> Gedichte und Zitate für alle: Wilhelm Bode- Goethes Ästhetik- Der Nutzen der Kunst. (Seite 1 )

2019-11-30

Wilhelm Bode- Goethes Ästhetik- Der Nutzen der Kunst. (Seite 1 )

Wilhelm Bode







Der Nutzen der Kunst. 

Ohne Kunst kann man nicht leben, weder im Süden , noch im Norden," schrieb Goethe aus Italien an die Herzogin Amalia, und als ihm Herders Hausfrau bald darauf seinen Enthusiasmus für die antiken Trümmer und die Werke der Renaissance abkühlen wollte, indem sie seinen Musen die wahren Wohlthäter: Fleifs, Mühe und Not gegenüberstellte, antwortete er : „Diese drei letzten allerliebsten Schwestern sind freilich des Menschen Gefährten, aber warum soll man nicht alles verehren, was das Gemüt erhebt und durchs mühselige Leben forthilft? Wenn ihr das Salz wegwerft, womit soll man salzen?"

Nötig ist die Kunst zunächst, weil sie eine Sprache ist. Blofse prosaischeWorte, blofse technische Zeichnungen und Modelle sagen nicht alles, was wir Menschen einander mitzuteilen haben. Das Unaussprechliche, das Unbeschreibliche, die Unwägbarkeiten wollen auch zum Ausdruck gelangen, und den Künstlern gelingt es oft, Worte, Töne, Formen und Farben für sie zu finden.

Und wenn sie es gefunden haben, so können auch wir Andern zuweilen in ihrer Sprache reden. Man braucht oft nur ein Dichterwort oder einen Bibelspruch gleichsam anzurühren, so tönt eine Stimmung nach, die wir anders nicht schaffen konnten. Als Goethe bei seinen persischen Studien sah, wie mannigfaltig im Morgenlande die Koransprüche zur Mitteilung verwandt werden, dachte er an die zahlreichen bibelfesten Leute, die er gekannt, die jedes Ereignis durch einen passenden Spruch in eine höhere Beleuchtung rückten, und er dachte weiter an seine Jugend und die damaligen Freunde. ,,Auch wir, vor fünfzig Jahren, als Jünglinge, die einheimischen Dichter verehrend, belebten das Gedächtnis durch ihre Schriften und erzeigten ihnen den schönsten Beifall, indem wir unsere Gedanken durch ihre gewählten und gebildeten Worte ausdrückten und dadurch eingestanden, dafs sie besser als wir unser Innerstes zu entfalten gewufst."

Aber solche Zitate haben noch geringe Wirkung gegenüber einem feierlichen Vortrag. Und ein Lied, das wir gemeinsam singen, ist oft ein Zaubermantel, der uns in den Äther trägt. Die Kunst befreit uns gleichsam von der Schwerkraft der Erde, wir schreiten leichter, wir erheben uns in die Lüfte; sie erlöst uns oft auch von unserer Leiblichkeit, ja von unserer ganzen Ichheit. ,

,Denn das ist der Kunst Bestreben, 
Jeden aus sich selbst zu heben, 
Ihn dem Boden zu entführen; 
Link und Recht mufs er verlieren 
Ohne zauderndes Entsagen ; 
Aufwärts fühlt er sich getragen!
Und in diesen höhern Sphären 
Kann das Ohr viel feiner hören, 
Kann das Auge weiter tragen, 
Können Herzen freier schlagen".

Erst die Dichter geben uns Mut, von unsern Gefühlen zu reden; sie lassen uns eine falsche Scham überwinden; sie ermuntern uns, von Freundschaft und Liebe und hohen Idealen zu reden. „Es freut mich, dafs Du mein Gedicht nochmals vorlesen wollen," schreibt Goethe an seinen alten Gefährten Konstantin v. Knebel; „einer Gesellschaft von Freunden harmonische Stimmungen zu geben und manches aufzuregen, was bei den Zusammenkünften der besten Menschen so oft nur stockt, sollte von rechtswegen die beste Wirkung der Poesie sein."

Die Kunst bringt die Menschen innerlich zusammen wie der Wein, weshalb wir denn auch beide dann herbeirufen, wenn solche Annäherung erwünscht ist. ,, Selbst im Augenblick des höchsten Glücks und der höchsten Not bedürfen wir des Künstlers."

