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2019-11-28

Wilhelm Bode- Goethes Ästhetik- Die Form. (Seite 1 )





Die Form. 

Als Goethe in Rom lebte, erfuhr er reichlich, dafs  das Streiten über Kunstfragen auch bei denjenigen sehr behebt ist, die Heber schaffen als theoretisieren sollten. Ein Beispiel erzählt er uns. ,,Eine Anzahl Künstler hatte den Nachmittag im Vatikan zugebracht und gingen spät, um nicht den langen Weg durch die Stadt zu ihrem Quartier zu nehmen, zu dem Thor an der Kolonnade hinaus, an den Weinbergen her bis an die Tiber. Sie hatten sich unterwegs gestritten, kamen streitend ans Ufer und setzten auf der Überfahrt die Unterhaltung lebhaft fort. Nun wären sie, bei Ripetta aussteigend, in den Fall gekommen, sich trennen und die von beiden Seiten noch überflüssigen Argumente in der Geburt erstickt zu sehen. Sie wurden also einig, beisammen zu bleiben und wieder hinüber und herüber zu fahren und auf der schwankenden Fähre ihrer Dialektik den ferneren Lauf zu lassen. Sie waren einmal im Zuge und verlangten von dem Fährmann mehrmahge Wiederholung. Dieser auch liefs es sich wohl gefallen, indem ein jedesmaliges Herüber und Hinüber von der Person einen Bajocco eintrug, einen ansehnlichen Gewinn, den er so spät nicht mehr zu erwarten hatte. Deshalb erfüllte er ganz stillschweigend ihr Verlangen, und da ihn sein Söhnchen mit Verwunderung fragte: ,Was wollen sie denn damit?' antwortete er ganz ruhig: ,Ich weifs nicht, aber sie sind toll.'"

Das Gewöhnliche bei solchen Diskussionen ist, dafs man sich auf seine Autoritäten beruft und das Vorbild anerkannter Meister als mafsgebend hinstellt. Goethe hat es stets abgelehnt, als Meister genannt zu werden. Wohl wollten sich schon bei seinem ersten Auftreten andere Dichter an ihn anschliefsen, ihn als Führer preisend, aber er bedankte sich für die ,, Strudelköpfe, welche fast den Ehrennamen eines Genies zum Spitz- namen heruntergebracht hätten."  Wohl wollten auch später Manche ihn gern als ihren Meister anerkennen, aber er sah deutlich genug, dafs sie nicht seinem Vorbilde, sondern ihren Schwächen folgten. Er war überhaupt nicht der Mann dazu, eine Schule oder Partei um sich zu versammeln. So viele Erfahrungen er mitzuteilen hatte, ein Lehrbuch der Dichtkunst hätte er trotzdem nicht schreiben können, denn dazu gehört auch eine Enge und Kleinlichkeit des Geistes, dazu gehört ein fester Glaube an die Wichtigkeit von Regeln und Formen. Goethes Lehre war ja, dafs der Dichter geboren wird und dafs sein Genie von selbst das Rechte findet wie eine Rechenmaschine, ,,die wird gedreht, und das Resultat ist richtig; sie weifs nicht warum? oder wieso?" Er hatte diesem geborenen Dichter weiter nichts zu raten, als dafs er sich beständig bilde : zu gröfserer Weltkenntnis, zu reinerem Geschmack, zu edlerer Gesinnung. Er mufste deshalb auch die Aufrichtigen, die seine Lehren begehrten, abweisen:

,,Lafst euch einen Gott begeisten! 
Euch beschränket nur mein Sagen. 
Was ihr könnt, ihr werdet's leisten, 
Aber müfst mich nur nicht fragen!"  

