An einem der ersten Frühlingstage des Jahres 1827 fuhr der alte Dichter in offener Kutsche durch das Erfurter Thor aus Weimar heraus. Die Strafse war heute von Fuhrwerken und Fufsgängern ungewöhnlich belebt; sie kamen fast alle vom Westen, von Erfurt her, und man bemerkte sogleich, dafs sie die Leipziger Ostermesse zum Ziel hatten. Mit ruhigem Behagen betrachtete Goethe die lebendigen Bilder, die an ihm vorüberglitten. ,,Wie schön! wie schön!" rief er aus, als eine Koppel Pferde von edler Rasse mit leichten Hufen den Boden schlug.
„Warum nennen wir nun diese Pferde schön?" fragte sein Begleiter Eckermann, der so leicht keine
Gelegenheit unbenutzt liefs, wo er Belehrung einsammeln konnte.
Goethe lächelte. Er dachte an die hölzernen Gesellen, die die Schönheit in die Schubladen ihrer theoretischen Schränke und Kommoden einzufangen suchen. Wie diese armseligen Ästhetiker sich bemühen, das Unaussprechliche auszusprechen, die flutenden Sonnenstrahlen in feste Begriffe zu schmieden! Als ob nicht das Schöne wie alles andere Göttliche, das uns zu empfinden vergönnt ist, eine Manifestation geheimer Naturgesetze wäre, die uns ohne dessen Erscheinung ewig wären verborgen geblieben ! Als ob es nicht ein Urphänomen wäre, das wir in seinem letzten und ganzen Wesen nicht sehen und verstehen können — ebenso wenig wie wir auch sonst die Gottheit sehen und verstehen! Nur ein Abglanz des Göttlichen ist für uns wahrnehmbar, dieser Abglanz allerdings in unzähligen Werken der Natur und der Menschen. Wohl erscheint uns auf den ersten Blick manches Land traurig und verlassen, aber die Schönheit fand doch auch dahin den Weg.
,,Sie steiget hernieder in tausend Gebilden,
Sie schwebet auf Wassern, sie schreitet auf Gefilden,
Nach heiligen Mafsen erglänzt sie und schallt,
Und einzig veredelt die Form den Gehalt,
Verleiht ihm, verleiht sich die höchste Gewalt.
Und diese Schönheit rührt uns ähnlich, wie uns der Anblick einer guten That rührt. „Wir fühlen dabei, dafs wir nicht ganz in der Fremde sind, wir wähnen einer Heimat näher zu sein, nach der unser Bestes, Innerstes ungeduldig hinstrebt." — —
Doch Goethe kehrte zurück aus seinen Gedanken und ward seinen Begleiter wieder gewahr. Eckermann war kein Pedant wie Faustens Famulus, aber mit einem „Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen" mochte auch er nicht abgespeist sein.
,,Ich habe oft aussprechen hören," meinte er, „die Natur sei immer schön, sie sei die Verzweiflung des Künstlers, indem er selten fähig sei, sie ganz zu erreichen."
Goethe schüttelte den Kopf. Über solche Fragen hatte er schon vor manchem Jahre mit den Freunden in Rom diskutiert.
„Ich weifs wohl," sagte er, ,,dafs die Natur oft einen unerreichbaren Zauber entfaltet; allein ich bin keineswegs der Meinung, dafs sie in allen ihren Äufserungen schön sei. Ihre Intentionen sind zwar immer gut, allein die Bedingungen sind es nicht, die dazu gehören, sie stets vollkommen zur Erscheinung gelangen zu lassen.
,,So ist die Eiche ein Baum, der sehr schön sein kann. Doch wie viel günstige Umstände müssen
zusammentreffen, ehe es der Natur einmal gelingt, ihn wahrhaft schön hervorzubringen ! Wächst die Eiche im Dickicht des Waldes heran, von bedeutenden Nachbarstämmen umgeben, so wird ihre Tendenz immer nach oben gehen, immer nach freier Luft und Licht. Nach den Seiten hin wird sie nur wenige schwache Äste treiben, und auch diese werden im Laufe des Jahrhunderts wieder verkümmern und abfallen. Hat sie aber endlich erreicht, sich mit ihrem Gipfel oben im Freien zu fühlen, so wird sie sich beruhigen und nun anfangen, sich nach den Seiten hin auszubreiten und
eine Krone zu bilden. Allein sie ist auf dieser Stufe bereits über ihr mittleres Alter hinaus, ihr vieljähriger Trieb nach oben hat ihre frischesten Kräfte hingenommen, und ihr Bestreben, sich jetzt noch nach der Breite hin mächtig zu erweisen, wird nicht mehr den rechten
Goethe schüttelte den Kopf. Über solche Fragen hatte er schon vor manchem Jahre mit den Freunden in Rom diskutiert.