„In der Himmelsluft der Musen 
Öffnet Busen sich dem Busen, 
Freund begegnet neuem Freunde, 
Schliefsen sich zur All-Gemeinde, 
Dort versöhnt sich Feind dem Feinde."
Und manchmal trifft dann auch die Fortsetzung zu: 
,,Was heute fröhlich macht, was heute rührt, 
Nicht etwa flüchtig wird's vorbeigeführt ; 
Was heute wirkt, es wirkt aufs ganze Leben."

Unsere Sinne und unsere Seele werden kräftiger und reicher, wenn die Künstler zu uns sprechen. Schöne Landschaften fallen uns in der Natur erst auf, nachdem wir sie oft auf gemalten Bildern sahen. Auch 'Goethe bemerkte noch 1787 an sich, dafs ihm sein fleifsiges Kunststudium in Rom die Augen offener für die Schönheiten der Natur machte. Und Ähnliches könnten wir auch auf andern Gebieten beobachten. „Die Künstler sind wie die Sonntagskinder," sagte Goethe einmal, als er mit Wieland und seinem Kunstlehrer Meyer beisammen war; „nur sie sehen Gespenster; wenn sie aber ihre Erscheinung erzählt haben, so sieht sie jedermann." Goethe liebte die Illustrationen zu Gedichten nicht sonderlich, „es ist so schwer, dafs etwas geleistet werde, was dem Sinne und dem Tone nach zu einem Gedichte pafst, Kupfer und Poesie parodieren sich gewöhnlich wechselsweise", aber er mufste zugeben, dafs ein grofser Maler nicht selten zu einem tieferen Verständnis des poetischen Werkes hilft, „denn die vollkommenere Einbildungskraft eines solchen Künstlers zwingt uns, die Situationen so gut .zu denken, wie er sie selber gedacht hat." Ja, Goethe gestand, dafs Delacroix, der Büder zu seinem ,Faust' gemalt hat, seine eigene Vorstellung bei manchen Scenen übertroffen habe.

Der Künstler zeigt uns namentlich auch, wie andere Menschen leben und leiden. Der Leser lernt vom Dichter, „wie es Andern ergangen und was auch er vom Leben zu erwarten habe, und dafs er — es mag sich ereignen, was will — bedenke, dieses widerfahre ihm? als Menschen und nicht als einem besonders Glücklichen oder Unglücklichen. Nützt ein solches Wissen nicht viel, um das Übel zu vermeiden, so ist es doch sehr dienlich, dafs wir uns in die Zustände finden, sie ertragen, ja sie überwinden lernen."Als Goethe voll von seiner Dichtung ,Hermann und Dorothea' war und sich ausmalte, wie er sie zum erstenmale vorgelesen haben würde, schrieb er die Zeilen an die Freunde nieder:

,,Hab ich euch Thränen ins Auge gelockt und Lust in die Seele
 Singend geflöfst, so kommt, drücket mich herzlich ans Herz! 
"Weise dann sei das Gespräch! uns lehret Weisheit am Ende 
Das Jahrhundert; wen hat das Geschick nicht geprüft? 
Blicket heiterer nun auf jene Schmerzen zurücke, 
Wenn euch ein fröhlicher Sinn manches entbehrlich erklärt! 
Menschen lernten wir kennen und Nationen; so lafst uns 
Unser eigenes Herz kennend, uns dessen erfreu'n!"

-------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Die Weisheit, die uns der Dichter lehrt, ist zuerst Sachlichkeit. Wenn wir ein Drama sehen, einen Roman lesen, nehmen wir manche Denk- und Handlungsweise mit ruhigem Verständnis auf, die wir, wenn sie uns im wirklichen Leben entgegentreten, durch unsere persönlichen Wünsche verblendet, im trüben Lichte entstellt erblicken. „Der Handelnde ist immer gewissenlos; es hat niemand Gewissen als der Betrachtende."  Und ,,nur das Kunstwerk regt die Betrachtung auf:, der historische Fall, wenn er gegenwärtig ist, oder die That, nur Hass und Liebe, Abneigung und Zuneigung,.Beifall und Tadel.  Erst im Spiegel der Kunst kommen wir zu einer ruhigen Betrachtung und zu einer Nutzanwendung." Wir lassen uns denn auch vom Dichter recht viel unbequeme Wahrheit gefallen, wenn er nur nicht zum prosaischen Prediger oder Nörgler herabsinkt. So lange er Dichter bleibt, mag er mit den Rosen auch die Stacheln reichen. In diesem Sinne mag auch die Bühne moralisch wirken; es mag mit uns geschehen wie die Muse des Theaters uns verhelfst:

,, Empfangt das Schöne, fühlt zugleich das Gute, 
Eins mit dem andern wird euch einverleibt; 
Das Schöne flieht vielleicht, das Gute bleibt. 
So nach und nach erblühet leise, leise, 
Gefühl und Urteil wirkend wechselweise ; 
In eurem Innern schlichtet sich der Streit. 