Ein Schulmeister der Dichtkunst war er also nicht. „Wenn ich aber aussprechen soll, was ich den Deutschen überhaupt, besonders den jungen Dichtern, geworden bin, so darf ich mich wohl ihren Befreier nennen; denn sie sind an mir gewahr geworden, dafs, wie der Mensch von innen herausleben, der Künstler von innen heraus wirken müsse, indem er, gebärde er sich, wie er will, immer nur sein Individuum zu Tage fördern wird. Geht er dabei frisch und froh zu Werke, so manifestiert er gewifs den Wert seines Lebens, die Hoheit oder Anmut vielleicht auch die anmutige Hoheit, die ihm von der Natur verliehen war."  Es ist auf ästhetischem Gebiete wie auf ethischem : im Anfange braucht die Menschheit bestimmte Gebote : ,,Du sollst" — und „du sollst nicht", und gut erscheint derjenige, dem Verstöfse gegen diese bestimmt formulierten Vorschriften nicht nachzuweisen sind. Allmählich aber erkennt man, dafs der ethische Wert einer Handlung nicht nach solchen erstarrten, abstrakten Paragraphen gemessen werden kann, und an die Stelle der bestimmten Gebote tritt eine ethische Freiheit, die allerdings zugleich die eine grofse Aufforderung in sich schliefst: Handle stets nach deiner eigenen tiefsten Erkenntnis, folge der besten Stimme, die du in dir selbst vernimmst ! Wenn Goethe auf ästhetischem Gebiet die Befreiung von den bisherigen Geboten proklamiert, wenn er den jungen Dichtern zuruft: ,,Ihr habt jetzt eigentlich keine Norm", so fügt er hinzu: ,,die müfst ihr euch selbst geben"; sie müssen sich nun bei jedem Gedicht fragen, nicht ob es vor dem Lehrbuch der Poetik, sondern ob es vor ihrem höchsten ästhetischen Gewissen bestehen könne. ,,Sich frei zu erklären, ist eine grofse Anmafsung; denn man erklärt zugleich, dafs man sich selbst beherrschen wolle."

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Goethe war bereit, jeden Verstofs gegen die bisher heiligen poetischen Regeln zu billigen, wenn ein dichterisches Genie ihn aus innerem Bedürfnis begehen mufste. Er nahm stets die Partei des freien Dichters gegen den herrschsüchtigen Schulmeister. Unreine Reime z. B. konnten ihm selbst reichlich angestrichen werden; er hat so viele davon, weil er auch beim Sprechen die Vokale nicht so scharf der Schreibweise nach auseinander hielt, wie wir Heutigen das für schön und richtig halten, da wir alle mehr oder weniger eine Schulsprache uns angewöhnt haben. Er ging aber auch grundsätzlich einem mangelhaften Reime nicht ängstlich aus dem Wege, denn den geraden Weg fortzuschreiten ist weiser, als den Pedanten den Willen zu thun. „Wäre ich noch jung und verwegen genug," sagte er im

höchsten Alter zu Eckermann,  ,,so würde ich absichtlich gegen alle solche technischen Grillen verstofsen; ich würde Allitterationen, Assonanzen und falsche Reime, alles gebrauchen, wie es mir käme und bequem wäre, aber ich würde auf die Hauptsache ausgehen und so gute Dinge zu sagen suchen, dafs jeder gereizt werden sollte, es zu lesen und auswendig zu lernen."

,,Ein reiner Reim wird wohl begehrt; 
Doch den Gedanken rein zu haben, 
Die edelste von allen Gaben, 
Das ist mir alle Reime wert."

So spricht derselbe Dichter, der im Zwiegespräch zwischen Faust und Helena die schönste poetische Verherrlichung des Reims gedichtet hat.

Auch die wunderbare Bedeutung des Metrums kannte Goethe aufs beste, er wandte sich aber auch hier gegen die ,,Cyklopen" wie Vofs nach deren Hämmern sich nun alle andern richten sollten.

,,Noch bin ich gleich von euch entfernt, 
Hass' euch Cyklopen und Silbenfresser. 
Ich habe nichts von euch gelernt ; 
Ihr wufstet's immer besser." 

