in den Händen eines grofsen Meisters schliefslich jeder Stoff, aber anzuraten sind doch nur wenige. Jeder Künstler mufs diese wenigen suchen und auswählen.

Auch Schiller sann über die grundlegende Frage, wie sich der Künstler zur Wirklichkeit zu verhalten habe, tiefsinnig nach. Er dachte sich die Sache so:  ,, Zweierlei gehört zum Poeten und Künstler: dafs er sich über das Wirkliche erhebt und dafs er innerhalb des Sinnlichen stehen bleibt. Wo beides verbunden ist, da ist ästhetische Kunst. Aber in einer ungünstigen, formlosen Natur verläfst er mit dem Wirklichen nur zu leicht auch das Sinnliche und wird idealistisch und, wenn sein Verstand schwach ist, gar phantastisch. Oder will und mufs er, durch seine Natur genötigt, in der Sinnlichkeit bleiben, so bleibt er gern auch bei dem Wirklichen stehen und wird, in beschränkter Bedeutung des Wortes, realistisch, und wenn es ihm ganz an Phantasie fehlt, knechtisch und gemein." Immer wieder kommt Schiller in seinen Briefen an den Freund auf die rechte Auswahl der Stoffe zurück, denn ,, diese Materie kommuniziert mit dem Innersten der Kunst".  Auch als ihn der , Wallenstein' beschäftigte, stand er wieder vor der alten Frage „Es geschähe den Poeten und Künstlern schon dadurch ein grofser Dienst, wenn man nur erst ins Klare gebracht hätte, was die Kunst von der Wirklichkeit wegnehmen oder fallen lassen mufs. Das Terrain würde Dichter und reiner, das Kleine und Unbedeutende verschwände und für das Grofse würde Platz. Schon in der Behandlung der Geschichte ist dieser Punkt von der gröfsten Wichtigkeit."

 Goethe ging in seinen Briefen ungern auf dieses weite Feld. Mündlich hat er die Frage mit dem Freunde oft besprochen, und ein Niederschlag aus solchen Gesprächen war es, was wir früher lasen, dafs die Kunst die höchsten Momente der natürlichen Erscheinungen fixiere, indem sie das Gesetzliche darin anerkenne, in- dem sie ferner die Vollkommenheit der zweckmäfsigen Proportion, den Gipfel der Schönheit, die Würde der Bedeutung, die Höhe der Leidenschaft fixiere.

Über die ,,Würde der Bedeutung'^ mufs noch ein Mehreres gesagt werden. Goethe brauchte das Wort „bedeutend'* noch im eigentlichen Sinne; bedeutende Gegenstände sind also solche, die etwas bedeuten, die auf noch gröfsere Dinge hindeuten, als sie auf den ersten Blick zeigen. Den Künstlern aber ist es eigen, dafs sie noch mehr als wir andern von solchen ,, bedeutenden" Gegenständen, von solchen Sinnbildern angesprochen werden. Als Goethe 1797 seine Vaterstadt wieder sah und alles darin objektiv-kühl zu sehen sich bemühte, fiel ihm auf, dafs gewisse Gegenstände einen besonderen, gleichsam sentimentalen Eindruck auf ihn machten, obwohl sie doch für die Welt und auch für ihn ganz gleichgültig zu sein schienen. Als er sich diese Gegenstände näher betrachtete, bemerkte er, dafs sie symbolischen Charakter hatten. „Es sind eminente Fälle, die als Repräsentanten von vielen andern da- stehen, eine gewisse Totalität in sich schliefsen, eine gewisse Reihe fordern. Ähnliches und Fremdes in meinem Geiste aufregen und so von aufsen wie von innen an eine gewisse Einheit und Allheit Anspruch machen". So schrieb er an Schiller dieser aber meinte, es liege wohl weniger an den Gegenständen, dafs sie auf Goethe

So merkwürdig einwirkten, als an Goethe, ihrem Betrachter. ,, Zuletzt kommt es auf das Gemüt an, ob ihm ein Gegenstand etwas bedeuten soll, und so deucht mir das Leere und Gehaltreiche mehr im Subjekt als im Objekt zu Hegen ... Es ist ein Bedürfnis poetischer Naturen, wenn man nicht überhaupt : menschlicher Gemüter sagen will, so wenig Leeres als möglich um sich zu leiden, so viel Welt, als nur immer angeht, sich durch die Empfindung anzueignen, die Tiefe aller Erscheinungen zu suchen und überall ein Ganzes der Menschheit zu fordern. Ist der Gegenstand als Individuum leer und mithin in poetischer Hinsicht gehaltlos, so wird sich das Ideenvermögen daran versuchen und ihn von seiner symbolischen Seite fassen und so eine Sprache für die Menschheit daraus machen."