Und der Geschmack erzeugt Gerechtigkeit." So ist der Künstler ein Versöhner und Vereiniger der Menschen.

Er erfüllt eine religiöse Aufgabe als Priester der Brüderlichkeit.

,,Was ist heilig? Das ist's, was viele Seelen zusammen. 
Bindet; band' es auch nur leicht, wie die Binse den Kranz; 
Was ist das Heiligste? das, was heut und ewig die Geister, 
Tief und tiefer gefühlt, immer nur einiger macht."  

„Grofse Talente sind das schönste Versöhnungsmittel", heifst es in den ,Maximen und Reflexionen'. Der Dichter hat eine Thätigkeit mit dem Ethiker gemein: das Motivieren. Er erklärt die gegenwärtige Handlung durch Rückblicke in die Vergangenheit oder durch andere Mitteilungen^ die ein sonst sonderbares, mifsverständliches Reden oder Handeln natürlich erscheinen lassen. Schon der Lyriker soll die Empfindungen, die er ausdrückt, motivieren; Goethe betonte, dafs die wahre Kraft eines lyrischen Gedichtes in der Situation, in den Motiven bestehe. Der Epiker und Dramatiker haben im Motivieren viel weiter zu gehen als der Lyriker, der sich auf Andeutungen beschränken mufs. Goethe zeigt sich als echter Dichter, wenn er von sich selbst erzählt erzählst mir lag entschieden und anhaltend das Bedürfnis, nach den Maximen zu forschen, aus welchen ein Kunst- oder Naturwerk, irgend eine Handlung oder Begebenheit herzuleiten sein möchte." Als Schiller den ,Tell' schrieb, wollte er den Gefsler geradezu und unmotiviert einen Apfel vom Baume brechen und vom Kopfe des Knaben schiefsen lassen. Das schien Goethen unleidlich, und er überredete den Freund, diese Grausamkeit doch wenigstens dadurch zu motivieren, dafs er Teils Knaben mit der Geschicklichkeit seines Vaters gegen den Landvogt grofsthuen lasse, indem er sagt, dafs sein Vater wohl auf hundert Schritte einen Apfel vom Baum schiefse.

Das Motivieren des Dichters darf freilich nicht so weit zurück gehen wie das des Ethikers; er hat sich an die zunächstliegenden Ursachen zu halten und entfernteste Ursachen zu ignorieren, um nicht weitschweifig zu werden, aber auch mit seinem geringeren Mafse des Erklärens ist schon viel Gutes gethan.

-------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Auch die Nationen werden durch die Künstler einander näher geführt. Wir brauchen nur an Musik, Malerei, Bildhauerei, Architektur, Gartenkunst und Kunstgewerbe zu. denken, um deutlich zu sehen, wie hier verschiedene Völker einander ohne weiteres verstehen, aber auch die Dichter, obwohl sie der Übersetzung bedürfen, bereiten die grofse Menschheitsgemeinde vor. Goethe betonte zwar, dafs gerade von den Dichtern das Nationalgefühl stamme; er sagt einmal sogar, die Nationalität ruhe auf der Poesie, die uns älteste Geschichte in fabelhaften Büchern überliefert der Dichter hat seiner Natur nach auch viel zu viel Liebe zum Individuellen und Charakteristischen, als dafs er eine Völkervermischung, einen grofsen Menschheitsbrei, wünschen könnte. Deshalb meint Goethe auch, da- von könne nicht die Rede sein, dafs die Nationen überein denken sollten, sondern sie sollten einander nur gewahr werden, sich begreifen und, wenn sie sich wechselseitig nicht lieben mögen, sich einander wenigstens dulden lernen. Folgende Entwicklung sieht er voraus und wünscht er:

„Offenbar ist das Bestreben der besten Dichter und ästhetischen Schriftsteller aller Nationen schon seit geraumer Zeit auf das allgemein Menschliche gerichtet. In jedem Besonderen, es sei nun historisch, mythologisch, fabelhaft, mehr oder weniger willkürlich ersonnen, wird man durch Nationalität und Persönlichkeit hier jenes Allgemeine immer mehr durchleuchten und durch- scheinen sehen. Da nun auch im praktischen Lebensgange ein Gleiches obwaltet und durch alles irdisch' Rohe, Wilde, Grausame, Falsche, Eigennützige, Lügenhafte sich durchschlingt und überall einige Milde zu. verbreiten trachtet, so ist zwar nicht zu hoffen, dafs ein allgemeiner Friede dadurch sich einleite, aber doch, dafs der unvermeidliche Streit nach und nach läfslicher werde, der Krieg weniger grausam, der Sieg weniger übermütig. Was nun in den Dichtungen aller Nationen hierauf hindeutet und hinwirkt, dies ist es, was die übrigen sich anzueignen haben. Die Besonderheiten einer jeden mufs man kennen lernen, um sie ihr zu lassen, um gerade dadurch mit ihr zu verkehren; denn die Eigenheiten einer Nation sind wie ihre Sprache und ihre Münzsorten: sie erleichtern den Verkehr, ja sie machen ihn erst vollkommen möglich. Eine wahrhaft allgemeine Duldung wird am sichersten erreicht, wenn man das Besondere der einzelnen Menschen und Völkerschaften auf sich beruhen läfst, bei der Überzeugung jedoch festhält, dafs das wahrhaft Verdienstliche sich dadurch auszeichnet, dafs es der ganzen Menschheit angehört. Zu einer solchen Vermittelung und wechselseitigen Anerkennung tragen die Deutschen seit langer Zeit schon bei. Wer die deutsche Sprache versteht und studiert, befindet sich auf dem Markte, wo alle Nationen. ihre Waren anbieten; er spielt den Dolmetscher, indem er sich selbst bereichert."

Wir haben hier einen patriotischen Lieblingsgedanken Goethes vor uns, von dem er oft gesprochen hat. Gerade die Deutschen hielt er für berufen, ihre Sprache und Litteratur für die geistige Versammlung der Völker darzubieten, denn nicht nur die Ausdrucksfähigkeit und Vieltönigkeit unserer Sprache, sondern namentlich auch die Vielseitigkeit, Empfänglichkeit und Anpassungsfähigkeit des deutschen Geistes schienen uns für diese kosmopolitische Aufgabe vorausbestimmt zu haben.

-------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Dafs die Künstler uns ältere Kulturen verständlich machen, auch dadurch unseren Gesichtskreis ungemein erweitern und uns vor dem falschen Stolze, ,,wie wir's so herrlich weit gebracht", behüten, braucht nur erwähnt zu werden. ,, Das Altertum mufs Ihnen doch sehr lebendig sein," meinte Eckermann, als er mit Goethe über die klassischen Scenen im zweiten Teile des ,Faust' sprach. ,,Ohne eine lebenslängliche Beschäftigung mit der bildenden Kunst wäre es mir nicht möglich gewesen," war die Antwort, Dieses Leben in einer früheren Kultur bedeutet für manchen Menschen geradezu ein Leben können überhaupt; man braucht nicht aus dem Leben zu fliehen, wenn man der Gegenwart entfliehen kann. Goethe liebte die antike Welt mit ganzem Gemüte, und ihre Kunstwerke sprachen ihm Frieden zu. So sagt er in den ,Maximen und Reflexionen' : „Der für dichterische und bildnerische Schöpfungen empfängliche Geist fühlt sich, dem Altertum gegenüber, in den anmutigst ideellen Naturzustand versetzt, und noch auf den heutigen Tag haben die Homerischen Gesänge die Kraft, uns wenigstens für Augenblicke von der furchtbaren Last zu befreien, welche die Überlieferung von mehreren tausend Jahren auf uns gewälzt hat." Ähnlich hat er schon in Italien empfunden.

„Überhaupt ist dies die entschiedenste Wirkung aller Kunstwerke, dafs sie uns in den Zustand der Zeit und der Individuen versetzen, die sie hervorbrachten. Umgeben von antiken Statuen, empfindet man sich in einem bewegten Naturleben; man wird die Mannigfaltigkeit der Menschengestaltung gewahr und durchaus auf den Menschen in seinem reinsten Zustande zurückgeführt, wodurch denn der Beschauer selbst lebendig und rein menschlich wird. Selbst die Bekleidung, der Natur angemessen, die Gestalt gewissermafsen noch hervorhebend, thut im allgemeinen Sinne wohl."