,,In zehn Jahren," so schreibt er 1807 an seinen Freund Knebel, ,,wird der Dünkel, womit die Rhythmiker von der strengen Observanz sich jetzt vernehmen lassen, höchst lächerlich sein," aber freilich gesteht er zu, dafs sie einen allgemeinen bessernden Einflufs auf die poetische Form haben. ,,Es ist übrigens gut, dafs die Deutschen durch diese Krankheit durchkommen, und was daraus entsteht, ist wohl nicht für uns, doch für unsre Nachfahren nützlich und bequem. Die Menschen können nichts mäfsig thun, sie müssen sich immer auf eine Seite legen . . . Doch leisteten sie nicht, was sie leisten, wenn sie sich nicht soviel darauf einbildeten."

„Es ist immer ein Zeichen einer unproduktiven Zeit, wenn sie so ins Kleinliche des Technischen geht, und ebenso ist es ein Zeichen eines unproduktiven Individuums, wenn es sich mit dergleichen befafst." Dabei hat doch auch Goethe in Gesprächen mit Schiller und sonst solche Fragen hin und her geprüft, und es lag ihm eine Zeit lang auch daran, dafs seine Hexameter Vossens strengen Lehren genügten. Aber das Ende war doch immer, dafs der Dichter unbewufst, gleichsam nachtwandlerisch schafft und nicht wie ein Schulknabe skandiert. „Der Takt kommt aus der poetischen Stimmung, wie unbewufst. Wollte man darüber denken, wenn man ein Gedicht macht, man würde verrückt und brächte nichts Gescheites zu stande."

Gerade wenn das Metrum auf magische Weise entsteht, wird es auch magische Wirkung thun. ;,Der Rhythmus hat etwas Zauberisches, sogar macht er uns glauben, das Erhabene gehöre uns an." Und ein andermal schreibt Goethe nach Gesprächen mit Schiller an den Kunstfreund Meyer : ,,Es ist wirklich beinahe magisch, dafs etwas, was in dem einen Silbenmafse noch ganz gut und charakteristisch ist, in einem andern leer und unerträglich erscheint." Zu Eckermann aber machte er die treffende Bemerkung: „Wenn man den Inhalt meiner ,Römischen Elegien' in den Ton und in die Versart von Byrons ,Don Juan' übertragen wollte, so müfste sich das Gesagte ganz verrucht ausnehmen . . .

Es liegen in den verschiedenen poetischen Formen geheimnisvolle grofse Wirkungen." Schiller bestätigte das einmal in einem an Goethe gerichteten Briefe, in dem er von einer Übersetzung des Mahomet von Voltaire spricht. „Die Eigenschaft des Alexandriners, sich in zwei gleiche Hälften zu trennen, und die Natur des Reims, aus zwei Alexandrinern ein Couplet zu machen, bestimmen nicht blofs die ganze Sprache, sie bestimmen auch den ganzen inneren Geist dieser Stücke, die Charaktere, die Gesinnung, das Betragen der Personen. Alles stellt sich dadurch unter die Regel des Gegensatzes, und wie die Geige des Musikanten die Bewegungen der Tänzer leitet, so auch die zweischenkligte Natur des Alexandriners die Bewegungen des Gemüts und die Gedanken. Der Verstand wird ununterbrochen aufgefordert, und jedes Gefühl, jeder Gedanke in diese Form wie in das Bette des Prokrustes gezwängt."

Zu den zauberhaften Wirkungen des Versmafses gehört ja auch die, dafs ein Nichts von Inhalt in poetischer Form ein Aussehn bekommt, als wäre es etwas. Eckermann bemerkte von den jungen Dichtern der zwanziger Jahre, dafs fast keiner von ihnen mit einer guten Prosa aufgetreten sei.

,,Die Sache ist sehr einfach," sagte Goethe. „Um Prosa zu schreiben, mufs man etwas zu sagen haben; wer aber nichts zu sagen hat, der kann doch Verse und Reime machen, wo denn ein Wort das andere giebt und zuletzt etwas herauskommt, das zwar nichts ist, aber doch aussieht als wäre es was."

