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2019-11-26

Wilhelm Bode- Goethes Ästhetik- Die neun Musen. (Seite 1)



Die neun Musen. 

Mit vier Worten hat Goethe die wunderbare Thätigkeit des Poeten nach ihrer Herkunft bezeichnet: „Dichten ist ein Übermut." Das letzte Wort aber bedeutet hier: ein erhobenes, gesteigertes Gemüt, es ist ebenso wie das jetzt so modische Wort,,Übermensch" gebildet, das auch Goethen schon geläufig war. Was mit gesteigertem Gemüt geschrieben wird, wird auch poetisch. Zu Goethes Zeit war man noch nicht gewöhnt, in der Bibel etwas Anderes als lehrhafte Prosa zu vermuten; er dagegen urteilte: „Ein grofser Teil des Alten Testaments ist mit erhöhter Gesinnung, ist enthusiastisch geschrieben und gehört dem Felde der Dichtkunst an." Auf der anderen Seite ist demnach der Dichter ein Mensch, dessen Gemüt die Grenzen des Gewöhnlichen, des Philisterhaften überflutet und in hohen Wogen geht. Solche Wogen scheinen zwar sieglos gegen die harten Klippen der Realität anzukämpfen, aber der Kampf ist doch nicht ganz umsonst:

„Die Flut der Leidenschaft, sie stürmt vergebens
Ans unbezwung'ne feste Land :
Sie wirft poetische Perlen an den Strand,
Und das ist schon Gewinn des Lebens.'

Wenn Goethe nach homerischer Art ein ständiges zierendes Beiwort für den Poeten anwendet, da sagt er: der aufgeregte Dichter. „Unaufhaltsame Natur, unüberwindliche Neigung, drängende Leidenschaft" nennt er in einem Briefe ,, Haupterfordernisse der wahren Poesie".

Aber auch der Dichter ist nicht immer aufgeregt, er ist nicht immer Dichter. Auch der Berufenste vermag sich manche Tage und Wochen lang nicht über die Prosa zu erheben. Zu Riemer sagte Goethe einmal: „Sollen, Wollen und Können, diese drei Dinge gehören in aller Kunst zusammen, damit etwas gemacht werde. Häufig findet sich im Leben nur eins von diesen Dingen, oder nur zwei, und dann wird nichts oder Unzulängliches geschaffen." Vom Dichten-Sollen oder -Müssen sprachen wir schon, vom Dichten-Wollen braucht nicht geredet zu werden, denn daran hat die Welt grofsen Überflufs; das Dichten-Können hat zwei ganz verschiedene Voraussetzungen: das Aufgelegtsein oder Aufgeregtsein und die nötige Ausbildung.

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Es ist eine allgemeinste Erfahrung, dafs die Liebe zum Dichter macht; Lieben und Dichten sind sehr nahe verwandte Dinge. Zuerst ist die Geliebte Anregerin unserer schaffenden Phantasie, sehr rasch aber schwebt sie, verklärt von unserer Dichterglut, als erhöhtes Geschöpf unserer Phantasie vor uns auf. Durch die Liebe wird der nüchternste Philister zuweilen zum Poeten; wer aber zum Künstler geboren ist, der sprengt unter ihrem Sonnenschein alle Fesseln des Winters:

 ,,Wer will mir wehren, zu singen 
Nach Lust zum Himmel hinan, 
Den Wolken zu vertrauen, 
Wie lieb sie's mir angethan?

Goethe erzählt uns in einem bekannten Gedichte wie Hans Sachs zum Dichter wurde. Nach sechs Tagen Schusterarbeit sitzt er am Sonntagmorgen in seinem Stübchen. Und

,,Wie er die Frühlingsonne spürt. 
Die Ruh ihm neue Arbeit gebiert: 
Er fühlt, dafs er eine kleine Welt 
In seinem Gehirne brütend hält, 
Dafs die fängt an zu wirken und zu leben, 
Dafs er sie gerne möcht' von sich geben." 