Das Gespräch mit Eckermann kam eines Tages auf Fouques , Sängerkrieg auf der Wartburg, und Goethe meinte, dafs der Dichter aus den altdeutschen Studien am Ende doch keine Kultur für sich erlangen könne. „Es ist in der altdeutschen düstern Zeit ebenso wenig für uns zu holen, als wir aus den serbischen Liedern und ähnlichen barbarischen Volkspoesieen gewonnen haben. Man liest es und interessiert sich wohl eine Zeit lang dafür, aber blofs um es abzuthun und sodann hinter sich liegen zu lassen. Der Mensch wird überhaupt genug durch seine Leidenschaften und Schicksale verdüstert, als dafs er nötig hätte, dieses noch durch die Dunkelheiten einer barbarischen Vorzeit zu thun. Er bedarf der Klarheit und der Aufheiterung, und es thut ihm not, dafs er sich zu solchen Kunst- und Litteraturepochen wende, in denen vorzügliche Menschen zu vollendeter Bildung gelangten, so dafs es ihnen sehr wohl war und sie die Seligkeit ihrer Kultur wieder auf andere auszugiefsen imstande sind."

Nicht an sich, wohl aber an vielen Zeitgenossen beobachtete Goethe, dafs sie das Bedürfnis hatten, sich über gegenwärtige trübselige Zustände ihres Vaterlandes dadurch hinwegzusetzen, dafs sie dessen vergangene Tage herrlich ausmalten und aus diesen Träumen dann Hoffnung für die Zukunft schöpften. Die ganze Entwickelung: des deutschen Geisteslebens, die wir Romantik benennen,, war ja eine Dichter- und Künstler Gegenwirkung gegen die damalige deutsche Kläglichkeit. Und objektiver konnte der deutsche Dichter Ähnliches nachher am besiegten Frankreich beobachten. Deshalb liefs er bei Beranger auch die politischen Gedichte passieren; er habe sich geradedadurch als Wohlthäter seiner Nation erwiesen,  denn ,,nach der Invasion der Alliierten fanden die Franzosen in ihm das beste Organ ihrer gedrückten Gefühle. Er richtete sie auf durch vielfache Erinnerungen an den Ruhm der Waffen unter dem Kaiser, dessen Andenken noch in jeder Hütte lebendig und dessen grofse Eigenschaften der Dichter liebt, ohne jedoch eine Fortsetzung seiner despotischen Herrschaft zu wünschen. Jetzt, unter den Bourbonen, scheint es ihm nicht zu behagen. Es ist freilich ein schwach gewordenes Geschlecht!"

Später sagte er vom gleichen gefälligen Chansonnier : ,, Seine Lieder haben jahraus jahrein Millionen froher Menschen gemacht; sie sind durchaus mundrecht auch für die arbeitende Klasse, während sie sich über das Niveau des Gewöhnlichen so sehr erheben, dafs das Volk im Umgange mit diesen anmutigen Geistern gewöhnt und genötigt wird, selbst edler und besser zu denken. Was wollen Sie mehr? Und was läfst sich überhaupt Besseres von einem Poeten rühmen?"

--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Das Volk erfreuen, dem Volke Ideale geben, den Nationalbesitz an Erinnerungen rühmend vermehren, das sind also in Goethes Augen nützliche Wirkungen der Dichtkunst. Bleiben wir bei derjenigen Vermehrung der Volksgüter, die der Ruhm bedeutet, so haben wir dafür den Künstlern, und unter ihnen besonders den Poeten, in allererster Linie zu danken. Wieviel Frauenschönheit aus alter Zeit umgiebt uns noch heute, weil Maler und Bildhauer das, was sie davon sahen, rechtzeitig festhielten !

Mit gröfserem Rechte noch darf der Künstler den Fürsten und Mächtigen fragen :

„Und wufst ich nicht auf kühnen Schwingen 
Für dich die Palme zu erringen? 
Wie oft ich auch für dich gefochten, 
Mir ist es jederzeit geglückt; 
Wenn Lorbeer deine Stirne schmückt, 
Hab ich ihn nicht mit Sinn und Hand geflochten? 