So Schiller, der mehr gewöhnt war, in sich hinein zu sehen, als die objektivere Freund. Goethe gab wohl zu, dafs der Hang zum Symbolisieren in uns liegt, und im Gedanken an die bekannte geistliche Auslegung des ,Hohen Liedes' schrieb er: „Der geistreiche Mensch, nicht zufrieden mit dem, was man ihm darstellt, betrachtet alles, was sich den Sinnen darbietet, als eine Vermummung, wohinter ein höheres geistiges Leben sich schalkhaft-eigensinnig versteckt, um uns anzuziehen und in edlere Regionen aufzulocken." Aber er blieb dabei, die Objekte in bedeutende und leere einzuteilen. Die Kuh, die ihr Kälbchen säugt, bedeutet die Liebe zu den Nachkommen, also eine Eigenschaft, von der die Fortdauer der ganzen belebten Welt abhängt. Sie bedeutet ferner eine Güte gegen das Schwache, die wir aus der Ichsucht nicht völlig erklären können, und so mit glauben wir hier eine Offenbarung des Göttlichen wahrzunehmen. Das Auge sieht eine Kuh und ein Kälbchen, die Seele gewahrt die göttliche Liebe.  Noch schöner wird eine junge Frau, die ihr Kind im Arme hält, zu unsern Sinnen und unserer Seele sprechen. Hier haben wir ,,die wahre Symbolik, wo das Besondere das Allgemeinere repräsentiert, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen."

Die Madonna mit dem Jesusknaben ist also die glücklichste Aufgabe für ein Bild, während z. B. das Thema ,, Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht" uns viel weniger trifft, eben weil es nicht als Symbol, sondern als ein zufälliges Ereignis, veranlafst durch das Ungeschick der Jünger, erscheint. Unglücklich ist auch der Bildhauer daran, wenn er neben Christus alle zwölf Apostel aufstellen soll, denn wie soll er es anfangen, dafs jeder von ihnen etwas bedeutet? Adam, Noah, Moses, David, Jesaias, Daniel — sie würden uns als Typen der Menschheit ansprechen, und nach ihnen auch einige wenige der Apostel: Johannes, Paulus, Petrus, Jakobus.

In aller Kunst sollte sich an die vereinzelte vergängliche Erscheinung die Dauer durch symbolischen Wert knüpfen. Gegen Schiller sprach Goethe einmal über einen jungen Maler aus Schwaben, dem er aufgegeben hatte, den Admet zu zeigen, wie er Herkules bewirtet, obwohl eine Leiche im Hause ist. Der junge Mann zeichnete die verlangten Figuren ganz trefflich,

aber Goethe war nicht völlig zufrieden, ,,Wenn er das prosaisch Reelle durch das poetisch Symbolische erheben lernt, so kann es was Erfreuliches werden."

So mufs auch der Dramatiker uns mehr bieten als zufällige Bilder. Schiller sagt in Gedanken an seinen ,Wallenstein' geradezu, alle poetischen Personen seien symbolische Wesen, die das Allgemeine der Menschheit darzustellen und auszusprechen haben, und er scheint sich darin mit Goethe einig zu fühlen.