Aber Frühlingssonne und Sonntagsruhe lösen seine Seele noch nicht ganz; als die Muse zu ihm tritt „wie ein Bild unsrer lieben Frauen" und ihn zum Dichter weiht :

,,Ein heilig Feuer, das in dir ruht, 
Schlag aus in hohe, lichte Glut!" 

da fügt sie hinzu:

,,Doch dafs das Leben, das dich treibt 
Immer bei holden Kräften bleibt, 
Hab ich deinem Innern Wesen 
Nahrung und Balsam auserlesen, 
Dafs deine Seel' sei wonnereich. 
Einer Knospe im Taue gleich.

Da zeigt sie ihm hinter seinem Haus 
Heimlich zur Hinterthür hinaus 
In dem eng umzäunten Garten 
Ein holdes Mägdlein sitzend warten 
Am Bächlein beim Hollunderstrauch ; 
Mit abgesenktem Haupt und Aug 
Sitzt's unter einem Apfelbaum 
Und spürt die Welt rings um sich kaum, 
Hat Rosen in ihren Schofs gepflückt 
Und bindet ein Kränzlein sehr geschickt, 
Mit hellen Knospen und Blättern drein: 
Für wen mag wohl das Kränzel sein?" 

Dafs auch Goethes Gedichte und sonstige poetische Werke sehr oft durch die Sonne der Liebe hervor- gelockt sind, wissen wir. Die Welt sieht eben ganz anders aus, wenn wir sie mit verliebten Augen betrachten.

Da steht ein Maler und schaut stumpf in den grauen Nebel hinaus: Wer kann da etwas malen?! Nun aber stellt sich ein geflügelter Knabe neben ihn und spricht ihm zu:

 ,,Hast du denn zum Malen oder Bilden 
Alle Lust auf ewig wohl verloren? 
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Sieh, ich will dir gleich ein Bildchen malen, 
Dich ein hübsches Bildchen malen lehren." 

Und nun zerteilt sich der Nebel, die sonnigste Flur breitet sich vor dem Maler aus, und mitten darin bewegt sich das allerliebste Mädchen. Auch dieses Gleichnis entflofs einem Erlebnisse des Dichters. In dem Badeörtchen Castel Gandolfo, wo er im Oktober 1787 einige Wochen

verbrachte, hatte es eine schöne Mailänderin ihm angethan, und kaum war er sich der neuen Zuneigung bewufst, da bemerkte er auch, wie die Landschaft, die er damals als Maler fleifsig beobachtete, sich wunderlich veränderte. ,,Ich schweifte mit meinem Blick in die Runde, aber es ging vor meinen Augen etwas Anderes vor als das landschaftlich Malerische; es hatte sich ein Ton über die Gegend gezogen, der weder dem Unter- gang der Sonne, noch den Lüften des Abends allein zuzuschreiben war. Die glühende Beleuchtung der hohen Stellen, die kühlende blaue Beschattung der Tiefe schien herrlicher als jemals in Öl oder Aquarell; ich konnte nicht genug hinsehen." Scherzhaft hat Goethe diese Wunderkraft der Liebe in der Paramythie .Amor und Psyche' noch einmal gezeigt:

,,Den Musenschwestern fiel es ein, 
Auch Psychen in der Kunst zu dichten 
Methodice zu unterrichten; 
Das Seelchen blieb prosaisch rein. 

Nicht sonderlich erklang die Leier,
Selbst in der schönsten Sommernacht.
Doch Amor kommt mit Blick und Feuer :
Der ganze Kursus war vollbracht!"

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Wir machen keinen grofsen Schritt, wenn wir nach der Liebe die Jugend nennen. ,,Jugend ist Trunkenheit ohne Wein," und gerade solche Trunkenheit ohne Wein macht uns zu Dichtern. Als einmal von Napoleon die Rede war, meinte Eckermann, dafs er eigentlich doch nur so lange ein Genie gewesen sei, als er noch jung und in aufsteigender Kraft war; in späteren Jahren hatte er weder Glück noch Stern.