Nur den Künstlern gelingen Denkmäler, besonders aber den Dichtern, deren Macht in dieser Hinsicht oft übersehen wird:

,,Nur die Muse gewährt einiges Leben dem Tod. 
Denn gestaltlos schweben umher in Persephoneias 
Reiche massenweis Schatten, vom Namen getrennt: 
Wen der Dichter aber gerühmt, der wandelt, gestaltet,
Einzeln, gesellet dem Chor aller Heroen sich zu.

Da nun die Dichter die Gestalten, die die Geschichte ihnen bietet, idealisieren, da sie aus ihrer eigenen Umgebung Menschen zu Idealen erheben, so schaffen sie uns eine erhöhte Welt, die unsere Sehnsucht nach besseren Zuständen und besseren Menschen zeitweise befriedigt, namentlich aber auch solche Sehnsucht bei Vielen erst erweckt. Sie heben uns aus dem Philistertum heraus, das alles so haben will, wie es heute in unserem Neste Mode ist, das seine Reformlust in kleinlichen Nörgeleien am neuen Bürgermeister und den vielen Steuern erschöpft. Sie geben uns Gestalten, nach denen wir uns bilden. Der ,, Knabe Lenker", der die Poesie verkörpert, darf sich kühn mit dem Geist der Pfingsten vergleichen :

,,Die gröfsten Gaben meiner Hand, 
Seht, hab' ich rings umher gesandt: 
Auf dem und jenem Kopfe glüht 
Ein Flämmchen, das ich angesprüht; 
Von einem zu dem andern hüpft's 
An diesem hält sich's, dem entschlüpft's, 
Gar selten aber flammt's empor ..." 

Man denke nur an alle die Frauengestalten, die Goethe und Schiller ihrer Phantasie entnommen haben!  Gewifs ist die Enttäuschung schmerzlich, wenn der Jüngling sie im Leben vergebens sucht, aber nicht auszudenken ist der erziehliche Einflufs, der von ihrem Vorbilde seit einem Jahrhundert ausgeht. Die Frauen, die unsere Dichter wirklich kannten, waren solche hehren Vorbilder nicht. Bekannt ist Goethes Bekenntnis: ,,Die Frauen sind silberne Schalen, in die wir goldene Äpfel legen. Meine Idee von den Frauen ist nicht von den Erscheinungen der Wirklichkeit abstrahiert, sondern sie ist mir angeboren oder in mir entstanden, Gott weifs wie. Meine dargestellten Frauencharaktere sind daher auch alle gut weggekommen, sie sind alle besser, als sie in der Wirklichkeit anzutreffen sind."

Die Dichter und sonstigen Künstler regen nicht nur unsere Phantasie auf, sondern leiten sie auch zu edleren Bildern; sie mäfsigen und mildern unsere Träume. Man braucht nur an die Geschichte des Aberglaubens zu denken, um mit Schiller zu gestehen, dafs ,,der Mensch in seinem Wahn" der schrecklichste der Schrecken ist. Auch die Künstler sind nicht frei von Wahn und Aberglauben, aber sie bewegen sich doch in höheren Sphären und ziehen die Menge allmählich zu sich herauf ,, Einbildungskraft wird nur durch Kunst, besonders durch Poesie, geregelt. Es ist nichts fürchterlicher als Einbildungskraft ohne Geschmack."

-------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Alles Lob der Kunst hat freilich zur Voraussetzung, dafs die Künstler gesund, edel, gebildet und wohl- meinend sind. Krankhafte Künstler erzeugen krankhafte Gesinnungen und sollten deshalb entschieden abgelehnt werden. Goethe that es oft :

,,Mir will das kranke Zeug nicht munden, 
Autoren sollten erst gesunden!"

„Die Poeten schreiben alle, als wären sie krank und die ganze Welt ein Lazarett," so sagte er 1827 ärgerlich zu Eckermann, indem er an die Romantiker jener Jahre dachte. ,,Alle sprechen sie von den Leiden und dem Jammer der Erde und von den Freuden des Jenseits, lind unzufrieden, wie schon alle sind, hetzt einer den andern in noch gröfsere Unzufriedenheit hinein. Das ist ein wahrer Mifsbrauch der Poesie, die uns doch eigentlich dazu gegeben ist, um die kleinen Zwiste des Lebens auszugleichen und den Menschen mit der Welt und seinem Zustande zufrieden zu machen."