Eckermann fragte eines Tages, wie ein Stück beschaffen sein müfste, um theatralisch zu sein. „Es mufs symbolisch sein," antwortete Goethe. ,,Das heifst: jede Handlung mufs an sich bedeutend sein und auf eine noch wichtigere hinzielen." Es mufs nicht blofs der erste Akt des Dramas auf die Zukunft hinweisen und für die folgende Entwickelung unsere Teilnahme erwecken, sondern die ganze Handlung kann uns nur dann im Innersten berühren, wenn sie nicht blofs zufällige Erlebnisse längst abgeschiedener Menschen oder blofser erdichteter Figuren uns vorführt, sondern allgemein menschliche Erfahrungen und ewige Wahrheiten anzeigt, die auch uns betreffen. Weshalb hatte denn das Drama, in dem von dem sagenhaften Doktor Faust allerlei gefabelt wurde, so grofsen Erfolg? Der Dichter selber sagt es : weil dieses Werk ,,für immer die Entwickelungsperiode eines Menschengeistes festhält, der von allem, was die Menschheit peinigt, auch gequält, von allem, was sie beunruhigt, auch ergriffen, in dem, was sie verabscheut, gleichfalls befangen und durch das, was sie wünscht, auch beseligt worden."  Lessings , Minna von Barnhelm hatte sofort nach ihren Erscheinen ,,eine nie zu berechnende Wirkung" gemacht. Goethe zeigt uns die symbolische Bedeutung, die die Zeitgenossen stärker empfanden als wir Späteren. „Die gehässige Spannung, in welcher Preufsen und Sachsen sich während dieses (d. h. des siebenjährigen) Krieges gegeneinander befanden, konnte durch die Beendigung desselben nicht aufgehoben werden. Der Sachse fühlte nun erst recht schmerzlich die Wunden, die ihm der überstolz gewordene Preufse geschlagen hatte. Durch den politischen Frieden konnte der Friede zwischen den Gemütern nicht sogleich hergestellt werden; dieses aber sollte gedachtes Schauspiel in Bälde bewirken. Die Anmut und Liebenswürdigkeit der Sächsinnen überwindet den Wert, die Würde, den Starrsinn der Preufsen, und sowohl an den Hauptpersonen als den Subalternen wird eine glückliche Vereinigung bizarrer und widerstrebender Elemente kunstgemäfs dargestellt."

Auch wenn Goethe von dem grofsen Aufsehen, das der ,Werther' überall hervorrief, redete, so fügte er hinzu: „das allgemein Menschliche drang durch. " Und als er die ,Wahlverwandtschaften schrieb, äufserte er, seine Idee sei: menschlich-gesellige Verhältnisse und ihre Konflikte, symbolisch gefafst, darzustellen. Auch am , Wilhelm Meister' freute und beruhigte es den Dichter später, „dafs der ganze Roman durchaus symbolisch sei, dafs hinter den vorgeschobenen Personen durchaus etwas Allgemeines, Höheres verborgen liege."  Selbst seine eigene Lebensgeschichte glaubte Goethe nur mit dieser höheren künstlerischen Erhöhung erzählen zu dürfen.

„Ich dächte," sagte er zu Eckermann, ,,es steckten darin einige Symbole des Menschenlebens. Ich nannte das Buch ,Wahrheit und Dichtung', weil es sich durch höhere Tendenzen aus der Region einer niedern Realität erhebt. Jean Paul hat nun, aus Geist des Widerspruchs, ,Wahrheit' aus seinem Leben geschrieben. Als ob die Wahrheit aus dem Leben eines solchen Mannes etwas Anderes sein könnte, als dafs der Autor ein Philister gewesen ! Ein Faktum unseres Lebens gilt nicht, insofern es wahr ist, sondern insofern es etwas zu bedeuten hatte."

Wohl schliefst unser Dichter sein gröfstes Werk mit dem mystischen Chor

„Alles Vergängliche 
Ist nur ein Gleichnis." 

Dieser Satz enthält jedoch nur eine ethisch-religiöse Ahnung und Forderung. Der arme Menschengeist reicht nicht so weit, dafs er wie jene der Gottheit zunächst Wohnenden in allem Vergänglichen ein Abbild des ewigen Wesens erkennen könnte. Darum greift der Künstler auch nicht irgend etwas aus allem Vergänglichen heraus, sondern nur dasjenige, was wir als Gleichnis des Vergänglichen schon fassen können.

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Schon als halbwüchsiger Knabe hat Goethe in seinem Vaterhause mit alten Malern disputiert wie der zwölfjährige Jesus mit den Schriftgelehrten; der rechte Stoff für Gemälde und die rechte Behandlung dieses Stoffes war oft das Thema. Aus eigenem Antrieb schrieb das Kind einen Aufsatz, wie die Geschichte Josephs in zwölf Bildern dargestellt werden sollte, und einige dieser Bilder wurden auch wirklich ausgeführt.