„Was wollt Ihr!" erwiderte Goethe. „Ich habe auch meine Liebeslieder und meinen .Werther' nicht zum zweitenmal gemacht. Jene göttliche Erleuchtung, wodurch das Aufserordentliche entsteht, werden wir immer mit der Jugend und der Produktivität im Bunde finden."

Es war damals die Zeit, wo Goethe den ,Faust' vollendete, und so lag es Eckermann nahe, Goethe und einige seiner Freunde, zum Beispiel Knebel, den ,,jungen Mann von 83 Jahren", als Beweise zu nennen, dafs doch die produktive Kraft nicht an die Jugend gebunden zu sein scheine. Goethe meinte, solche Greise seien ganz besondere Naturen, sie erlebten gleichsam eine wiederholte Pubertät, während andere Leute nur einmal jung sind. Ihre Seele sei so mächtig, dafs sie Gewalt über den Körper habe; bei ihrer belebenden Durchdringung des Körpers stärke und verjünge sie dessen Organe.

,,Aber jung ist jung, und wie mächtig auch eine Entelechie sich erweise, sie wird doch über das Körperliche nie ganz Herr werden, und es ist ein gewaltiger Unterschied, ob sie an ihm einen Alliierten oder einen Gegner findet. ,,Ich hatte in meinem Leben eine Zeit, wo ich täglich einen gedruckten Bogen von mir fordern konnte, und es gelang mir mit Leichtigkeit. Meine , Geschwister' habe ich in drei Tagen geschrieben, meinen ,Clavigo', wie Sie wissen, in acht. Jetzt soll ich dergleichen wohl bleiben lassen und doch kann ich über Mangel an Produktivität selbst in meinem hohen Alter mich keineswegs beklagen. Was mir aber in meinen jungen Jahren täglich und unter allen Umständen gelang, gelingt mir jetzt nur periodenweise und unter gewissen günstigen Bedingungen. Als mich vor zehn, zwölf Jahren, in der glücklichen Zeit nach dem Befreiungskriege, die Gedichte des Divan' in ihrer Gewalt hatten, war ich produktiv genug, um oft in einem Tage zwei bis drei zu machen, und auf freiem Felde, im Wagen oder im Gasthof, es war mir alles gleich. Jetzt, am zweiten Teil meines Faust' kann ich nur in den frühen Stunden des Tags arbeiten, wo ich mich vom Schlaf erquickt und gestärkt fühle und die Fratzen des täglichen Lebens mich noch nicht verwirrt haben. Und doch, was ist es, das ich ausführe! Im allerglücklichsten Falle eine geschriebene Seite, in der Regel aber nur so viel, als man auf den Raum einer Handbreit schreiben könnte, und oft, bei unproduktiver Stimmung, noch weniger."

Besonders versteht man, dafs dem Dichter das, was der Jugend, also dem dankbarsten Publikum, behagt, am besten gelingt, wenn er selbst noch jung ist. Der kluge Theaterdirektor verlangt ein Stück, in dem recht viel geschieht, das die mannigfaltigsten Gefühle aufregt, das besonders die Jugend ergreift. Da seufzt der alternde Dichter auf:

,,So gieb mir auch die Zeiten wieder, 
Da ich noch selbst im Werden war, 
Da sich ein Quell gedrängter 
Lieder Ununterbrochen neu gebar,
Da Nebel mir die Welt verhüllten, 
Die Knospe Wunder noch versprach, 
Da ich die tausend Blumen brach. 
Die alle Thäler reichlich füllten! 
Ich hatte nichts und doch genug, 
Den Drang nach Wahrheit und die Lust am Trug! 
Gieb ungebändigt jene Triebe, 
Das tiefe, schmerzenvolle Glück, 
Des Hasses Kraft, die Macht der Liebe, 
Gieb meine Jugend mir zurück!"

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Als dritte Muse verdient neben der Liebe und der Jugend die Einsamkeit gerühmt zu werden.

