An Goethe trat oft die Frage heran, welche „Grundidee" er in diesem oder jenem gröfseren Werke habe ausdrücken wollen. Namentlich der ,Faust' beschäftigte die nachdenklichen Köpfe auch schon zu jener Zeit, als nur erst ein Bruchstück des ersten Teiles bekannt war. Als der junge Professor Luden mit dem Dichter an einem Sommermorgen des Jahres 1806 zusammen war, erzählte er ihm, wie er als Student mit seinen Kommilitonen in Göttingen und Berlin darüber disputiert habe. Er gestand, dafs er es schliefslich aufgegeben habe, eine einheitliche Idee im ,Faust' zu suchen, dafs er nun das Einzelne geniefse und dafs er jetzt erst, ohne nach dem Mittelpunkt zu fragen, der Dichtung so recht froh würde.
Damit war der Dichter nicht ganz zufrieden. Das sei doch ein zerhacktes, kleinliches Interesse. Ein höheres Interesse habe doch die Idee des Faust, die Idee, welche den Dichter beseelt habe und welche das Einzelne des Gedichtes zu einem Ganzen verknüpfe, für das Einzelne Gesetz ist und dem Einzelnen seine Bedeutung giebt.
Luden horchte erfreut auf und äufserte listig, über die Grundidee der Dichtung könne freilich der Dichter am besten Auskunft geben. Aber er sollte enttäuscht werden, denn Goethe antwortete: ,,Mit diesem Aufschlufsgeben wäre die ganze Herrlichkeit des Dichters dahin. Der Dichter soll doch nicht sein eigener Erklärer sein und seine Dichtung in alltägliche Prosa fein zerlegen; damit würde er aufhören, Dichter zu sein. Der Dichter stellt seine Schöpfung in die Welt hinaus; es ist Sache des Lesers, des Ästhetikers, des Kritikers, zu untersuchen, was er mit seiner Schöpfung gewollt hat."
Und obwohl das Gespräch über den , Faust' lange dauerte, gelang es Luden nicht, den „Grundgedanken" herauszulocken. Goethe verwahrte sich nur dagegen, dafs er nur so ins Blaue hinein gedichtet und sich nur des Namens ,, Faust" wie einer Schnur bedient habe, um die einzelnen Perlen aufzuziehen und vor der Zerstreuung zu bewahren.
Ein Kunstwerk mufs eine Einheit sein, aber freilich ist damit nicht gesagt, dafs es nur durch eine Grundidee zu einer Einheit werden könne. Der Name „Faust" wäre höchstens eine Perlenschnur, aber der Charakter Faust giebt in seinem Verhältnisse zu Welt und Leben doch schon den Mittelpunkt eines abgerundeten Bildes. Auch nach der Idee des ,Tasso fragte man einmal bei einer Tischgesellschaft in Goethes Hause, ,,Idee?" rief der Dichter aus, ,,dafs ich nicht wüfste ! Ich hatte
das Leben Tassos, ich hatte mein eigenes Leben, und indem ich zwei so wunderliche Figuren mit ihren Eigenheiten zusammenwarf, entstand mir das Bild des Tasso, dem ich als prosaischen Kontrast den Antonio entgegenstellte, wozu es mir nicht an Vorbildern fehlte. Die weiteren Hof-, Lebens- und Liebesverhältnisse waren übrigens in Weimar wie in Ferrara, und ich kann mit Recht von meiner Darstellung sagen: sie ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch."
„Die Deutschen sind übrigens wunderliche Leute!" fuhr er fort. ,,Sie machen sich durch ihre tiefen Gedanken und Ideen, die sie überall suchen und überall hinein- legen, das Leben schwerer als billig. Ei, so habt doch einmal die Courage, euch den Eindrücken hinzugeben, euch ergötzen zu lassen, euch rühren zu lassen, euch erheben zu lassen, ja euch belehren und zu etwas Grofsem entflammen und ermutigen zu lassen; aber denkt nur nicht immer, es wäre alles eitel, wenn es nicht irgend abstrakter Gedanke und Idee wäre."