So hat er sein ganzes Leben auf die Wahl des Stoffes den allergröfsten Wert gelegt. Er hielt ihn auch bei Opern und Operetten durchaus nicht für Nebensache. ,, Soviel ist gewifs," sagte er im Alter zu Eckermann, ,,dafs ich eine Oper nur dann mit Freuden geniefsen kann, wenn das Sujet ebenso vollkommen ist wie die Musik, so dafs beide miteinander gleichen Schritt gehen. Fragt ihr mich, welche Oper ich gut finde, so nenne ich euch den ,Wasserträger' ; denn hier ist das Sujet so vollkommen, dafs man es ohne Musik als ein blofses Stück geben könnte und man es mit Freuden sehen würde. Diese Wichtigkeit einer guten Unterlage begreifen entweder die Komponisten nicht, oder es fehlt ihnen durchaus an sachverständigen Poeten, die ihnen mit Bearbeitung guter Gegenstände zur Seite träten. Wäre der , Freischütz' kein so gutes Sujet, so hätte die Musik zu thun gehabt, der Oper den Zulauf der Menge zu verschaffen, wie es nun der Fall ist, und man sollte daher dem Herrn Kind auch einige Ehre erzeigen." -

Auch den Text der ,Zauberflöte' beurteilte Goethe freundlicher, als das sonst üblich ist; der Autor habe doch in hohem Grade die Kunst verstanden, durch Kontraste zu wirken und grofse theatralische Effekte herbeizuführen, und den Eingeweihten werde der höhere Sinn der bunten Fabel nicht entgehen. Goethe hielt sich nicht zu gut dafür, eine Fortsetzung zu diesem Texte zu dichten.

Die besten Stoffe reicht uns ein kräftiges Leben um uns herum; wenigstens vermutet man das von vornherein und deshalb wünscht man den Künstlern, in einer grofsen Zeit zu leben, dafs sie von ihrer Umgebung mit erhöht werden. Wir wissen, dafs Goethe von den kriegerischen und politischen Thaten Friedrichs des Grofsen an eine neue, bessere Epoche der deutschen Litteratur datierte. „Wann entsteht ein klassischer Nationalautor?" fragte er sich 1795" und er antwortete: ,,Wenn er in der Geschichte seiner Nation grofse Begebenheiten und ihre Folgen in einer glücklichen und bedeutenden Einheit vorfindet; wenn er in den Gesinnungen seiner Landsleute Gröfse, in ihren Empfindungen Tiefe und in ihren Handlungen Stärke und Konsequenz nicht vermifst; wenn er, selbst vom Nationalgeist durchdrungen, durch ein einwohnendes Genie sich fähig fühlt, mit dem Vergangenen wie mit dem Gegenwärtigen zu sympathisieren; wenn er seine Nation auf einem hohen Grade der Kultur findet, so dafs ihm seine eigene Bildung leicht wird; wenn er viele Materialien gesammelt vollkommene und unvollkommene Versuche seiner Vorgänger vor sich sieht und so viel äufsere und innere Umstände zusammen treffen, dafs er kein schweres Lehrgeld zu zahlen braucht, dafs er in den besten Jahren seines Lebens ein grofses Werk zu übersehen,, zu ordnen und in einem Sinne auszuführen fähig ist.

Man halte diese Bedingungen, unter denen allein ein klassischer Schriftsteller, besonders ein prosaischer, möglich wird, gegen die Umstände, unter denen die besten Deutschen dieses Jahrhunderts gearbeitet haben, so wird, wer klar sieht und billig denkt, dasjenige, was ihnen gelungen ist, mit Ehrfurcht bewundern und das, was ihnen mifslang, anständig bedauern. Eine bedeutende Schrift ist, wie eine bedeutende Rede, nur Folge des. Lebens; der Schriftsteller so wenig als der handelnde Mensch bildet die Umstände, unter denen er geboren wird und unter denen er wirkt. Jeder, auch das gröfste Genie, leidet von seinem Jahrhundert in einigen Stücken, wie er von andern Vorteil zieht, und einen vortrefflichen Nationalschriftsteller kann man nur von der Nation fordern."

Wenn nun aber die Dichter in einer kleinen Zeit leben, so ist die Gefahr nahe, dafs ihre Poesie von Gelehrsamkeit überwuchert wird, gleichviel, ob sie historischen Werken oder der Gedankenwelt der Denker und Forscher ihre Stoffe und Anregungen entnehmen. Goethe und Eckermann sprachen 1827 viel über Manzonis ,Verlobte' ,,Manzoni ist ein geborener Poet, so wie Schiller einer war. Doch unsere Zeit ist so schlecht, dafs dem Dichter im umgebenden menschlichen Leben keine brauchbare Natur mehr begegnet. Um sich nun aufzuerbauen, griff Schiller zu zwei grofsen Dingen: zur Philosophie und Geschichte; Manzoni zur Geschichte allein. Schillers ,Wallenstein' ist so grofs, dafs in seiner Art zum zweitenmal nicht etwas Ähnliches vorhanden ist; aber Sie werden finden, dafs eben diese beiden gewaltigen Hilfen, die Geschichte und Philosophie, dem Werke an verschiedenen Teilen im Wege sind und seinen reinen poetischen Succefs hindern. So leidet Manzoni durch ein Übergewicht der Geschichte." Schon früher hatte Goethe über diesen Mangel bei dem jungen Italiener geklagt.

„Er hat gar zu viel Respekt vor der Geschichte und fügt aus diesem Grunde seinen Stücken immer gern einige Auseinandersetzungen hinzu^ in denen er nachweist, wie treu er den Einzelheiten der Geschichte geblieben. Nun mögen seine Fakta historisch sein, aber seine Charaktere sind es doch nicht, so wenig es mein Thoas und meine Iphigenia sind. Kein Dichter hat je die historischen Charaktere gekannt, die er darstellte; hätte er sie aber gekannt, so hätte er sie schwerlich so gebrauchen können. Der Dichter mufs wissen, welche Wirkungen er hervorbringen will, und danach die Natur seiner Charaktere einrichten. Hätte ich den Egmont so machen wollen, wie ihn die Geschichte meldet, als Vater von einem Dutzend Kinder, so würde sein leichtsinniges Handeln sehr absurd erschienen sein. Ich mufste also einen andern Egmont haben, wie er besser mit seinen Handlungen und meinen dichterischen Absichten in Harmonie stände, und dies ist, wie Klärchen sagt, mein Egmont".

,,Und wozu wären denn die Poeten, wenn sie blofs die Geschichte eines Historikers wiederholen wollten! Der Dichter mufs weiter gehen und uns womöglich etwas Höheres und Besseres geben. Die Charaktere des Sophokles tragen alle etwas von der hohen Seele des grofsen Dichters, sowie Charaktere des Shakespeare von der seinigen. Und so ist es recht, und so soll man es machen. Ja, Shakespeare geht noch weiter und macht seine Römer zu Engländern, und zwar wieder mit Recht, denn sonst hätte ihn seine Nation nicht verstanden."

Kehren wir zurück zu dem Glauben, dafs grofse Ereignisse den Mitlebenden grofse Stoffe geben und somit die Litteratur und alle Künste auf eine höhere Stufe emporheben! Die Befreiungskriege bedeuteten doch sicherlich für das deutsche Volk eine Offenbarung ungeahnter Kraft, eine Blütezeit für hohe Gesinnungen und grofse Thaten : aber was ging daraus hervor für jene künstlerische Kultur, wie Goethe sie liebte? Freilich an Dichtern, Malern, Bildhauern, Musikern u. s. w. fehlte es nachher keineswegs, aber was Goethe an ihnen am schmerzlichsten vermifste, war die — Männlichkeit! ,,Es lebt ein schwächeres Geschlecht," las er aus allen Werken der schönen Künste heraus.

,,Unsern jungen Malern," klagte Goethe einmal, ,, fehlt es an Gemüt und Geist; ihre Erfindungen sagen nichts und wirken nichts; sie malen Schwerter, die nicht hauen, und Pfeile, die nicht treffen, und es dringt sich mir oft auf, als wäre aller Geist aus der Welt verschwunden."

,,Und doch," entgegnete Eckermann, ,, sollte man glauben, dafs die grofsen kriegerischen Ereignisse der letzten Jahre den Geist aufgeregt hätten." „Mehr Wollen," sagte Goethe, „haben sie aufgeregt als Geist und mehr politischen Geist als künstlerischen, alle Naivetät und Sinnlichkeit ist dagegen gänzlich verloren gegangen."

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Als von Manzonis , Verlobten' wieder die Rede war, dachte Goethe auch an die bekannte Lehre des Aristoteles, das Trauerspiel müsse Furcht erregen, wenn es gut sein solle, und er sagte zu Eckermann, das gelte nicht blofs von der Tragödie, sondern auch von mancher andern Dichtung. ,,Sie finden es in meinem ,Gott und die Bajadere', Sie finden es in jedem Lustspiele und zwar bei der Verwickelung; ja, Sie finden es sogar in den , Sieben Mädchen in Uniform',  indem wir doch immer nicht wissen können, wie der Spafs für die guten Dinger abläuft. Diese Furcht nun kann doppelter Art sein: sie kann bestehen in Angst oder sie kann auch bestehen in Bangigkeit. Diese letztere Empfindung wird in uns rege, wenn wir ein moralisches Übel auf die handelnden Personen heranrücken und sich über sie verbreiten sehen, wie z. B. in den ,Wahlverwandtschaften'. Die Angst aber entsteht im Leser oder Zuschauer, wenn die handelnden Personen bedroht werden, z. B. in den , Galeerensklaven' und im ,Freischütz'; ja in der Scene der Wolfsschlucht bleibt es nicht einmal bei der Angst, sondern es erfolgt eine totale Vernichtung in allen, die es sehen.

„Von dieser Angst nun macht Manzoni Gebrauch, und zwar mit wunderbarem Glück, indem er sie in Rührung auflöst und uns durch diese Empfindung zur Bewunderung führt. Das Gefühl der Angst ist stoffartig und wird in jedem Leser entstehen; die Bewunderung aber entspringt aus der Einsicht, wie vortrefflich der Autor sich in jedem Falle benahm, und nur der Kenner wird mit dieser Empfindung beglückt werden. Was sagen Sie zu dieser Ästhetik? Wäre ich jünger, so würde ich nach dieser Theorie etwas schreiben, wenn auch nicht ein Werk von solchem Umfange wie dieses von Manzoni."

Übrigens nahm Goethe Anstofs an der bisherigen Übersetzung der Stelle, wo Aristoteles die Tragödie definiert. Man verstand sie bisher dahin, dafs die Tragödie durch Darstellung Mitleid und Furcht er- regender Handlungen und Ereignisse von den genannten Leidenschaften das Gemüt des Zuschauers reinigen solle. Goethe übersetzte die Stelle nun folgendermafsen : „Die Tragödie ist die Nachahmung einer bedeutenden und abgeschlossenen Handlung, die eine gewisse Ausdehnung hat und in anmutiger Sprache vorgetragen wird, und zwar von abgesonderten Gestalten, deren jede ihre eigene Rolle spielt, und nicht erzählungsweise von einem Einzelnen, nach einem Verlaufe aber von Mitleid und Furcht mit Ausgleichung solcher Leidenschaften ihr Geschäft abschliefst." Nach Goethe versteht Aristoteles unter Katharsis diese aussöhnende Abrundung, ,, welche eigentlich von allem Drama, ja sogar von allen poetischen Werken gefordert wird. In der Tragödie geschieht sie durch eine Art Menschenopfer."

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Niemand spricht zu allen Zeiten die gleichen Urteile aus, und so wäre es nicht schwer, bei Goethe Widersprüche zu entdecken. Goethe übertrieb einzelne Wahrheiten unbewufst oder bewufst, weil er gerade kräftig von ihnen ergriffen oder weil er beflissen war, sich recht deutlich zu machen. Schon Eckermann macht auf die so entstandenen Widersprüche aufmerksam, gerade auch in Bezug auf den Stoff der Kunstwerke:

,,Bald legt er alles Gewicht auf den Stoff, welchen die Welt giebt, bald alles auf das Innere des Dichters; bald soll alles Heil im Gegenstande liegen, bald alles in der Behandlung; bald soll es von einer vollendeten Form kommen, bald, mit Vernachlässigung aller Form, alles vom Geiste."

Eckermann hat ganz recht, wenn er verlangt, dafs der Leser aus solchen einseitigen Bildern ganze Körper zusammensetzen müsse, ,,das Ganze im Auge halten und alles gehörig zurechtlegen und vereinigen".

Über die hohe Bedeutung des Stoffes haben wir Goethes Urteil gelesen; er sagt uns aber auch, dafs die Kunst gerade dann immer höher in ihre eigensten Regionen steigt, wenn das Stoffartige, das bekanntlich die Menge zuerst an das Kunstwerk lockt, ganz der Aufmerksamkeit entschwindet. Der Theaterdirektor, der das grofse Publikum kennt, fordert vor allen Dingen, dafs vieles vor den Augen abgesponnen werde : ,, Besonders aber lafst genug geschehn!" Der Dichter jedoch fühlt, „wie schlecht ein solches Handwerk sei, wie wenig das dem echten Künstler zieme.

Zu Boisseree sagte Goethe 1815: „Wo der Kunst der Gegenstand gleichgültig, sie rein absolut wird, der Gegenstand nur der Träger ist, da ist die höchste Höhe.'' Und in , Kunst und Altertum' lesen wir in gleichem Sinne: „Die Würde der Kunst erscheint bei der Musik vielleicht am eminentesten, weil sie keinen Stoff hat, der abgerechnet werden müfste. Sie ist ganz Form und Gehalt und erhöht und veredelt alles, was sie ausdrückt."






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