,,Mit Andern kann man sich belehren. 
Begeistert wird man nur allein," 

heifst es in den , chinesisch-deutschen Jahr- und Tageszeiten';

,,0 sprich mir nicht von jener bunten Menge, 
Bei deren Anblick uns der Geist entflieht!" 

ruft der Dichter im Vorspiel zum ,Faust aus, und in dem Mummenschanz, dem wir im zweiten Teil belustigt zuschauen, entläfst Plutus, der Gott des Reichtums, den Knaben Lenker, also den Poeten, ,,der sich vollendet, wenn er sein eigenst Gut verschwendet," mit den Worten :

,,Bist frank und frei; nun frisch zu deiner Sphäre!
Hier ist sie nicht! Verworren, schäckig, wild,
Umdrängt uns hier ein fratzenhaft Gebild.
Nur wo du klar ins holde Klare schau'st,
Dir angehörst und dir allein vertrau'st.
Dorthin, wo Schönes, Gutes nur gefällt.
Zur Einsamkeit! Da schaffe deine Welt!"

Schon als junger Mann erfuhr Goethe, „dafs sich etwas Bedeutendes nur produzieren lasse, wenn man sich isoliere". Von der Zeit um 1774 erzählt er selber: ,, Meine Sachen, die so viel Beifall gefunden hatten, waren Kinder der Einsamkeit, und seitdem ich zu der Welt in einem breiten Verhältnis stand, fehlte es nicht an Kraft und Lust der Erfindung, aber die Ausführung stockte." So zollte er aus eigener Erfahrung jenem Franzosen Beifall, der die Bemerkung machte: wenn ein guter Kopf durch ein verdienstliches Werk die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gezogen habe, so thue man sein Möglichstes, um zu verhindern, dafs er jemals dergleichen wieder hervorbringe. ,,Es ist so wahr: irgend etwas Gutes, Geistreiches wird in stiller, abgesonderter Jugend hervorgebracht, der Beifall wird erworben, aber die Unabhängigkeit verloren; man zerrt das konzentrierte Talent in die Zerstreuung, weil man denkt, man könne von seiner Persönlichkeit etwas abzupfen und sich zueignen."

Diese Einsamkeit, die der Künstler so nötig braucht, hat Goethe in Weimar noch viel mehr entbehren müssen als vorher in Frankfurt, nämlich damals, als ihn in seinen besten Jahren das Vertrauen seines Freundes und Herrn zum hohen Staatsbeamten gemacht hatte, als es nun seine Pflicht war, dieses Zutrauen, das anfangs Vielen thöricht schien, zu rechtfertigen. Wehmütig sprach er später von dieser Zeit: ,,Mein eigentliches Glück war mein poetisches Sinnen und Schaffen. Allein wie sehr war dieses durch meine äufsere Stellung gestört, beschränkt und gehindert! Hätte ich mich mehr vom öffentlichen und geschäftlichen Wirken und Treiben zurückhalten und mehr in der Einsamkeit leben können, ich wäre glücklicher gewesen und würde als Dichter weit mehr gemacht haben. So aber sollte sich bald nach meinem ,Götz' und ,Werther' an mir das Wort eines Weisen bewähren, welcher sagte : wenn man der Welt etwas zu Liebe gethan habe, so wisse sie dafür zu sorgen, dafs man es nicht zum zweitenmal thue."

Als Schiller sich einmal mit dem Bauen einliefs, warnte ihn der erfahrene Freund. ,,Ich kenne leider aus früheren Zeiten diese wunderbare Ableitung nur allzusehr und habe unglaublich viel Zeit dadurch verloren . . . Eigentlich sollte man mit uns Poeten verfahren, wie die Herzöge von Sachsen mit Luthern, uns auf der Strafse wegnehmen und auf ein Bergschlofs sperren."

Goethe handelte nach dieser Meinung; er liefs sich nicht gerade auf die Wartburg bringen, aber er fuhr nach Jena, wo ihn nur ein Teil der Geschäfte erreichen konnte, und suchte sich da ein ruhiges Plätzchen. Und wenn er dort wieder in den grofsen Zimmern des herzoglichen Schlosses, wo er oft Wohnung nahm, hin- und herschritt, so konnte er auch allsogleich über die altherkömmliche Stimmung wieder gebieten. ,,Es mufs nun wieder an die Arbeit gehen," scherzt er einmal gegen Schiller, ,,und dazu mufs ich mich auf das alte Jenaische Kanapee, wie auf einen Dreifufs, begeben." Vor Schaffensfreude merkte er es dann gar nicht erst, dafs die feuchten kalten Räume seiner Gesundheit weniger dienlich waren als seiner poetischen Produktion.