Auf der andern Seite meinte er, dafs für poetische Darstellungen immer der Vers gewählt werden sollte, weil in der prosaischen Form eine Anziehungskraft für sonstige Prosa liegt. Deshalb arbeitete Goethe z. B. seine ,Iphigenie' in Verse um und hielt das für eine grofse Verbesserung, obwohl sein Diener und Schreiber Philipp Seidel gegen diese neue Form energisch protestierte. Schiller folgte ihm darin mit dem ,Wallenstein' und er mufste gestehen: ,, Seitdem ich meine prosaische Sprache in eine poetisch-rhythmische verwandle, befinde ich mich unter einer ganz andern Gerichtsbarkeit als vorher; selbst viele Motive, die in der prosaischen Ausführung recht gut am Platze zu stehen schienen, kann ich jetzt nicht mehr brauchen; sie waren blofs gut für den gewöhnlichen Hausverstand, dessen Organ die Prosa zu sein scheint, aber der Vers fordert schlechterdings Beziehungen auf die Einbildungskraft, und so mufste ich auch in mehreren meiner Motive poetischer werden. Man sollte wirklich alles, was sich über das Gemeine erheben mufs, in Versen, wenigstens anfänglich, konzipieren, denn das Platte kommt nirgends so ins Licht, als wenn es in gebundener Schreibart ausgesprochen wird." Goethe stimmte zu und ging noch weiter „Alles Poetische sollte rhythmisch behandelt werden! Das ist meine Überzeugung und dafs man nach und nach eine poetische Prosa einführen konnte, zeigt nur, dafs man den Unterschied zwischen Prosa und Poesie aus den Augen verlor. Es ist nicht besser, als wenn sich jemand in seinem Park einen trockenen See bestellte und der Gartenkünstler diese Aufgabe dadurch aufzulösen suchte, dafs er einen Sumpf anlegte. Diese Mittelgeschlechter sind nur für Liebhaber und Pfuscher, so wie die Sümpfe für Amphibien . . . Alle dramatischen Arbeiten (und vielleicht. Lustspiel und Farce zuerst) sollten rhythmisch sein!"

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Schiller und Goethe hatten im Jahre 1797 auch viele briefliche und mündliche Beratungen, welche Stoffe in die verschiedenen poetischen Gattungen hineinpafsten : ob eine gegebene Fabel in einer Ballade, einem Epos, einem Drama oder sonstwie behandelt werden müsse. „Ich habe mich darinnen so oft in meinem Leben vergriffen, dafs ich endlich einmal ins Klare kommen möchte," so beginnt Goethe," ,,eine reine Form hilft und trägt, da eine unreine überall hindert und zerrt." Aber das Ergebnis war schliefslich doch, dafs der Dichter sich auch hier seinem Genius anvertrauen müsse. Goethe wollte ein Epos ,Tell' dichten; als er Schiller den Stoff abtrat, machte dieser ein Drama daraus.. Goethe hielt die Geschichte Wallensteins für keinen guten dramatischen Stoff, aber in Schillers Geiste wurde er dazu. Als Goethe ,Hermann und Dorethea' nahezu vollendet hatte, wünschte er sehr, sogleich ein anderes Gedicht in Hexametern folgen zu lassen; der Plan war fertig, der Titel ,Die Jagd' bestimmt. Schiller riet ihm, statt der Hexameter achtzeilige Stanzen zu wählen. Eine Weile war Goethe dazu geneigt, dann schien es ihm, als ob der ganze Stoff zu einer Ballade zusammenschmelzen werde. ,,Wir wollen abwarten, an welches Ufer der Genius das Schifflein treibt," schrieb er damals dem Freunde. Und er hat ganze dreifsig Jahre gewartet, und schliefslich formte sich der Stoff zu einer Novelle, nämlich zu derjenigen, die wir unter dem Titel Novelle' kennen.

Aus solchen Erfahrungen kam Goethe nicht etwa zu der Ansicht, dafs ein Stoff gleich gut auf verschiedene Weise behandelt werden könne; auch er sah schon, wie die Dramatisierungen nach beliebten Romanen und Epen in der Regel verunglückten. Nur eine einzige Form kann für jeden Stoff die beste sein, aber nicht der Schulmeister, sondern der Dichter mufs sie wählen.

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Als freier Dichter stellte sich Goethe auch der Lehre von den drei Einheiten im Drama gegenüber, welche Lehre zu seiner Zeit noch eine gewisse Tyrannei ausübte; auch von ihr hat er uns befreien helfen. Wohl hat es seinen guten Grund, dafs man von einem Theaterstück Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung wünscht, und wo der Dichter es kann, soll er diesem Wunsche folgen, wie Goethe im ,Tasso' und in der ,Iphigenie' es that. Aber wo es den Dichter lind sein Werk zu schwer belastet, da soll man sich nicht bedenken, das Gesetz über Bord zu werfen. Man soll ja nicht den Wortlaut solcher Gesetze heilig halten, sondern nach Sinn und Grund fragen.

 „Das Fafssliche ist der Grund, und die drei Einheiten sind nur insofern gut, als dieses durch sie er- reicht wird. Sind sie aber dem Fafslichen hinderlich, so ist es immer unverständig, sie als Gesetz betrachten und befolgen zu wollen. Selbst die Griechen, von denen diese Regel ausging, haben sie nicht immer befolgt; im ,Phaethon' des Euripides und in andern Stücken wechselt der Ort, und man sieht also, dafs die gute Darstellung ihres Gegenstandes ihnen mehr galt als der blinde Respekt vor einem Gesetz, das an sich nie viel zu bedeuten hatte. Die Shakespeareschen Stücke gehen über die Einheit der Zeit und des Orts so weit hinaus als nur möglich, aber sie sind fafslich; es ist nichts fafslicher als sie, und deshalb würden auch die Griechen sie untadelig finden. Die französischen Dichter haben dem Gesetz der drei Einheiten am strengsten Folge zu leisten gesucht, aber sie sündigen gegen das Fafsliche, indem sie ein dramatisches Gesetz nicht dramatisch lösen, sondern durch Erzählung."

Übrigens unterschied Goethe zwischen Drama und Theaterstück und erklärte dann, Shakespeare habe keine Theaterstücke verfafst. Das Drama ist nämlich an sich nichts weiter als ,,ein Gespräch in Handlungen, wenn es auch nur vor der Einbildungskraft geführt würde"; es kann also recht gut von einem Einzelnen oder Mehreren vorgelesen werden. Ein Theaterstück dagegen entsteht erst, wenn das Drama „den Sinn des Auges mit beschäftigt", wenn es den Bedingungen der Sühne angepafst ist. Shakespeare kümmerte sich aber um die theatralische Form ebenso wenig wie Goethe, als er den ,Götz' dichtete. Shakespeare war kein Theaterdichter, obwohl er Schauspieler war, obwohl er selber einem Theater vorstand und seine Stücke für dieses Theater bestimmte. Diese Widersprüche lösen sich, sobald man sich erinnert, dafs Shakespeares Bühne etwas ganz anderes war als unsere heutige, die in der bekannten raffinierten Weise mit der Wirklichkeit wetteifert. Zu Shakespeares Zeiten rief kein Theaterdirektor den Dichtern zu, dafs sie ,, Prospekte nicht und nicht Maschinen" schonen sollten; niemand ermunterte sie:

,, Gebraucht das grofs' und kleine Himmelslicht, 
Die Sterne dürfet ihr verschwenden; 
An Wasser, Feuer, Felsenwänden, 
An Tier und Vögeln fehlt es nicht!" 

Shakespeares Stücke waren vielmehr „höchst interessante Märchen, nur von mehreren Personen erzählt, die sich, um etwas mehr Eindruck zu machen, charakteristisch maskiert hatten, sich, wie es not that, hin und her bewegten, kamen und gingen, dem Zuschauer jedoch überliefsen, sich auf der öden Bühne nach Beheben Paradies und Paläste zu imaginieren". Für die moderne Bühne aus diesen Dramen Theaterstücke zu machen, kann man versuchen, und Goethe hat sich auch sehr darum bemüht; ohne grofse Schwierigkeiten wird es nie abgehen. Hätte Shakespeare für den Hof zu Madrid oder für das Theater Ludwigs des Vierzehnten geschrieben, wie seine grofsen Rivalen Calderon und Moliere, so hätte er sich auch wahrscheinlich einer strengeren Theaterform gefügt „Doch dies ist keineswegs zu beklagen, denn was Shakespeare als Theaterdichter für uns verloren hat, das hat er als Dichter im allgemeinen gewonnen."

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So kühl-praktisch wie zu dem Gesetz der drei Einheiten, verhielt sich Goethe gegen die ganze säuberlich ausgearbeitete Poetik, wie sie besonders in Frankreich aus antiken Überlieferungen und neuen Vernünfteleien zusammengestellt war. Dort hatte sich ,,die immer anstrebende und zu Ludwigs des Vierzehnten Zeiten zur Reife gedeihende Verstandeskultur immerfort bemüht, alle Dicht- und Sprecharten genau zu sondern, und zwar so, dafs man nicht etwa von der Form, sondern vom Stoff ausging und gewisse Vorstellungen, Gedanken, Ausdrucksweisen, Worte aus der Tragödie, der Komödie,, der Ode hinauswies und andere dafür, als besonders geeignet, in jenen besondern Kreis aufnahm und für ihn bestimmte. Man behandelte die verschiedenen Dichtungsarten wie Sozietäten, in denen auch ein besonderes Betragen schicklich ist. Anders benehmen sich Männer, wenn sie allein unter sich, anders, wenn sie mit Frauen zusammen sind, und wieder anders wird sich dieselbe Gesellschaft betragen, wenn ein Vornehmer unter sie tritt, dem sie Ehrfurcht zu bezeigen Ursache haben. Der Franzose scheut sich auch keineswegs, bei Urteilen über Produkte des Geistes von Convenancen zu sprechen, ein Wort, das eigentlich nur für die Schicklichkeiten der Sozietät gelten kann. Man sollte darüber nicht mit ,ihm rechten, sondern einzusehen trachten, inwiefern er recht hat. Man kann sich freuen, dafs eine so geistreiche und weltkluge Nation dieses Experiment zu machen genötigt war, es fortzusetzen genötigt ist.

„Aber im höhern Sinne kommt doch alles darauf an welchen Kreis das Genie sich bezeichnet, in welchem es wirken, was es für Elemente zusammenfafst, aus denen es bilden will. Hierzu wird es teils durch innern Trieb und eigene Überzeugung bestimmt, teils auch durch die Nation, durch das Jahrhundert, für welche gearbeitet werden soll. Hier trifft das Genie freilich nur allein den rechten Punkt, sobald es Werke hervorbringt, die ihm Ehre machen, seine Mitwelt erfreuen und zugleich weiter fördern. Denn, indem es seinen weitern Lichtkreis in dem Brennpunkt seiner Nation zusammendrängen möchte, so weifs es alle innern und äufsern Vorteile zu benutzen und zugleich die geniefsende Menge zu befriedigen, ja zu überfüllen. Man gedenke Shakespeares und Calderons ! Vor dem höchsten ästhetischen Richterstuhle bestehen sie untadelig, und wenn irgend ein verständiger Sonderer wegen gewisser Stellen hartnäckig gegen sie klagen sollte, so würden sie ein Bild jener Nation, jener Zeit, für welche sie gearbeitet, lächelnd vorweisen und nicht etwa dadurch blofs Nachsicht erwerben, sondern deshalb, weil sie sich so glücklich bequemen konnten, neue Lorbeeren verdienen. „Die Absonderung der Dicht- und Redearten liegt in der Natur der Dicht- und Redekunst selbst; aber nur der Künstler darf und kann die Scheidung unternehmen, die er auch unternimmt, denn er ist meist glücklich genug zu fühlen, was in diesen oder jenen Kreis gehört. Der Geschmack ist dem Genie angeboren wenn er gleich nicht bei jedem zur vollkommenen Ausbildung gelangt. Daher wäre freilich zu wünschen, dafs die Nation Geschmack hätte, damit sich nicht jeder Einzelne notdürftig auszubilden brauchte. Doch leider ist der Geschmack der nicht hervorbringenden Naturen verneinend, beengend, ausschliefsend und nimmt zuletzt der hervorbringenden Klasse Kraft und Leben."

Ziehen wir aus allem Gesagten die Summe, so sehen wir, dafs Goethe die wunderbare Gewalt der Form anerkennt und damit bestätigt, dafs von dem Ergreifen der richtigen Form das Gelingen eines Kunstwerkes bestimmt wird; aber er lehnt sich gegen die Gesetzgebung auf, die den schweifenden Dichter auf vorgeschriebene Fahr- und Fufswege beschränken will und ihm durch angehäufte Warnungstafeln Aussicht und Stimmung verdirbt. Er sieht aber namentlich auch in der überfeinerten Form die Gefahr, dafs der Gehalt der Kunstwerke darunter leidet. „Es ist eine Tradition: Dädalus, der erste Plastiker, habe die Erfindung der Drehscheibe des Töpfers beneidet. Von Neid möchte wohl nichts vorgekommen sein; aber der grofse Mann hat wahrscheinlich vorempfunden, dafs die Technik zuletzt in der Kunst verderblich werden müsse. " In , Kunst und Altertum' heifst es bestimmter : „Die Technik im Bündnis mit dem Abgeschmackten ist die fürchterlichste Feindin der Kunst".

Vorhin sahen wir den Unterschied der altenglischen und der modernen Bühne; auch Goethe erlebte grofsartige Leistungen der Maschinenmeister und Bühnenmaler. Einmal fragte er einen jungen Musiker, welchen Eindruck die ,Deodata' von Kotzebue auf ihn gemacht habe.' Dieser wufste nichts zu antworten, denn da ihn die Handlung von vornherein nicht gefesselt hatte, so war seine ganze Aufmerksamkeit auf die Scenerie gerichtet gewesen. Er hatte einen vollkommenen Panoramengenufs gehabt. Eine Mondscheinscene im Walde war von einer Schönheit, dafs der junge Zuschauer über der Freude am Bilde alles Andere vergafs ; die Eroberung und Verbrennung einer Burg bot die prächtigsten Gemälde. Aber den Inhalt des Schauspiels konnte er freilich nicht erzählen.

,,Ich finde das sehr natürlich," antwortete Goethe, „aber auch sehr bedauerlich. Die guten Leute bedenken nicht, wohin die übermäfsige äufsere Pracht zuletzt unausbleiblich führen mufs; das Interesse für den In- halt wird geschwächt und das Interesse für den äufseren Sinn an dessen Stelle gesetzt. Doch es wird sicherlich auch wieder eine Reaktion eintreten . . . Erst müssen die Dekorationsmaler und Maschinisten dem Publikum nichts Neues mehr bieten können, das Publikum von dem Prunk bis zum Ekel übersättigt sein, dann wird man zur Besinnung kommen und das jetzt zurückgedrängte Echte wieder hervorgeholt, auch gutes Neues hinzugeschaffen werden." schon

Wie hier bei dem Stücke Kotzebues die Ausstattung mehr wert war als das Drama, so leidet stets die wahre Kunst, wenn die Technik allzuweit verfeinert und die äufsere Form mehr beachtet wird als der innere Gehalt. Goethe hafste allen schlechten Luxus. Z. B. klagte er über den unsinnigen Bücherluxus in England: „Ein botanisches Werk, blofs von Tannen handelnd, kostet achtzig Guineen!" „Wie ganz anders mufs zu Eycks Zeit das Kunstleben und die Kunstliebe geblüht haben! Jetzt verschlingt der schlechte Luxus alles !" Goethe litt deshalb auch keinen Prunk um sich; er wufste ja, dafs jedes Werk diejenige Stimmung wieder erweckt, aus der es hervorgegangen ist; der schlechte Luxus geht aber schliefslich auf Menschen zurück, deren Leben ohne Arbeit und ohne Inhalt unnütz verläuft, und selbst auf den fleifsigen Goethe wirkte deshalb dieser Luxus erschlaffend, Gedanken und Arbeitslust ertötend.


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