Ganz ebenso sagte Goethe vom ,Wilhelm Meister', dieses Werk gehöre zu den inkalkulabelsten Produktionen, wozu ihm selbst der Schlüssel fehle, „Man sucht einen Mittelpunkt, und das ist schwer und nicht einmal gut. Ich sollte meinen, ein reiches mannigfaltiges Leben, das unsern Augen vorübergeht, wäre auch an sich etwas ohne ausgesprochene Tendenz, die doch blofs für den Begriff ist. Will man aber dergleichen durchaus, so halte man sich an die Worte Friedrichs, die er am Ende an unsern Helden richtet, indem er sagt : ,Du kommst mir vor wie Saul, der Sohn
Kis, der ausging, seines Vaters Eselinnen zu suchen, und ein Königreich fand.' Hieran halte man sich. Denn im Grunde scheint doch das Ganze nichts Anderes sagen zu wollen, als dafs der Mensch trotz aller Dummheiten und Verwirrungen, von einer höhern Hand geleitet, doch zum glücklichen Ziele gelange."
Aus solchen Äufserungen dürfen wir nicht heraushören, dafs Goethe an poetischen "Werken eine Grundidee, eine beherrschende Lehre oder Tendenz für unerlaubt hielte. Bei einigen seiner Dichtungen, z. B. bei der .Novelle', liegt sie ganz offenkundig zu Tage, bei anderen ging er geradezu von der Idee aus und suchte den Stoff dazu; z. B. wollte er einmal einen Roman schreiben, um zu zeigen, dafs der Welt oft als Egoismus erscheine, was in Wahrheit als Meisterschaft zu erklären sei. Einen ,Mohammed plante er, um seine Beobachtungen an Lavater und Basedow darin niederzulegen, die Beobachtungen nämlich, wie edle Ziele verdorben werden, wenn ihre Verkünder sich der Welt anpassen und niedere Mittel brauchen. Ein andermal dachte er daran, seinen Gedanken über den Dilettantismus eine poetische Form zu geben. Als vollendetes gröfseres Werk, wo er sich bewufst sei, nach einer durchgreifenden Idee gearbeitet zu haben, nannte er 1827 seine ,Wahlverwandtschaften', sonst habe er nur in kleinen Gedichten Ideen dargestellt, z. B. in der Metamorphose der Tiere', ,der Pflanzen' und im ,Vermächtnis' Aber er war selber der Meinung, dafs durch solche leitenden Ideen die Kunstwerke zwar für den Verstand
fafslicher, aber nicht ästhetisch besser würden. Und er wünschte weiterhin klarzustellen, dafs der Künstler nicht eine Art Prediger oder Schulmeister oder Philosoph sei. , Wohl wissen wir, dafs nicht selten in einer Person Poetentum und Prophetentum zusammenfliefsen, aber wie Mohammed heftig beteuerte, er sei Prophet und nicht Poet, so wollte auch Goethe die Unterschiede zwischen beiden scharf betonen. „Beide sind von einem Gott ergriffen und befeuert, der Poet aber vergeudet die ihm verliehene Gabe im Genufs, um Genufs hervorzubringen, Ehre durch das Hervorgebrachte zu erlangen, allenfalls ein bequemes Leben. Alle übrigen Zwecke versäumt er, sucht mannigfaltig zu sein, sich in Gesinnung und Darstellung grenzenlos zu zeigen. Der Prophet hingegen sieht nur auf einen einzigen bestimmten Zweck; solchen zu erlangen bedient er sich der einfachsten Mittel. Irgend eine Lehre will er verkünden und, wie um eine Standarte, durch sie und um sie die Völker versammeln. Hierzu bedarf es nur, dafs die Welt glaube; er mufs also völlig eintönig werden und bleiben; denn das Mannigfaltige glaubt man nicht, man erkennt es."
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Die Kunst ist keine Dienerin fremder Zwecke. Wir lasen eben, dafs die ,Wahlverwandtschaften' nach einer durchgreifenden Idee geschaffen sind, ein andermal sagte der Dichter, als er eben den Roman angefangen hatte, seine Idee sei: soziale Verhältnisse und die Konflikte derselben symbolisch gefafst darzustellen. Aber er hat später kräftig betont, dafs er keinen Zweck damit habe erreichen wollen; er bilde sich nicht ein,, irgend ein hübscher Mann könne dadurch von dem Gelüst, nach eines Andern Weib zu blicken, gereinigt werden. Und Goethe fügte hinzu: ,,Es ist ein grenzenloses Verdienst unseres alten Kant um die Welt, und ich darf auch sagen: um mich, dafs er in seiner ,Kritik der Urteilskraft' Kunst und Natur nebeneinander stellt und beiden das Recht zugesteht, aus grofsen Prinzipien zwecklos zu handeln. So hatte mich Spinoza früher schon in dem Hafs gegen die absurden Endursachen geglaubiget. Natur und Kunst sind zu grofs, um auf Zwecke auszugehen, und haben's auch nicht nötig, denn Bezüge giebt's überall, und Bezüge sind das Leben."
Wir ahnen nun schon, wie Goethe über patriotische religiöse, moralische und sonstige Tendenzdichtung urteilen wird. Der Dichter ist als solcher kein deutscher oder dänischer Patriot, kein liberaler oder konservativer Politiker; sobald sein politischer Glaube ihn stark beherrscht, wird seine Poesie darunter leiden. „Der Dichter wird als Mensch und Bürger sein Vaterland lieben, aber das Vaterland seiner poetischen Kräfte und seines poetischen Wirkens ist das Gute, Edle und Schöne, das an keine besondere Provinz und an kein besonderes Land gebunden ist, und das er ergreift und bildet, wo er es findet. Er ist darin dem Adler gleich, der mit freiem Blick über Ländern schwebt, und dem es gleichviel ist ob der Hase, auf den er herabschiefst, in Preufsen oder in Sachsen läuft.
,,Und was heifst denn: sein Vaterland lieben, und was heifst denn: patriotisch wirken? Wenn ein Dichter lebenslänglich bemüht war, schädliche Vorurteile zu bekämpfen, engherzige Ansichten zu beseitigen, den Geist seines Volkes aufzuklären, dessen Geschmack zu reinigen und dessen Gesinnungs- und Denkweise zu veredeln: was soll er denn da Besseres thun ? Und wie soll er denn da patriotischer wirken ? An einen Dichter so ungehörige und undankbare Anforderungen zu machen, wäre ebenso, als wenn man von einem Regimentschef verlangen wollte, er müsse, um ein rechter Patriot zu sein, sich in politische Neuerungen verflechten und darüber seinen nächsten Beruf vernachlässigen. "
„Es giebt keine patriotische Kunst und keine patriotische Wissenschaft. Beide gehören wie alles hohe Gute der ganzen Welt an."
Viel gefährlicher noch als der allgemeine Patriotismus ist dem Dichter die Parteipoltik. Er steigt da noch tiefer herab von der Höhe, die ihm angewiesen war, und er gerät an das Negieren, Opponieren und Disputieren, die doch das Gegenteil von künstlerischem Gestalten sind. ,, Geben Sie Acht," sagte Goethe wenige Tage vor seinem Tode über Uhland, „der Politiker wird den Poeten aufzehren. Mitglied der Stände sein und in täglichen Reibungen und Aufregungen leben, ist keine Sache für die zarte Natur eines Dichters." Und ein andermal urteilte er von dem englischen Dichter Thomson, sein Gedicht über die Jahreszeiten sei sehr gut, das über die Freiheit dagegen sehr schlecht, und das Letztere erkläre sich nicht aus Mangel an Poesie im Dichter, sondern aus Mangel an Poesie im Gegenstände. „Sowie ein Dichter politisch wirken will, mufs er sich einer Partei hingeben, und sowie er dieses thut, ist er als Poet verloren; er mufs seinem freien Geiste, seinem unbefangenen Überblick Lebewohl sagen und dagegen die Kappe der Borniertheit und des blinden Hasses über die Ohren ziehen."
Deshalb bleibt Goethe dabei: „Der Dichter steht viel zu hoch, als dafs er Partei nehmen sollte."
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Viel schwieriger ist es, Kunst und Religion auseinanderzuhalten. Beide gleichen sich zuerst darin, dafs sie sich an das Innerste im Menschen wenden und einen festtäglichen Charakter haben; viele Leute ziehen daher beide nur bei besonderen Gelegenheiten in ihr Leben hinein. So- dann stellen beide an die Phantasie dieselbe Anforderung : Begriffe und Ideen zu versinnlichen, Symbole und Personifikationen anzunehmen. Sie verlangen beide „Glauben", wenn auch nicht mit dem gleichen Grade von Ernst. Sie können z. B. diejenige Gottheit nicht brauchen, die der kritische Philosoph oder der Naturforscher allenfalls noch gelten läfst; sie schaffen sich einen riesenhaften, aber noch menschenähnlichen, für die Phantasie noch anschaulichen Jehovah, Zeus, Wodan. Und dem Dichter genügt ein einziger Gott so wenig, wie der Glaube damit auszukommen pflegt; er bedarf darüber hinaus noch der Engel und Erzengel, der Teufel und verdammten Geister oder der tausend Wundergestalten der antiken Mythen. „Als Dichter und Künstler bin ich Polytheist," erklärte derselbe Goethe, der als Naturforscher Pantheist war und wir wissen, dafs er im , Faust' von Anfang bis Ende eine ganze Heerschar der verschiedensten Fabelwesen walten liefs. Er beklagte es, dafs die modernen Dichter nicht so bequem wie die antiken mit Göttern, Wahrsagern, Orakeln u. dgl. hantieren können und so wenig Ersatz dafür haben. Er erklärt, dafs dem Poeten selbst der Aberglaube nicht schade, da er ihn oft verwerten könne. Ja, er verteidigt den Aberglauben überhaupt, und wenn Tustus Moser betonte, dafs hinter abergläubischen Vorstellungen oft recht brauchbare Lebensregeln steckten, so hatte Goethe künstlerisches Wohlgefallen daran. „Der Aberglaube ist die Poesie des Lebens; beide erfinden eingebildete Wesen, und zwischen dem Wirklichen, Handgreiflichen ahnen sie die seltsamsten Beziehungen; Sympathie und Antipathie waltet hin und her." Freilich verwendet die Kunst solche Phantasieen nur gelegentlich, spielt nur damit, während der Aberglaube dauernde Fesseln aus ihnen macht.
Bei dieser nahen Verwandtschaft zwischen künstlerischem Schaffen und religiösem Glauben wird es uns nicht Wunder nehmen, wenn beide zur gleichen Zeit gedeihen. Goethe sagte sogar einmal zu Riemer, die Menschen seien in Poesie und Kunst nur so lange produktiv, als sie noch religiös seien; nachher würden sie blofs nachahmend und wiederholend, so wie wir es dem Altertum gegenüber sind. Denn die poetischen
Erfindungen des Altertums seien alle Glaubenssachen gewesen, wir aber wiederholten sie nur als Phantasterei. Aber Goethe verlangte doch auch eine reinliche Scheidung zwischen Religion und Kunst, womit ja eine gelegentliche Verbindung beider nicht ausgeschlossen ist. Er erklärte: ,,Die Religion bedarf keines Kunstsinns, sie ruht auf ihrem eignen Ernst; sie verleiht aber auch keinen, so wenig sie Geschmack giebt." Wir wissen schon, wie ärgerlich ihm jene Auchkünstler waren, die ihre Mängel an künstlerischem Vermögen durch Frömmigkeit zu ersetzen suchten, und ebenso jene Theoretiker, die die Religion zum alleinigen Fundament der Kunst machen wollten und sich gar zu Folgerungen verstiegen wie die : einige Mönche waren Künstler, deshalb sollten alle Künstler Mönche sein! „Die Religion," sagte dagegen Goethe, „steht in demselbigen Verhältnis zur Kunst wie jedes andere höhere Lebensinteresse auch. Sie ist blofs als Stoff zu betrachten, der mit allen übrigen Lebensstoffen gleiche Rechte hat. Auch sind Glaube und Unglaube durchaus nicht diejenigen Organe, mit welchen ein Kunstwerk aufzufassen ist, vielmehr gehören dazu ganz andere menschliche Kräfte und Fähigkeiten. Die Kunst aber soll für diejenigen Organe bilden, mit denen wir sie auffassen; thut sie das nicht, so verfehlt sie ihren Zweck und geht ohne die eigentliche Wirkung an uns vorüber. Ein religiöser Stoff kann indefs gleichfalls ein guter Gegenstand für die Kunst sein, jedoch nur in dem Falle, wenn er allgemein menschlich ist. Deshalb eine Jungfrau mit dem Kinde ein durchaus guter Gegenstand, der hundertmal behandelt worden und immer gern wieder gesehen wird."
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Neben den Frommen präsentieren die Moralisten ihre Forderungen an die Kunst, und auch sie müssen eine freundliche Abweisung erfahren. Der Künster hat das Sinnlich-Höchste darzustellen, nicht das Sittlich- Höchste; das Sinnlich-Schöne kann eine vortreffliche sittliche Beziehung haben und gewinnt dann dadurch, aber es mufs sie nicht haben. Weil die Kunst sehr oft sittliche Probleme behandelt, kommt man leicht zu dem Wunsche, dafs sie in unser moralisches Urteil einstimmen möchte. Das darf aber keine Vorschrift werden, denn die Darstellung des Künstlers hat ,, keinen didaktischen Zweck. Sie billigt nicht, sie tadelt nicht, sondern sie entwickelt die Gesinnungen und Handlungen in ihrer Folge." Wo der Künstler überhaupt belehrend wirkt, darf er es nur unmerkhch thun. Es giebt Kunstwerke, deren eigentlicher Charakter gerade darin liegt, dafs sie den Menschen nicht auf sich selbst zurück, sondern aus sich hinaus ins unbedingte Freie führen. So haben wir in den Märchen, die doch gewifs echteste Poesie sind, blofse Spiele einer leichtfertigen Einbildungskraft, die vom Wirklichen bis zum Unmöglichen hin und wieder schwebt und das Unwahrscheinlichste als etwas Wahrhaftes vorträgt. Nun verlangt freilich der gemäfsigte Moralist nichts dafs jedes Dichterwerk sittliche Lehren predige; er will sich damit begnügen, dafs der Dichter das Sittengesetz, anerkenne und sich ihm unterordne. Goethe antwortet: Anerkennen mufsten die Künstler das Sittengesetz von jeher, deutliche ethische Phänomene wird derjenige nicht leugnen, der die ästhetischen heilig hält. ,,Thäten sie aber das Zweite," d. h. ordneten sie sich den Moralisten und ihren Gesetzen unter, ,,so wären sie verloren, und es wäre besser, dafs man ihnen gleich einen Mühlstein an den Hals hängte und sie ersäufte, als dafs man sie nach und nach ins Nützlich-Platte absterben liefse."
Namentlich verwahrte sich Goethe gegen jene Moralpedanten, die das Sittlich-Verwerfliche gar nicht oder doch nur unter deutlichem Ausdruck der moralischen Entrüstung des Künstlers dargestellt haben wollten. ,,Das Übel macht eine Geschichte und das Gute keine," antwortete er, als von Konfessionen die Rede war," und der Philisterkritik, dafs man in seinen ,Wahlverwandtschaften' keinen Kampf des Sittlichen mit der Neigung sehe, entgegnete er, dafs dieser Kampf hinter der Scene liege, wie man bei einiger Aufmerksamkeit sich sagen müsse, und dafs sich das bei diesem Werke so gehöre. Denn die Personen darin sind vornehme Leute und betragen sich wie solche, sie behaupten bei allem inneren Zwiespalt das äufsere Dekorum.
Wenn man etwa einwarf, dafs solche Darstellung des Unrechten dem Leser schaden, ihn in unerwünschter Weise aufklären könnte, so erwiderte er: „Es müfste schlimm zugehen, wenn ein Buch unmoralischer wirken sollte als das Leben selber, das täglich der skandalösen Scenen im Überflufs, wo nicht vor unsern Augen, doch vor unsern Ohren entwickelt. Selbst bei Kindern braucht man wegen der Wirkungen eines Buches oder Theaterstücks keineswegs so ängstlich zu sein. Das tägliche Leben ist, wie gesagt, lehrreicher als das wirksamste Buch."
Aber doch, war die Antwort, ,, sucht man sich bei Kindern in Acht zu nehmen, dafs man in ihrer Gegenwart nicht Dinge spricht, welche zu hören wir für sie nicht gut halten."
„Das ist recht löblich," erwiderte Goethe, ,,und ich thue es selbst nicht anders; allein ich halte diese Vorsicht durchaus für unnütz. Die Kinder haben, wie die Hunde, einen so scharfen und feinen Geruch, dafs sie alles entdecken und auswittern, und das Schlimme vor allem andern." Dafs jedes Zeitungsblatt der holden Unschuld gefährlicher sei als das Werk eines ernsten Künstlers, hat er auch sonst öfters geäufsert. Er nannte selber Byrons ,Don Juan' das Unsittlichste, was jemals die Dichtkunst hervorgebracht, hielt aber doch eine Übersetzung ins Deutsche für gestattet, ,, indem Dichter und Schriftsteller sich wunderlich gebärden müfsten, um sittenverderberischer zu sein als die Zeitungen des Tages. "
Wir bemerken hier, dafs Goethe namentlich auch das ,, Unsittliche" im engeren Sinne dem Künstler nicht entzogen zu sehen wünschte; die Anspielungen auf geschlechtliche Dinge und sonstige Derbheiten sind eben wirksam und brauchbar, sie waren in der älteren Dichtung die ursprüngliche einzige vis comica, und Goethe konnte sie sich von der Komödie nicht gut entfernt denken. Wenn dergleichen sich für heranwachsende Mädchen nicht eigne, dann wäre es ja auch nicht notwendig, dafs die Backfische solche Stücke besuchten, ,,Was thun unsere jungen Mädchen im Theater?", fragte er, als Eckermann beklagte, dafs man Molieres Stücke nicht in ihrer ganzen Derbheit und Natürlichkeit auf der Bühne zu sehen bekomme. ,,Sie gehören gar nicht hinein, sie gehören ins Kloster, und das Theater ist blofs für Männer und Frauen, die mit menschlichen Dingen bekannt sind. Als Moliere schrieb, waren die Mädchen im Kloster, und er hatte auf sie gar keine Rücksicht zu nehmen." Auch gegen G. v. Reinbeck klagte unser Dichter, dafs das deutsche Publikum zu prüde sei und nicht recht Spafs verstehe. Denn dadurch werde der Bühne ein Gebiet verschlossen, das wenigstens den Genufs gröfserer Mannigfaltigkeit geben könne, und, recht behandelt, könne gerade das Groteskkomische ein Vehikel sein, so manches zur Sprache zu bringen, was in zarterer Behandlung einen zu ernsten Charakter gewinne.
Auch in seinem Aufsatz , Deutsches Theater' beklagt Goethe deutlich, dafs die Freunde des Theaters, dieser „der höheren Sinnlichkeit eigentlich nur gewidmeten Anstalt," sich haben verleiten lassen, der Polizei, den Frommen und den Moralisten gegenüber die Bühne für eine sittliche Volkserziehungsanstalt auszugeben, die dem Staate und der Gesellschaft unmittelbar nutze.' Dadurch werde die alte Gottschedische Mittelmäfsigkeit immer wieder erneuert. Goethe ist denn auch als Theaterdirektor von den Sittlichkeitseiferern belästigt. Als er das Schauspiel ,Ion' aufführen liefs, dessen Verfasser, der ältere Schlegel, in Weimar heftige Gegner hatte, gab es fast einen Skandal. Herders Gattin urteilte:' ,,ein schamloseres, frecheres, sittenverderbenderes Stück ist noch nicht gegeben"; der Gymnasialdirektor Böttiger wollte in Bertuchs ,Journal des Luxus und der Moden' eine sehr scharfe Kritik veröffentlichen, und Goethe konnte sie nur durch die Drohung verhindern, dafs er bei ihrem Erscheinen die Direktion des Theaters niederlegen würde. Bald darauf wurden seine , Mitschuldigen' aufgeführt, und da er einer Krankheit wegen nicht dabei war, liefs er sich von Schiller berichten. ,,Es ist zwar hie und da etwas Anstöfsiges gewesen," schrieb dieser, ,,aber die gute Laune, in die das Stück versetzt, hat diese Decenzrücksichten nicht aufkommen lassen." Goethe aber nahm sich vor, ,,das, was allenfalls noch zu direkt gegen die Decenz geht", zu müdern und zu vertuschen. Und ein paar Tage später liefs er sich von dem Freunde, der sich auf die Forderungen des Publikums besser verstand, über ,Rameaus Neffe' beraten. ,,Im Punkte der Decenz wufste ich nicht viel zu erinnern," antwortete Schiller. ,, Allenfalls könnte man sich bei den unanständigen Worten mit den Anfangsbuchstaben begnügen und dadurch dem Wohlstand seine Verbeugung machen, ohne die Sache aufzuopfern." Goethe konnte aber auch sehr verdriefslich werden, wenn ihm reife, lebenskundige Männer mit ihren „sittlichen Bedenken" kamen. „Ich hab's auch nicht für Euch, ich hab's für die jungen Mädchen geschrieben!" rief er einmal seinem alten Kameraden Knebel zu, als dieser die , Wahlverwandtschaften' für gefährlich hielt.
Goethe wufste von sich selbst und von vielen grofsen Dichtern aller Zeiten, dafs die sexuellen Naturalia zweifellos auf dem Felde der Kunst liegen. Wieland zum Beispiel war der ehrenwerteste, wohlmeinendste, sittlichste Mensch, aber bekanntlich hat gerade er sich oft versucht gefühlt, in seinen Dichtungen die Grenze des Anständigen und Schicklichen zu überschreiten; Goethe erwähnt es in seiner Gedächtnisrede auf den entschlafenen Freund und bemerkt, dafs ,,von jeher das Genie solche Wagestücke unter seine Gerechtsame gezählt hat". Ein andermal urteilt er: ,,Die Kunst an und für sich selbst ist edel, deshalb fürchtet sich der Künstler nicht vor dem Gemeinen; ja, indem er es aufnimmt, ist es schon geadelt, und so sehen wir die gröfsten Künstler mit Kühnheit ihr Majestätsrecht ausüben." Und weiter: ,,In jedem Künstler liegt ein Keim von Verwegenheit, ohne den kein Talent denkbar ist, und dieser wird besonders rege, wenn man den Fähigen einschränken und zu einseitigem Zweck dingen und brauchen will."
Auch in diesem Sinne ruft der Dichter grämlichen und schwunglosen Kritikern zu:
„Dichten ist ein Übermut;
Niemand schelte mich !
Habt getrost ein warmes Blut,
Froh und frei, wie ich!
Wenn des Dichters Mühle geht,
Halte sie nicht ein!
Denn wer einmal uns versteht,
Wird uns auch verzeih'n."
Wenn das Genie eine göttliche Offenbarung ist, so mufs man seine Bethätigung als ein von Gott gewolltes Phänomen hinnehmen, ohne viel zu mäkeln. Nicht der Eiferer ist fromm, sondern der Gottergebene.
,, Hätte Gott mich anders gewollt,
So hätte er mich anders gebaut;
Da er mir aber Talent gezollt,
Hat er mir viel vertraut.
Ich brauch' es zur Rechten und Linken,
Weifs nicht, was daraus kommt;
Wenn's nicht mehr frommt.
Wird er schon winken."'
Aber freilich mufs nicht alles an die grofse Öffentlichkeit kommen, was der einzelne Dichter keck hervorsprudelt. Als Goethe zwei eigene Gedichte, die er als allzu stark nicht in seine Werke aufnahm, Eckermann zeigte, bemerkte er:
„Könnten Geist und höhere Bildung ein Gemeingut werden, so hätte der Dichter ein gutes Spiel; er könnte immer durchaus wahr sein und brauchte sich nicht zu scheuen, das Beste zu sagen. So aber mufs er sich immer in einem gewissen Niveau halten; er hat zu bedenken, dafs seine Werke in die Hände einer gemischten Welt kommen, und er hat daher Ursache, sich in Acht zu nehmen^ dafs er der Mehrzahl guter Menschen durch eine zu grofse Offenheit kein Ärgernis gebe. Und dann ist die Zeit ein wunderlich Ding. Sie ist ein Tyrann, der seine Launen hat und der zu dem, was einer sagt und thut, in jedem Jahrhundert ein ander Gesicht macht. Was den alten Griechen zu sagen erlaubt war, will uns zu sagen nicht mehr anstehen und was Shakespeares kräftigen Mitmenschen durchaus anmutete, kann der Engländer von 1820 nicht mehr ertragen, so dafs in der neuesten Zeit ein Family-Shakespeare ein gefühltes Bedürfnis wird."
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Dafs Goethe gegen das Nackte in der bildenden Kunst nichts einzuwenden hatte, wenn es nicht eine unsittliche Absicht offenbarte, braucht kaum noch hinzugefügt zu werden. Dafs der Mensch für den bildenden Künstler der eigentliche und herrlichste Gegenstand sei, hat er oft gesagt, und dabei meinte er natürlich nicht die Kleider. „Der Mensch ohne Hülle ist eigentlich der Mensch; der Bildhauer steht unmittelbar an der Seite der Elohim, als sie den unförmlichen, widerwärtigen Thon zu dem herrlichsten Gebilde umzuschaffen suchten; solche göttlichen Gedanken mufs er hegen; dem Reinen ist alles rein, warum nicht die unmittelbare Absicht Gottes in der Natur ?"
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