Ein andermal meint er: „Meyern werde ich wohl nicht mitbringen (nach Jena nämlich), denn ich habe die Erfahrung wieder erneuert,, dafs ich nur in einer absoluten Einsamkeit arbeiten kann, und dafs nicht etwa nur das Gespräch, sondern sogar schon die häusliche Gegenwart geliebter und geschätzter Personen meine poetischen Quellen gänzlich ableitet." Deshalb durfte auch Christiane nur zu seltenen Feiertagen nach Jena kommen, und deshalb verhärtete er sich gegen ihre Bitten, doch bald heimzukehren, und gegen ihre Versprechungen, dafs sie und der kleine August ihn auch gar nicht stören wollten.

Ein andermal, als Goethe des Hofes wegen nicht nach Jena sich zurückziehen durfte und nur ins Gartenhaus zog, mufste Christiane mit dem ,,Gustell" nach Jena übersiedeln, „denn dabei bleibt es nun einmal, dafs ich ohne absolute Einsamkeit nicht das Mindeste hervorbringen kann."

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Vor den Eindrücken der Aufsenwelt schützen wir uns, wenn wir ihr nicht ganz entfliehen können oder wollen durch Konzentration, durch ein willenskräftiges Versammeln unserer Geisteskräfte vor der gesetzten Aufgabe. Ein gewöhnlicher Ausdruck der Sammlung bestand bei Goethe darin, dafs er keine Zeitungen und sonstigen Journale las; trotz allen Anteils, den er sonst an politischen und wissenschaftlichen Neuigkeiten nahm, schlofs er sich wochen- oder monatelang gleichsam in seiner Festung ein, alle Zugbrücken aufziehend. An seiner ,klassischen Walpurgisnacht' arbeitete er, als in Paris die Juli-Revolution sich ankündete. Da gab er die französischen Zeitungen auf, die er sonst gern las. „Ich sehe," sagte er am 6. März 1830, ,,es bereiten sich in Paris grofse Dinge vor; wir sind am Vorabend einer grofsen Explosion. Da ich aber darauf keinen Einflufs habe, so will ich es ruhig abwarten, ohne mich von dem spannenden Gange des Dramas unnützerweise täglich aufregen zu lassen. Ich lese jetzt so wenig den ,Globe' als den ,Temps, und meine Walpurgisnacht' rückt dabei gar nicht schlecht vorwärts." Er meinte auch, dafs Shakespeare kein so grofser Dichter geworden wäre, wenn er durch die heutige Flut von kritisierenden und zersplitternden Journalen hätte schwimmen müssen.

,,Jenes ungestörte, unschuldige, nachtwandlerische Schaffen, wodurch allein etwas Grofses gedeihen kann, ist gar nicht mehr möglich. Unsere jetzigen Talente liegen alle auf dem Präsentierteller der Öffentlichkeit. Die täglich an fünfzig verschiedenen Orten erscheinenden kritischen Blätter und der dadurch im Publikum bewirkte Klatsch lassen nichts Gesundes aufkommen.. Wer sich heutzutage nicht ganz davon zurückhält und sich nicht mit Gewalt isoliert ist verloren. Es kommt zwar durch das schlechte, gröfstenteils negative ästhetisierende und kritisierende Zeitungswesen eine Art Halbkultur in die Massen, allein dem hervorbringenden Talent ist es ein böser Nebel, ein fallendes Gift, das den Baum seiner Schöpfungskraft zerstört vom grünen Schmuck der Blätter bis in das tiefste Mark und die verborgenste Faser."

Viel zuträglicher als solche Zerstreuung ist die — Langeweile. Auch ihr Lob hat Goethe halb im Scherz, halb im Ernst dankbar gesungen :

„Alle neun, sie winkten mir oft, ich meine die Musen; 
Doch ich achtet' es nicht, hatte das Mädchen im Schofs. 
Nun verliefs ich mein Liebchen ; mich haben die Musen verlassen 
Und ich schielte verwirrt, suchte nach Messer und Strick. 
Doch von Göttern ist voll der Olymp ; du kamst, mich zu retten,. 
Langeweile! du bist, Mutter der Musen, gegrüfst!'

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„Wer sich der Einsamkeit ergiebt, ach ! der ist bald allein!" Die beständige Einsamkeit wäre namentlich auch für den Dichter eine grofse Gefahr, denn er bedarf der Anregung durch Freunde oder Feinde, durch Erlebnisse oder äufsere Anlässe. Die Menge stört den Künstler, gleichstrebende Freunde, verständige Zuhörer reizen ihn an. Es war nicht Goethes Art, wie Schiller seine Pläne mit Andern nach allen Seiten hin durchzusprechen, er hatte vielmehr den Glauben — er selber nennt ihn einen Aberglauben — dafs man unvollendete Sachen nicht bekannt geben solle, und namenthch hielt er es für einen Fehler, von einem Stoffe abzulassen, dem die Freunde nichts abgewinnen konnten, denn ,,der Dichter allein kann wissen, was in einem Gegenstande liegt, und was er für Reiz und Anmut bei der Ausführung daraus entwickeln könne. "Goethe bekannte: „Hätte Schiller mich vor seinem ,Wallenstein' gefragt, ob er ihn schreiben solle, ich hätte ihm sicherlich abgeraten, denn ich hätte nie denken können, dafs aus solchem Gegenstande überall ein so treffliches Theaterstück wäre zu machen gewesen." Aber Goethe wurde doch aufserordentlich dadurch gefördert, dafs Andere von ihm etwas verlangten. Als einmal der Drucker weiteres Manuskript begehrte, bekennt er: ,,Wunderlich genug, dafs man zu den freiesten Handlungen doch einige Nötigung erwartet, ja fordert",'  und später half es ihm sogar zur Vollendung eines Romans, dafs er zwischen die fertigen Teile blaue Blätter legte, die das noch Auszufüllende deutlich markierten : nun fühlte er sich stärker gereizt, die leeren blauen Blätter durch beschriebene weifse zu verdrängen. Bekanntlich hatte Schiller das grofse Verdienst, Goethes träger fliefsende Produktionslust neu belebt zu haben. Von seinen Balladen sagte Goethe einmal im Alter, dafs er sie gröfstenteils Schillern verdanke, der immer etwas Neues für die ,Horen' brauchte. „Ich hatte sie alle schon seit vielen Jahren im Kopf, sie beschäftigten meinen Geist als anmutige Bilder, als schöne Träume, die kamen und gingen und womit die Phantasie mich spielend beglückte. — Ich entschlofs mich ungern dazu, diesen mir seit so lange befreundeten^ glänzenden Erscheinungen ein Lebewohl zu sagen, indem ich ihnen durch das ungenügende dürftige Wort einen Körper verlieh. Als sie auf dem Papiere standen, betrachtete ich sie mit einem Gemisch von Wehmut; es war mir, als sollte ich mich auf immer von einem geliebten Freunde trennen." Ein andermal gesteht er dem Freunde, es gehe ihm mit dem , Faust' wie mit einem Pulver, das nach seiner Auflösung allmählich zum Bodensatz geworden ist ,,So lange Sie dran rütteln, scheint es sich wieder zu vereinigen; sobald ich wieder für mich bin, setzt es sich nach und nach zu Boden." Bekannt ist ja auch, dafs der bescheidene Eckermann in gewissem Sinne der Urheber des zweiten Teils vom ,Faust' ist, denn ohne sein Zureden und seine beständige, liebende, bewundernde Teilnahme hätte der alte Goethe nicht Mut genug zu einem so umfangreichen Unternehmen gehabt.




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