„Ich weifs wohl," sagte er, ,,dafs die Natur oft einen unerreichbaren Zauber entfaltet; allein ich bin keineswegs der Meinung, dafs sie in allen ihren Äufserungen schön sei. Ihre Intentionen sind zwar immer gut, allein die Bedingungen sind es nicht, die dazu gehören, sie stets vollkommen zur Erscheinung gelangen zu lassen.
,,So ist die Eiche ein Baum, der sehr schön sein kann. Doch wie viel günstige Umstände müssen
zusammentreffen, ehe es der Natur einmal gelingt, ihn wahrhaft schön hervorzubringen ! Wächst die Eiche im Dickicht des Waldes heran, von bedeutenden Nachbarstämmen umgeben, so wird ihre Tendenz immer nach oben gehen, immer nach freier Luft und Licht. Nach den Seiten hin wird sie nur wenige schwache Äste treiben, und auch diese werden im Laufe des Jahrhunderts wieder verkümmern und abfallen. Hat sie aber endlich erreicht, sich mit ihrem Gipfel oben im Freien zu fühlen, so wird sie sich beruhigen und nun anfangen, sich nach den Seiten hin auszubreiten und
eine Krone zu bilden. Allein sie ist auf dieser Stufe bereits über ihr mittleres Alter hinaus, ihr vieljähriger Trieb nach oben hat ihre frischesten Kräfte hingenommen, und ihr Bestreben, sich jetzt noch nach der Breite hin mächtig zu erweisen, wird nicht mehr den rechten
Erfolg haben. Hoch, stark und schlankstämmig wird sie nach vollendetem Wüchse dastehen, doch ohne ein solches Verhältnis zwischen Stamm und Krone, um in der That schön zu sein.
,, Wächst hinwieder die Eiche an feuchten, sumpfigen Orten und ist der Boden zu nahrhaft, so wird sie, bei gehörigem Raum, frühzeitig viele Äste und Zweige nach allen Seiten treiben; es werden jedoch die wider- strebenden, retardierenden Einwirkungen fehlen, das Knorrige, Eigensinnige, Zackige wird sich nicht ent- wickeln, und aus einiger Ferne gesehen, wird der Baum ein schwaches, lindenartiges Ansehen gewinnen, und er wird nicht schön sein, wenigstens nicht als Eiche.
Wächst sie endlich an bergigen Abhängen, auf dürftigem, steinigtem Erdreich, so wird sie zwar im Übermafs zackig und knorrig erscheinen, allein es wird ihr an freier Entwickelung fehlen, sie wird in ihrem Wuchs frühzeitig kümmern und stocken, und sie wird nie erreichen, dafs man von ihr sage: es walte in ihr etwas, das fähig sei, uns in Erstaunen zu setzen."
Goethe schöpfte Atem, und Eckermann warf ein, er habe im vorigen Jahre herrliche Eichbäume in der Gegend von Göttingen gesehen, besonders auch im Solling in der Nähe von Höxter.
„Ein sandiger oder mit Sand gemischter Boden," fuhr Goethe fort, „wo ihr nach allen Richtungen hin mächtige Wurzeln zu treiben vergönnt ist, scheint ihr am günstigsten zu sein. Und dann will sie einen Stand, der ihr gehörigen Raum gewährt, alle Einwirkungen von Licht und Sonne und Regen und Wind von allen Seiten her in sich aufzunehmen. Im behaglichen Schutz vor Wind und Wetter herangewachsen, wird aus ihr nichts; aber ein hundertjähriger Kampf mit den Elementen macht sie stark und mächtig, so dafs nach vollendeten Wuchs ihre Gegenwart uns Erstaunen und Bewunderung einflöfst."
Jetzt glaubte Eckermann die erwünschte Definition zu haben und meinte: „Könnte man nicht aus diesen Ihren Andeutungen ein Resultat ziehen und sagen: ein Geschöpf sei dann schön, wenn es zu dem Gipfel seiner natürlichen Entwickelung gelangt sei?"
,, Recht wohl," erwiderte Goethe, „doch müfste man zuvor aussprechen, was man unter dem Gipfel der natürlichen Entwickelung wolle verstanden haben."
,,Ich würde damit," erwiderte Eckermann, „diejenige Periode des Wachstums bezeichnen, wo der Charakter, der diesem oder jenem Geschöpf eigentümlich ist, vollkommen ausgeprägt erscheint." „In diesem Sinne," gab Goethe zu, ,,wäre nichts dagegen einzuwenden, besonders wenn man noch hin- zufügte, dafs zu solchem vollkommen ausgeprägten Charakter zugleich gehöre, dafs der Bau der ver- schiedenen Glieder eines Geschöpfes dessen Naturbestimmung angemessen und also zweckmäfsig sei.
,,So wäre z. B. ein mannbares Mädchen, dessen Naturbestimmung ist, Kinder zu gebären und Kinder zu säugen, nicht schön ohne gehörige Breite des Beckens und ohne gehörige Fülle der Brüste. Doch wäre auch ein Zuviel nicht schön, denn das würde über das Zweckmäfsige hinausgehen."
Goethes Gedanken schweiften nun zu den Rossen zurück, die das Gespräch hervorgerufen hatten.
„Warum konnten wir vorhin einige der Reitpferde, die uns begegneten, schön nennen, als eben wegen der Zweckmäfsigkeit ihres Baues? Es war nicht blofs das Zierliche, Leichte, Graziöse ihrer Bewegungen, sondern noch etwas mehr, worüber ein guter Reiter und Pferdekenner reden müfste und wovon wir andern blofs den allgemeinen Eindruck empfinden."
„Könnte man nicht auch," fragte sein Begleiter, „einen Karrengaul schön nennen, wie uns vorhin einige sehr starke vor den Frachtwagen der Brabanter Fuhrleute begegneten?"
„Allerdings," erwiderte Goethe, ,,und warum nicht? Ein Maler fände an dem stark ausgeprägten Charakter, an dem mächtigen Ausdruck von Knochen, Sehnen und Muskeln eines solchen Tieres wahrscheinlich noch ein weit mannigfaltigeres Spiel von allerlei Schönheiten als an dem mildern, egalern Charakter eines zierlichen Reitpferdes.
,,Die Hauptsache ist immer," fuhr Goethe fort, ,,dafs die Rasse rein und der Mensch nicht seine ver- stümmelnde Hand angelegt hat. Ein Pferd, dem Schweif und Mähne abgeschnitten, ein Hund mit gestutzten Ohren, ein Baum, dem man die mächtigsten Zweige genommen und das übrige kugelförmig geschnitzelt hat, und über alles eine Jungfrau, deren Leib von Jugend auf durch Schnürbrüste verdorben und entstellt worden, alles dieses sind Dinge, von denen sich der gute Geschmack abwendet und die blofs in dem Schönheitskatechismus der Philister ihre Stelle haben."
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Hier brach das Gespräch ab. Dafs Druck und Zwang die Menschen häfslich mache, hat Goethe öfters beklagt; so schalt er auf die norddeutsche Sitte, dafs die Frauen schwere Tragkörbe auf dem Rücken schleppen; das zerdrücke den Körperwuchs und bringe platte Physiognomieen. Wie viel schönere Bilder malten uns die alten Griechen von ihren Frauen, die alle Last auf dem Kopfe trugen! Ein schlankes Mädchen, einen wohlgeformten Wasserkrug auf dem Kopfe, in gröfster Leichtigkeit einhergehend: wieviel schöner als die gebückte, gedrückte Thüringerin!
Und dann leuchteten seine Augen wohl auf, weü er an Italien gedachte, wo er solchen behenden Mädchen manches Mal einen Grufs zugerufen. Und dieser Gedanke an Italien genügt, uns ins Bewufstsein zu bringen, dafs in der Natur das Schöne bald verschwenderisch, bald geizig aufzutreten scheint. In Italien ist die Luft lauer, der Himmel blauer, un- bewölkter, die Gesichter sind offen, freundlich und lachender, die Formen und Umrisse der Körper regelmäfsig und anlockender. Selbst das Grün der Wiesen nicht so kalt und tot, sondern höher, heller, mannigfaltiger als in den nördlichen Himmelsstrichen. Alles scheint zum lieblichen Genüsse einzuladen, und Natur und Kunst bieten sich wechselseitig die Hand. Nirgends oder selten finden wir in Italien solche zurückstofsende, kolossale Gestalten wie in unseren Gegenden, nirgends so verkrüppelte und zusammengeschrumpfte Figuren. In unseren Gesichtern verlaufen die Züge regellos durch- und ineinander, oft ohne irgend einen Charakter anzudeuten . . . man kann sagen, in einem deutschen Gesichte ist die Hand Gottes unleserlicher als auf einem italienischen. Bei uns ist alles verkritzelter und selten selbst in der Form etwas Vollendetes. Kopf und Hals scheinen bei jenen Menschen gleichsam unmerklich in einander gefügt, bei uns sind sie gröfstenteils eingeschoben und aufgestülpt. Die sanft geblähte Brust schwellt allmählich in ihren Umrissen; nicht solche kugel- und muskelhafte Massen von Fleisch, die das Auge mehr beleidigen als einladen.
So ungefähr schilderte Goethe wenige Jahre nach seiner Rückkehr das Land, von dem er im Scherze sagte, er müsse dort in einer früheren Existenz einmal gelebt haben, so heimisch fühle er sich da. Und dann fuhr er wieder fort, von der menschlichen Schönheit zu sprechen.
,,Ich habe in Italien unter der gemeinsten Menschenklasse Körper gesehen gleich den schönsten Antiken und andere, die, entkleidet, dem Künstler durch die Regelmäfsigkeit ihres Baues den vollkommensten Torso vertraten .... Die Römerinnen sind die reizendsten Gestalten, die ich je erblickte: ein schlanker Wuchs, regelmäfsige, majestätische Gesichtszüge, grofse gewölbte Augenbrauen, die wie abgezirkelt einen Halbbogen bilden . . . Ich bedauere einen grofsen Künstler, wie Herrn Lips in Deutschland, wo ihm das Studium der Formen in seiner Kunst keinen Vorschub thut; er mufs unaufhörlich aus seiner Phantasie hervorarbeiten, "
Goethe hatte sich in Italien nicht blofs als Künstler, sondern auch als Naturforscher und Naturphilosoph umgeschaut, und so verbanden sich bei ihm ästhetische und naturphilosophische Gedanken oft. Er ahnte schon damals die Entwickelungslehren, die erst nach seiner Zeit genauer erforscht und dargestellt wurden; er glaubte es zu sehen, wie die Natur in stetigem Fortschreiten immer höhere Wesen ausbilde, bis sie endlich zu ihrem höchsten Wesen, dem Menschen, gelangte. Auch im ästhetischen Sinne erschien ihm der Mensch das vollkommenste Naturwerk. Die Tiere bedürfen noch des Schmuckes, den sie oft in ganz unverhältnismäfsigen Organen, als da sind Hörner, lange Schweife, Mähnen u. dgl. zusammengepackt tragen. Das alles fällt beim Menschen weg, der schmucklos, durch sich selbst schön, dasteht, der alles, was er hat, auch ist, wo Gebrauch, Nutzen, Notwendigkeit und Schönheit, alles Eins ist und zu Einem stimmt.')
Von lebenden Wesen wird dort die Schönheit er- reicht, wo sie nicht unter widrigen Verhältnissen allzu- sehr leiden, wo sie ihre Eigenart frei entfalten können. „Das Gesetz, das in die Erscheinung tritt, in der gröfsten Freiheit, nach seinen eigenen Bedingungen, bringt das Objektiv -Schöne hervor." Erkannt aber wird die Schönheit vom Menschen zuerst und empfunden wird sie von ihm am stärksten, wenn sie am Äufseren anderer Menschen zur Erscheinung gelangt.
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Drei Göttinnen sah der Schäfer auf dem Idaberge plötzlich vor sich. Hera versprach: wenn er ihr den goldenen Apfel reiche, so wolle sie ihn zum Herrn über Asien und Europa erheben; die zweite der Göttinnen, Pallas Athene, war bereit, ihn zu einem unbezwinglichen Kriegsmann und weisen Helden zu machen; die dritte aber, Aphrodite, sah ihn nur holdselig an und versprach ihm nichts als ihre Schönheit. Und sie hatte leichten Sieg. Mag sein, dafs Paris thöricht war, aber zu allen Zeiten gab und giebt es Viele, die, wie der idäische Schäfer, Macht, Gold und Weisheit neben der Schönheit gering achten.
Als sich Goethe nach Italien geflüchtet hatte, suchte er dort bewufst und unbewufst immer nach Leuten, die sich auf das Leben verstanden. Nach solchen, die leichter atmeten, fröhlicher in den Tag hinein lebten und die unsägliche Bitternis, die uns das Schicksal bietet, schneller überwanden, als er es bisher konnte. In Neapel schien der englische Gesandte, Ritter Hamilton, ein weiser Praktiker zu sein. Er hatte in seinem Leben viel Naturstudium und viel Kunststudium getrieben; zuletzt aber hatte er das Studieren aufgegeben, weil er glaubte, in einem sehr schönen Mädchen den Gipfel aller Natur- und Kunstfreude gefunden zu haben. Es war eine Engländerin von etwa zwanzig Jahren, eine Mifs Hart, die nun bei ihm wohnte. Er lud Goethen ein, sie zu sehen, und Tischbein durfte sie malen. ,,Sie ist sehr schön und wohlgebaut," schrieb Goethe nach Weimar, wo Hamiltons Name nicht unbekannt war.
„Er hat ihr ein griechisches Gewand machen lassen, das sie trefflich kleidet; dazu löst sie ihre Haare auf, nimmt ein paar Shawls und macht eine Abwechslung von Stellungen, Gebärden, Mienen u. s. w., dafs man zuletzt wirklich meint, man träume. Man schaut, was so viele tausend Künstler gern geleistet hätten, hier ganz fertig, in Bewegung und überraschender Abwechslung. Stehend, knieend, sitzend, liegend, ernst, traurig, neckisch, ausschweifend, bufsfertig, lockend, drohend, ängstlich u. s. w.; eins folgt aufs andere und aus dem anderen, Sie weifs zu jedem Ausdruck die Falten des Schleiers zu wählen, zu wechseln und macht sich hundert Arten von Kopfputz mit denselben Tüchern. Der alte Ritter hält das Licht dazu und hat mit ganzer Seele sich diesem Gegenstand ergeben. Er findet in ihr alle Antiken, alle schönen Profile der sizilianischen Münzen, ja den belvederischen Apoll selbst."
Als Goethe aus Sizilien zurückkehrte, lud ihn Hamilton wieder ein, und diesmal mufste die schöne Maid ihre musikalischen Talente zeigen. Als die Gäste nachher in das Kunst- und Gerümpelgewölbe des Gesandten eindringen durften, bemerkten sie unter manchem köstlichen Werke der alten und neuen Zeit einen aufrecht stehenden, an der Vorderseite offenen, inwendig schwarz angestrichenen Kasten, den der prächtigste goldene Rahmen einfafste. Der Raum war grofs genug, um eine menschliche Figur aufzunehmen, und das war auch sein Zweck. Der Kunst- und Mädchenfreund, nicht zufrieden, das schöne Gebild als bewegliche Statue zu sehen, wollte sich auch an ihr als an einem bunten, unnachahmbaren Gemälde ergötzen, und so hatte sie manchmal innerhalb dieses goldenen Rahmens, auf schwarzem Grund vielfarbig gekleidet, die antiken Gemälde von Pompeji und selbst neuere Meisterwerke nachgeahmt.
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Unser Dichter hatte seinen Spafs an dieser praktischen Ästhetik des alten Engländers, und als er einige Jahre später die hübsche Christiane Vulpius in sein Haus nahm und sich, unbekümmert um die Welt, mit seinem Mädchen ein trauliches Stübchen schuf, mag er wohl öfters an Ritter Hamilton und seine Schöne gedacht haben. Aber viel wichtiger war doch die Verquickung von Schönheitsdienst und täglichem Leben, die er im gleichen Neapel beim gemeinen Volke fand. Diese Neapolitaner arbeiteten geniefsend, sie umkleideten die Prosa des täglichen Lebens vollkommen mit poetischen Zuthaten, und so konnte der Fremde wohl meinen, die Leute gingen beständig ihrem Vergnügen nach. Dafs ihre Handwerkstechnik gegen diejenige nordischer Länder zurückstand, dafs Fabriken bei ihnen nicht entstehen wollten, grämte sie nicht; dafs ihre Gelehrten und Künstler nicht weltberühmt waren, that ihnen nicht weh. Sie waren wie frohe Kinder, denen man etwas aufträgt, die dann zwar ihr Geschäft verrichten, aber auch zugleich einen Scherz aus dem Geschäft machen.
,,Eine ausgezeichnete Fröhlichkeit erblickt man überall mit dem gröfsten teilnehmenden Vergnügen," berichtet Goethe den fernen Freunden. ,,Die vielfarbigen bunten Blumen und Früchte, mit welchen die Natur sich ziert, scheinen den Menschen einzuladen, sich und alle seine Gerätschaften mit so hohen Farben als möglich auszuputzen. Seidene Tücher und Binden, Blumen auf den Hüten schmücken einen jeden, der es einigermafsen vermag. Stühle und Kommoden in den geringsten Häusern sind auf vergoldetem Grund mit bunten Blumen geziert; sogar die einspännigen Kaleschen hochrot angestrichen, das Schnitzwerk vergoldet, die Pferde davor mit gemachten Blumen, hochroten Quasten und Rauschgold ausgeputzt. Manche haben Federbüsche, andere sogar kleine Fähnchen auf den Köpfen, die sich im Laufe nach jeder Bewegung drehen. Wir pflegen gewöhnlich die Liebhaberei zu bunten Farben barbarisch und geschmacklos zu nennen: sie kann es auch auf gewisse Weise sein und werden, allein unter einem recht heitern und blauen Himmel ist eigentlich nichts bunt; denn nichts vermag den Glanz der Sonne und ihren Widerschein im Meere zu überstrahlen. Die lebhafteste Farbe wird durch das gewaltige Licht gedämpft, und weil alle Farben, jedes Grün der Bäume und Pflanzen, das gelbe, braune, rote Erdreich in völliger Kraft auf das Auge wirken, so treten dadurch selbst die farbigen Blumen und Kleider in die allgemeine Harmonie. Die scharlachnen Westen und Röcke der Weiber von Nettuno, mit breitem Gold und Silber besetzt, die anderen farbigen Nationaltrachten, die gemalten Schiffe, alles scheint sich zu beeifern, unter dem Glänze des Himmels und des Meeres einigermafsen sichtbar zu werden.
„Und wie sie leben, so begraben sie auch ihre Toten; da stört kein schwarzer langsamer Zug die Harmonie der lustigen Welt. Ich sah ein Kind zu Grabe tragen. Ein rotsamtner grofser, mit Gold breit gestickter Teppich überdeckte eine breite Bahre; dar- auf stand ein geschnitztes, stark vergoldetes und versilbertes Kästchen, worin das weifsgekleidete Tote mit rosenfarbenen Bändern ganz überdeckt lag. Auf den vier Ecken des Kästchens waren vier Engel, ungefähr jeder zwei Fufs hoch, welche grofse Blumenbüschel über das ruhende Kind hielten."
Ein andermal ergötzte sich Goethe daran, wie dieses heitere Völkchen auch die Speisen und die sehr materiellen Dinge, aus denen sie bereitet werden, zu verschönern wufste. „Bei Santa Lucia sind die Fische nach ihren Gattungen meist in reinlichen und artigen Körben: Krebse, Austern, Scheiden, kleine Muscheln, jedes besonders aufgetischt und mit grünen Blättern unterlegt. Die Läden von getrocknetem Obst und Hülsenfrüchten sind auf das mannigfaltigste herausgeputzt. Die ausgebreiteten Pomeranzen und Zitronen von allen Sorten, mit dazwischen hervorstechendem grünen Laub, dem Auge sehr erfreulich ... In den Fleischbänken hängen die Teile der Ochsen, Kälber, Schöpse niemals aus, ohne dafs neben dem Fett zu- gleich die Seite oder die Keule stark vergoldet sei. Es sind verschiedene Tage im Jahr, besonders die Weihnachtsfeiertage, als Schmausfeste berühmt; alsdann feiert man eine allgemeine Cocagna, wozu sich fünf- hunderttausend Menschen das Wort gegeben haben. Dann ist aber auch die Strafse Toledo und neben ihr mehrere Strafsen und Plätze auf das appetitlichste verziert. Die Butiken, wo grüne Sachen verkauft werden, wo Rosinen, Melonen und Feigen aufgesetzt sind, erfreuen das Auge auf das allerangenehmste. Die Efswaren hängen in Girlanden über die Strafsen hinüber; grofse Paternoster von vergoldeten, mit roten Bändern geschnürten Würsten, welsche Hähne, welche alle eine rote Fahne unter dem Bürzel stecken haben"
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Schon in Venedig hatte Goethe bewundert, wie das italienische Volk das Leben in ein Schauspiel zu verwandeln versteht. Da sah er z. B. eine Galeere, deren einziger Zweck es war, die Häupter der kleinen Republik am feierlichsten Tage zum Sakrament ihrer hergebrachten Meerherrschaft zu tragen. Das Schiff war ganz Zierat, ganz vergoldetes Schnitzwerk, eine wahre Monstranz, um dem Volke seine Häupter recht herrlich zu zeigen. „Wissen wir doch, das Volk, wie es gern seine Hüte schmückt, will auch seine Obern gern prächtig und geputzt sehen."
Zwei Tage später war der Reisende bei dem Hochamte, dem der Doge jährlich am siebenten Oktober wegen eines alten Sieges über die Türken in der Kirche der heiligen Justina beiwohnen mufs. ,,Wenn an dem kleinen Platz die vergoldeten Barken landen, die den Fürsten und einen Teil des Adels bringen, seltsam gekleidete Schiffer sich mit rotbemalten Rudern bemühen, am Ufer die Geistlichkeit, die Brüderschaften mit angezündeten, auf Stangen und tragbare silberne Leuchter gesteckten Kerzen stehen, drängen, wogen und warten, dann mit Teppichen beschlagene Brücken aus den Fahrzeugen ans Land gesteckt werden, zuerst die langen violetten Kleider der Savj, dann die langen roten der Senatoren sich auf dem Pflaster entfalten, zuletzt der Alte, mit goldener phrygischer Mütze ge- schmückt, im längsten goldenen Talar, mit dem Hermelinmantel aussteigt, drei Diener sich seiner Schleppe bemächtigen, alles auf einem kleinen Platz vor dem Portal einer Kirche, vor deren Thüren die Türkenfahnen gehalten werden, so glaubt man auf einmal eine alte gewirkte Tapete zu sehen, aber recht gut gezeichnet und koloriert . . . Der Doge ist ein gar schön gewachsener und schön gebildeter Mann . . . Etwa fünfzig Nobili in langen und dunkelroten Schleppkleidern waren mit ihm, meist schöne Männer, keine einzige vertrackte Gestalt, mehrere grofs mit grofsen Köpfen, denen die blonden Lockenperücken wohl ziemten, vorgebaute Gesichter, weiches, weifses Fleisch, ohne schwammig und widerwärtig auszusehen, vielmehr klug, ohne Anstrengung, ruhig, ihrer selbst gewifs, Leichtigkeit des Daseins und durchaus eine gewisse Fröhlichkeit. Wie sich alles in der Kirche rangiert hatte und das Hochamt anfing, zogen die Brüderschaften zur Hauptthüre herein und zur rechten Seitenthüre wieder hinaus, nachdem sie. Paar für Paar, das Weihwasser empfangen und sich gegen den Hochalter, den Dogen und den Adel geneigt hatten."
Unserm nordischen Flüchtlinge kamen hier natürlich Vergleiche mit dem nüchternen Deutschland. „Bei uns, wo alle Feierlichkeiten kurzröckig sind und wo die gröfste, die man sich denken kann, mit dem Gewehr auf der Schulter begangen wird, möchte so etwas nicht am Orte sein. Aber, dachte er weiter, hierher gehören diese Schleppröcke, diese friedlichen Begehungen." Und Goethe liebte sein Leben lang solche Feste, Aufzüge und Maskenspiele; er fügte sie gern in seine Dichtungen hinein und verbrachte manchen Tag, um sie für seine Umgebung auszudenken und vorzubereiten.
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Viel prosaischer und grauer spann das Leben in Deutschland sich ab, von gelegentlichen Festen mit ihrem Aufputz und Maskenspiel nur sonderbar unterbrochen, aber der religiöse Kultus, und besonders das Zeremonialwesen der katholischen Kirche, bewährte sich doch auch daheim als eine ständig wirksame poetische Umkleidung des menschlichen Lebens und seiner zwar ehrwürdigen, aber doch auch unanschaulichen Grundwahrheiten. Die Sakramente sind das Höchste der Religion, denn sie sind sinnliche Symbole einer aufserordentlichen göttlichen Gunst und Gnade. So sollen im Abendmahle die irdischen Lippen ein göttliches Wesen verkörpert empfangen und unter der Form irdischer Nahrung einer himmlischen teilhaftig werden. Und mit solchen irdischen Abbildern der höchsten Dinge umgiebt die kathohsche Kirche das ganze Dasein ihrer Gemeindeglieder. ,,Hier reicht ein jugendliches Paar sich einander die Hände, nicht zum vorübergehenden Grufs oder zum Tanze; der Priester spricht seinen Segen darüber aus, und das Band ist unauflöslich. Es währt nicht lange, so bringen diese Gatten ein Ebenbild an die Schwelle des Altars; es wird mit heiligem Wasser gereinigt und der Kirche dergestalt einverleibt, dafs es diese Wohlthat nur durch den ungeheuersten Abfall verscherzen kann. Das Kind übt sich im Leben an den irdischen Dingen selbst heran, in himmlischen mufs es unterrichtet werden. Zeigt sich bei der Prüfung, dafs dies vollständig geschehen sei, so wird es nunmehr als wirklicher Bürger, als wahrhafter und freiwilliger Bekenner in den Schofs der Kirche aufgenommen, nicht ohne äufsere Zeichen der Wichtigkeit dieser Handlung. Aber inzwischen ist ihm als Menschen manches Wunderliche begegnet: durch Lehren und Strafen ist ihm aufgegangen, wie bedenklich es mit seinem Innern aussehe, und immerfort wird noch von Lehren und von Übertretungen die Rede sein, aber die Strafe soll nicht mehr stattfinden. Hier ist ihm nun in der unendlichen Verworrenheit, in die er sich bei dem Widerstreit natürlicher und religiöser Forderungen verwickeln mufs, ein herrliches Auskunftsmittel gegeben, seine Thaten und Unthaten, seine Gebrechen und seine Zweifel einem würdigen, eigens dazu bestellten Manne zu vertrauen, der ihn zu beruhigen, zu warnen, zu stärken, durch gleichfalls symbolische Strafen zu züchtigen und ihn zuletzt durch ein völliges Auslöschen seiner Schuld zu beseligen und ihm, rein und abgewaschen, die Tafel seiner Menschheit wieder zu übergeben weifs. So, durch mehrere sakramentliche Handlungen vorbereitet und rein beruhigt, kniet er hin, die Hostie zu empfangen, und dafs ja das Geheimnis dieses hohen Aktes noch gesteigert werde, sieht er den Kelch nur in der Ferne: es ist kein ge- meines Essen und Trinken, was befriedigt, es ist eine Himmelsspeise, die nach himmlischem Tranke durstig macht . . . Und was nun durch das ganze Leben so erprobt worden, soll an der Pforte des Todes alle seine Heilkraft zehenfach bethätigen. Nach einer von Jugend auf eingeleiteten, zutraulichen Gewohnheit nimmt der Hinfällige jene symbolischen, deutsamen Versicherungen mit Inbrunst an . . . Zum Schlüsse werden sodann, da- mit der ganze Mensch geheiligt sei, auch die Füfse gesalbt und gesegnet. Sie sollen, selbst bei möglicher Genesung, einen Widerwillen empfinden, diesen irdischen, harten, undurchdringlichen Boden zu berühren; ihnen soll eine wundersame Schnellkraft mitgeteilt werden, wodurch sie den Erdschollen, der sie bisher anzog, unter sich abstofsen. Und so ist durch einen glänzenden Zirkel gleichwürdig heiliger Handlungen, deren Schönheit von uns nur kurz angedeutet worden. Wiege und Grab in einem stetigen Kreise verbunden."
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Auch eine schöne Umgebung begehren wir, wenn unser Schönheitsbedürfnis einmal wach geworden ist. Zuerst verlangen wir Farbe und Glanz, später auch Harmonie. Goethe legte immer wieder ein gutes Wort für jene Farbenfreude ein, die er bei den Bewohnern der Niederungen, am unteren Rhein wie in Venedig, bemerkte. Als Friederike Unzelmann wagte, von der vollkommen weifsen Kleidung abzugehen, die der Priesterin Iphigenie damals wie heute der Brauch vorschrieb, belobte sie der Dichter. ,,Das schreckliche, leere, melancholische Weifs verfolgt uns vom Augenblick des Neglige bis zur höchsten Repräsentation. Man flieht die Farben, weil es so schwer ist, sich ihrer mit Geschmack und Anmut zu bedienen." Ein andermal meint er, die Furcht vor lebhaften Farben rühre oft wohl von einer allgemeinen Nervenschwäche her. ,,Wir finden, dafs gesunde, starke Nationen, dafs das Volk überhaupt, dafs Kinder und junge Leute sich an lebhaften Farben erfreuen; aber ebenso finden wir auch, dafs der gebildetere Teil die Farbe flieht, teils weil sein Organ geschwächt ist, teils weil er das Auszeichnende, das Charakteristische vermeidet." Goethe fährt aber sogleich wieder fort, dafs oft an der Vermeidung kräftiger Töne nur eine Unsicherheit im Gebrauch der Farben schuld sei. Jeder Mifsgriff wirkt schreiend, während das Dämpfen, Mischen, Töten der Farben einen Schein von Harmonie giebt. — —
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