,,Ich habe ein gutes Wort gefunden," fuhr Goethe fort, „um diese Herren zu ärgern. Ich will ihre Poesie die Lazarett  Poesie nennen; dagegen die echt tyrtäische diejenige, die nicht blofs Schlachtlieder singt, sondern auch die Menschen mit Mut ausrüstet, die Kämpfe des Lebens zu bestehen."

,,Die wahre Poesie kündet sich dadurch an, dafs sie als ein weltliches Evangelium durch innere Heiterkeit, durch äufseres Behagen uns von den irdischen Lasten zu befreien weifs, die auf uns drücken; wie ein Luftballon hebt sie uns mit dem Ballast, der uns anhängt, in höhere Regionen und läfst die verwirrten Irrgänge der Erde in Vogelperspektive vor uns entwickelt daliegen."

Auch den Malern ruft unser Dichter zu :

,, Künstler, zeiget nur den Augen 
Farbenfülle, reines Rund ! 
Was den Seelen möge taugen. 
Seid gesund und wirkt gesund!"'

Weil sie seine Seele gesünder und gerechter machten, darum nannte Goethe immer wieder die englischen Dichter Goldsmith und Sterne mit grofsem Danke; wir aber empfangen jetzt solche Wohlthaten von ihm. Als Schiller den Anfang von Wilhelm ,Meisters Lehrjahren' gelesen hatte, schrieb er an den eben gewonnenen Freund:

„Ich kann das Gefühl, das mich beim Lesen dieser Schrift durchdringt und besitzt, nicht besser als durch eine süfse und innige Behaglichkeit, durch ein Gefühl geistiger und leiblicher Gesundheit ausdrücken. Ich erkläre mir dieses Wohlsein von der durch- gängig darin herrschenden ruhigen Klarheit, Glätte und Durchsichtigkeit, die auch nicht das Geringste zurückläfst, was das Gemüt unbefriedigt und unruhig läfst, und die Bewegung desselben nicht weiter treibt als nötig, um ein fröhliches Leben in dem Menschen an- zufachen und zu erhalten."

So wie es Schiller hier zeichnet, wirkte Goethe auch in der Unterhaltung, sobald er aus dem Plauderer mehr und mehr zum Dichter wurde. ,,Die Ruhe, die Klarheit, die Lebendigkeit, der ans Komische hinstreifende, halb feierliche Ton, womit er schilderte und alles deutlich vor Augen stellte, flöfsten mit dem Reize der Unterhaltung zugleich ein grofses Behagen, ein grofses Wohlgefallen am Leben ein."

Solche Wirkung war in der That Goethes Wunsch und Vorsatz. Denn so hatte er die Muse reden gehört, als sie ihm ,,der Dichtung Schleier" schenkte:

„Und wenn es dir und deinen Freunden schwüle 
Am Mittag wird, so wirf ihn in die Luft! 
Sogleich umsäuselt Abendwindes Kühle, 
Umhaucht euch Blumen-Würzgeruch und Duft.

Es schweigt das Wehen banger Erdgefühle, 
Zum Wolkenbette wandelt sich die Gruft; 
Besänftiget wird jede Lebenswelle, 
Der Tag wird lieblich und die Nacht wird helle " 

Ja, Schiller hatte recht, wenn er die Künstler dankbar rühmte :

,,Wie eure Urnen die Gebeine, 
Deckt ihr mit holdem Zauberscheine 
Der Sorgen schauervollen Chor. 
Jahrtausende hab' ich durcheilet. 
Der Vorwelt unabsehlich Reich; 
Wie lacht die Menschheit, wo ihr weilet. 
Wie traurig liegt sie hinter euch!" 

So möge uns denn Goethe, der trotz seiner stolzen Einsamkeit der wärmste Menschenfreund war, auch heute noch und immer wieder einladen:

,,So kommt denn. Freunde, wenn auf euren Wegen 
Des Lebens Bürde schwer und schwerer drückt, 
Wenn eure Bahn ein frischerneuter Segen 
Mit Blumen ziert, mit goldnen Früchten schmückt, 
Wir gehn vereint dem nächsten Tag entgegen ! 
So leben wir, so wandeln wir beglückt. 
Und dann auch soll, wenn Enkel um uns trauern, 
Zu ihrer Lust noch unsre Liebe dauern."

Ende



Keine Kommentare: