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2019-11-25

Wilhelm Bode- Goethes Ästhetik- Vom Wirklichen zur Kunst (Seite 1)





Vom Wirklichen zur Kunst.

Eine Fülle von Schönheit bietet uns die Natur dar; -'—' vieles, was Sinne und Seele erfreut, entsteht auch gleichsam von selber im täglichen oder im festlichen Leben der Menschen. Dennoch haben sich in jeder kultivierten Gesellschaft noch besondere Stände und Berufe von Schönheits-Erzeugern herausgebildet; überall heifst man sie willkommen, und wir Deutschen ehren sie vor allen andern Könnern als „Künstler". Sie führen die Nationen aus dem Zeitalter der Barbarei heraus zur Kultur; nicht sie allein, aber sie in erster Reihe. Diese Künstler stehen wie alle Menschen nicht aufserhalb der Natur, ihre Leistungen sind also in gewissem Sinne Naturwerke,  aber wir müssen, um uns die Kunst deutlich zu machen, sie doch in Gegensatz zur übrigen Natur bringen. Goethe nannte die Kunst einmal „eine zweite Natur", die gleichwie Minerva aus dem Haupte Jupiters, so aus dem Haupte der gröfsten Menschen geboren worden.

Als Jüngling war er mit der Natur verwachsen wie wenige seiner Zeitgenossen, aber schon damals empörte er sich gegen die Theoretiker, die den Unterschied zwischen der Natur und der Kunst zu verdunkeln drohten. Da schrieb der alte Sulzer : „In der ganzen Schöpfung stimmt alles darin überein, dafs das Auge und die anderen Sinne von allen Seiten her durch angenehme Eindrücke gerührt werden." Goethe antwortete : „Gehört denn, was unangenehme Eindrücke auf uns macht, nicht so gut in den Plan der Natur als ihr Lieblichstes?" Und er fuhr fort: „Was wir von Natur sehen, ist Kraft: die Kraft verschlingt; nichts gegenwärtig, alles vorübergehend, tausend Keime zertreten, jeden Augenblick tausend geboren, grofs und bedeutend, mannigfaltig ins Unendliche, schön und häfslich, gut und bös, alles mit gleichem Rechte nebeneinander existierend. Und die Kunst ist gerade das Widerspiel; sie entspringt aus den Bemühungen des Individuums, sich gegen die zerstörende Kraft des Ganzen zu erhalten. Schon das Tier, durch seine Kunsttriebe, scheidet, verwahrt sich; der Mensch, durch alle Zustände, befestigt sich gegen die Natur, ihre tausendfachen Übel zu vermeiden und nur das Mafs von Gutem zu geniefsen, bis es ihm endlich gelingt, die Zirkulation aller seiner wahren und gemachten Bedürfnisse in einen Palast einzuschliefsen, sofern es möglich ist, alle zerstreute Schönheit und Glückseligkeit in seine gläsernen Mauern zu bannen, wo er dann immer weicher und weicher wird, den Freuden des Körpers Freuden der Seele substituiert, und seine Kräfte, von keiner Widerwärtigkeit zum Naturgebrauche aufgespannt, in Tugend, Wohlthätigkeit, Empfindsamkeit zerfliefsen."

Ungefähr so dachte er sein Leben lang. Er flüchtete sich aus der Natur und dem Leben in das Reich des Schönen, und wie er beispielsweise die politischen Ereignisse ohne solche Zuflucht hätte ertragen können, läfst sich nicht ausdenken. Wenige Meilen von ihm wurden Entscheidungsschlachten geschlagen, um ihn herum politisierte alles über letzte Vergangenheit und nächste Zukunft: er aber, der Staatsminister, dichtete und betrachtete Kupferstiche. Den ,Reinecke Fuchs', diese „unheilige Weltbibel", nahm er mit zur Blockade von Mainz,  den ,Epilog zu Essex' dichtete er am Tage der Schlacht von Leipzig, und als er, mitten in das Getümmel hineingerissen, nach Dresden reiste, wo Napoleons Besieger sich versammelten, schrieb er im „Löwen" zu Oschatz an der Wirtstafel die übermütigen Verse nieder: „Ich habe geliebt, nun lieb' ich erst recht." ,,Die ästhetischen Freuden halten uns aufi-echt, indem fast alle Welt den politischen Leiden unterliegt," gesteht er 17932) und ebenso bekennt er im nächsten Jahre von sich, Schiller und Wilhelm von Humboldt: „Wir suchen uns zusammen soviel als möglich im ästhetischen Leben zu erhalten und alles aufser uns zu vergessen." Auch als eine unerfreuliche Philosophie ihm den Humor zu verderben drohte, schüttelte er sie mit dem Ausrufe ab: „Also geschwind ins Asyl der Kunst!"

Wie aber schaffen die Künstler diese zweite, an- genehmere Welt, diese erhöhte Natur, diese Berge, zu denen wir entfliehen, wenn es uns in unseren Städten zu laut, zu häfslich, zu bedrückend wird? Wir dürfen nicht hoffen, dafs wir das Genie und die Leistung des Künstlers mit Worten völlig beschreiben und erklären könnten; Worte sind überall nur unzulängliche Surrogate und besonders an das Geheimnis des genialen Wesens können sie nicht heranreichen. ,,Die Kunst ist eine Vermittlerin des Unaussprechlichen, darum erscheint es eine Thorheit, sie wieder durch Worte vermitteln zu wollen." „Doch," fügt Goethe hinzu, ,, indem wir uns darum bemühen, findet sich für den Verstand so mancher Gewinn, der dem ausübenden Vermögen auch wieder zu gute kommt.

"Dafs die Künstler ihren Stoff mittelbar oder unmittelbar aus Natur und Leben nehmen, sieht man leicht; wie entsteht denn nun der Gegensatz zu Natur und Leben? Dadurch, dafs die Wirklichkeit durch die Seele des Künstlers hindurchzieht und dort verwandelt und bereichert wird. Die Künstler haben in ihrem Innern eine Schönheit, die sie an dem Stoffe zur Erscheinung bringen, leider nur zu einer unvollkommenen Erscheinung. Goethe fordert uns auf, diesen Prozefs an dem Werke eines Bildhauers zu betrachten.

,, Nehmet an: zwei steinerne Massen seien nebeneinander gestellt, deren eine roh und ohne künstliche Behandlung geblieben, die andere aber durch die Kunst zur Statue, einer menschlichen oder göttlichen, aus- gebildet worden. Wäre es eine göttliche, so möchte sie eine Grazie oder Muse vorstellen; wäre es eine menschliche, so dürfte es nicht ein besonderer Mensch sein, vielmehr irgend einer, den die Kunst aus allem Schönen versammelte.

„Euch wird aber der Stein, der durch die Kunst zur schönen Gestalt gebracht worden, alsobald schön er- scheinen; doch nicht weil er Stein ist — denn sonst würde die andere Masse gleichfalls für schön gelten, sondern daher, dafs er eine Gestalt hat, welche die Kunst ihm erteilte.

„Die Materie aber hatte eine solche Gestalt nicht, sondern diese war in dem Ersinnenden früher, als sie zum Stein gelangte. Sie war jedoch in dem Künstler nicht, weil er Augen und Hände hatte, sondern weil er mit der Kunst begabt war.

,,Also war in der Kunst noch eine weit gröfsere Schönheit: denn nicht die Gestalt, die in der Kunst ruhet, gelangt in den Stein, sondern dorten bleibt sie, und es gehet indessen eine andere, geringere hervor, die nicht rein in sich selbst verharret, noch auch wie sie der Künstler wünschte, sondern insofern der Stoff der Kunst gehorchte.

„Wenn aber die Kunst dasjenige, was sie ist und besitzt, auch hervorbringt, und das Schöne nach der Vernunft hervorbringt nach welcher sie immer handelt, so ist diese fürwahr diejenige, die mehr und wahrer eine gröfsere und trefflichere Schönheit der Kunst besitzt, vollkommener als alles, was nach aufsen hervortritt.

„Denn indem die Form, in die Materie hervorschreitend, schon ausgedehnt wird, so wird sie schwächer als jene, welche in einem verharret. Denn was in sich eine Entfernung erduldet, tritt von sich selbst weg: Stärke von Stärke^ Wärme von Wärme, Kraft von Kraft, so auch Schönheit von Schönheit. Daher mufs das Wirkende trefflicher sein als das Gewirkte. Denn nicht die Unmusik macht den Musiker, sondern die Musik, und die übersinnliche Musik bringt die Musik in sinnlichem Tone hervor."

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Wir werden jedoch den Künstler besser verstehen, wenn wir seine Bethätigung im Einzelnen und Kleinen betrachten.

Da finden wir zuerst, dafs er aus dem Vielen, was Natur und Leben ihm darbieten, einiges auswählt, nämlich dasjenige, was zu ihm spricht, was ihn zur Wiedergabe auffordert. Man kann allerdings bestreiten, dass die Gegenstände um uns herum in schöne und un- schöne, künstlerisch brauchbare und unbrauchbare einteilbar seien. Aber Goethe lächelte über die Naturalisten, die alle Gegenstände für gleichwertig erklären und einfach die Natur wiederzugeben behaupten. Sie können ja doch nicht alle Bäume malen, die im Walde stehen; sie müssen für heute schon einen Baum auswählen. Dieser eine Baum kann mir allerdings von einem andern vorgeschrieben werden; ich lasse ihn mir vielleicht vom Förster bezeichnen,

„Nun, um den Baum in ein Bild zu verwandeln, geh' ich um ihn herum und suche mir die schönste Seite. Ich trete weit genug weg, um ihn völlig zu Übersehen; ich warte ein günstiges Licht ab — und nun soll von dem Naturbaum noch viel auf das Papier übergegangen sein! Der Laie mag das glauben; der Künstler, hinter den Kulissen seines Handwerks, sollte aufgeklärter sein. Gerade das, was ungebildeten Menschen am Kunstwerke als Natur auffällt, das ist nicht Natur (von aufsen), sondern der Mensch (Natur von innen). Wir wissen von keiner Welt, als in Bezug auf den Menschen; wir wollen keine Kunst, als die ein Abdruck dieses Bezuges ist."

Ein andermal drückt Goethe die gleiche Grundwahrheit so aus:

,,Die Kunst übernimmt nicht, mit der Natur in ihrer Breite und Tiefe zu wetteifern, sie hält sich an die Oberfläche der natürlichen Erscheinungen; aber sie hat ihre eigene Tiefe, ihre eigene Gewalt, sie fixiert die höchsten Momente dieser oberflächlichen Erscheinungen, indem sie das Gesetzliche darin anerkennt, die Vollkommenheit der zweckmäfsigen Proportion, den Gipfel der Schönheit, die Würde der Bedeutung, die Höhe der Leidenschaft.

„Die Natur scheint um ihrer selbst willen zu wirken ; der Künstler wirkt als Mensch, um des Menschen willen. Aus dem, was uns die Natur darbietet, lesen wir uns im Leben das Wünschenswerte, das Geniefsbare nur kümmerlich aus; was der Künstler dem Menschen entgegenbringt, soll alles den Sinnen fasslich und an- genehm, alles aufreizend und anlockend, alles geniefsbar und befriedigend, alles für den Geist nährend, bildend und erhebend sein, und so gibt der Künstler, dankbar gegen die Natur, die auch ihn hervorbrachte, ihr eine zweite Natur, aber eine gefühlte, eine gedachte, eine menschlich vollendete zurück."

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Der Künstler wählt aus und er hält fest.
Das ist das Zweite, wodurch er sich der Natur entgegenstellt. .,

,, Warum bin vergänglich, o Zeus?" So fragte die Schönheit, ,, Macht' ich doch," sagte der Gott, ,,nur das Vergängliche schön." Und die Liebe, die Blumen, der Tau und die Jugend vernahmen's, Alle gingen sie weg weinend von Jupiters Thron."
Aber die Künstler helfen der Schönheit. Das Naturgesetz „Alles fliefst" überwinden sie; sie lassen die Welle still stehen, die die Natur längst ins Meer gesandt, und die blaue Sommernacht, die vor hundert Jahren einmal war, lebt heute noch in ihren Versen oder Melodieen. Dieses Festhalten ist eine Notwendigkeit, da kein Maler so schnell die Bilder wiedergeben kann wie der Spiegel, aber es ist zugleich ein Vorzug der Kunst. Diderot schildert an einer Stelle die Schwierigkeit, ein Porträt zu malen, da der Gesichtsausdruck sich ja beständig verändere. Goethe meint, dafs der Franzose diese Schwierigkeit übertreibe, aber sie sei da. ,,Sie wäre unüberwindlich, wennn der Maler nicht das besäfse, was ihn zum Künstler macht, wenn er von dem Hin- und Widerblicken zwischen Körper und Leinwand allein abhinge, wenn er nichts zu machen verstände, als was er sieht. Aber das ist ja eben das Künstlergenie, das ist das Künstlertalent, dafs er anzuschauen, festzuhalten, zu verallgemeinern, zu symbolisieren, zu charakterisieren weifs, und zwar in jedem Teile der Kunst, in Form sowohl als Farbe. Dadurch ist es eben ein Künstlertalent, dafs es eine Methode besitzt, nach welcher es die Gegenstände behandelt, eine sowohl geistige als praktisch mechanische Methode, wodurch es den beweglichsten Gegenstand festzuhalten, zu determinieren und ihm eine Einheit und Wahrheit der künstlichen Existenz zu geben weifs."

Auch der Dichter hat den Zauberspiegel, der das erwünschte Bild festhält. Er fafst sein Liebchen zur schönsten Stunde in seinen Rahmen hinein:

,,Wenn ich nun vorm Spiegel stehe 
Im stillen Witwerhaus, 
Gleich guckt, eh' ich mich versehe. 
Das Liebchen mit heraus. 
Schnell kehr' ich mich um, und wieder 
Verschwand sie, die ich sah; 
Dann blick' ich in meine Lieder, 
Gleich ist sie wieder da."

 Und was der Dichter festhält, sind gerade die höchsten Momente des Lebens ; seine Männer stehen in ihrer vollendeten Thatkraft, seine Frauen in ihrer schönsten Blüte.

,,Das, was vergänglich ist, bewahrt sein Lied. 
Du bist noch schön, noch glücklich, wenn schon lange 
Der Kreis der Dinge dich mit fortgerissen."

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Eine dritte Thätigkeit der Kunst ist das Verbinden von solchen Gegenständen, die vereinigt auf unsere Sinne oder unsere Seele stärker oder angenehmer wirken als in der Vereinzelung.

,,Die Auswahl einer Blumenflur, 
Mit weiser Wahl in einen Straufs gebunden — 
So trat die erste Kunst aus der Natur."

Was Schiller hier in Versen sagt, drückt Goethe in Prosa aus : ,,Es steht manches Schöne isoliert in der Welt, doch der Geist ist es, der Verknüpfungen zu entdecken und dadurch Kunstwerke hervorzubringen hat. Die Blume gewinnt erst ihren Reiz durch das Insekt, das ihr anhängt, durch den Tautropfen, der sie befeuchtet, durch das Gefäfs, woraus sie allenfalls ihre letzte Nahrung zieht. Kein Busch, kein Baum, dem man nicht durch die Nachbarschaft eines Felsens, einer Quelle Bedeutung geben, durch eine mäfsige einfache Ferne gröfseren Reiz verleihen könnte."

Eines Mittags, als Goethe und Eckermann zu früh vor dem Essen heimgekommen waren, legte der Alte seinem Schüler eine Landschaft von Rubens vor, die einen Sommerabend zeigte.  Links im Vordergrunde sah man Feldarbeiter nach Hause gehen; in der Mitte des Bildes folgte eine Herde Schafe ihrem Hirten dem Dorfe zu; rechts tiefer im Bilde stand ein Heuwagen, um welchen Arbeiter mit Aufladen beschäftigt waren, abgespannte Pferde grasten nebenbei; sodann abseits in Wiesen und Gebüsch zerstreut weideten mehrere Stuten mit ihren Fohlen, denen man ansah, dafs sie auch in der Nacht draufsen bleiben würden. Verschiedene Dörfer und eine Stadt schlossen den hellen Horizont des Bildes, worin man den Begriff von Thätigkeit und Ruhe auf das anmutigste ausgedrückt fand. Das Ganze schien mit solcher Wahrheit zusammenzuhängen, und das Einzelne lag mit solcher Treue vor Augen, dafs Eckermann die Meinung äufserte, Rubens habe dieses Bild wohl ganz nach der Natur abgeschrieben.

„Keineswegs," sagte Goethe, ,,ein so vollkommenes Bild ist niemals in der Natur gesehen worden, sondern wir verdanken diese Komposition dem poetischen Geiste des Malers. Aber der grofse Rubens hatte ein so aufserordentliches Gedächtnis, dafs er die ganze Natur im Kopfe trug und sie ihm in ihren Einzelheiten immer zu Befehl war. Daher kommt die Wahrheit des Ganzen und Einzelnen, so dafs wir glauben, alles sei eine reine Kopie nach der Natur." Der Dichter hält es nicht anders. Sobald der , Werther' erschienen war, erlebte Goethe, was ihn noch manches Mal plagen sollte, dafs das Publikum am begierigsten danach fragte, was an der Erzählung wahr sei, wer z. B. das Vorbild der Lotte gewesen. Wohl hatte er die Hauptzüge von Charlotte Buff genommen, aber er war auch in der angenehmen Lage jenes Künstlers gewesen, dem man Gelegenheit gab, eine Venus aus mehreren schönen Modellen herauszustudieren. So hatte er denn aus der Gestalt und den Eigenschaften mehrerer hübschen Kinder seine Heldin gebildet. Es sind also die Dichter und die Maler ebensogut Komponisten wie diejenigen, die Töne zusammensetzen.

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Das Zusammenstellen mufs jedoch ein wahrhaftes Vereinigen sein; die einzelnen Töne müssen sich zu Akkorden und Harmonieen zusammenfinden. Jedes gelungene Kunstwerk ist bei aller Mannigfaltigkeit der Teile als Einheit wirksam. Weil das epische Gedicht nicht die sogenannten dramatischen Einheiten (des Ortes, der Zeit und der Handlung) haben kann, so behauptete Friedrich Schlegel, der namentlich auf die homerischen Gesänge sich bezog, das epische Gedicht habe keine Einheit, fordere sie nicht. Goethe antwortete: ,,Das heifst, nach meiner Vorstellung: es soll aufhören ein Gedicht zu sein." Der Dichter ist ein Vereiniger in mehr als einer Hinsicht; er giebt als ein Ganzes zurück, was in vielen zerstreuten Teilen durch seine Sinne zu ihm drang.

„Wodurch bewegt er alle Herzen? 
Wodurch besiegt er jedes Element? 
Ist es der Einklang nicht, der aus dem Busen dringt 
Und in sein Herz die Welt zurücke schlingt?"

Mit dem Auswählen und Vereinigen, mit dem Zusammenziehen des Zusammengehörigen hängt das Ausschliefsen des Störenden, Überflüssigen, Entbehrlichen zusammen.

„Was die Natur auf ihrem grofsen Gange
In weiten Fernen auseinander zieht,
Wird auf dem Schauplatz im Gesänge
Der Ordnung leicht gefafstes Glied. "

Der Inhalt von Jahren oder Jahrzehnten spielt sich in einer Tragödie in zwei oder drei Stunden vor uns ab; das Epos und der Roman schildern uns ganze Menschenalter und führen uns von Land zu Land, obwohl wir in einem einzigen Tage sie lesen können. Man denke ferner an die Gedrängtheit der Balladen, wo der Erzähler von Bild zu Bild springt und uns nur erraten läfst, was wohl dazwischen liegen mag. Auch dem Volksliede ist eine abgerissene, lakonische Weise der Mitteilung eigen; an ihm sehen wir vielleicht am deutlichsten, dafs der Lakonismus eine häufige Eigenschaft des Kunstschönen und von einer merkwürdigen Wirkung auf das Gemüt ist. ,, Gespräche in Liedern," fing Goethe auf einer Reise nach Frankfurt und der Schweiz 1797 an zu dichten, und Schiller erhielt die ersten Proben: ,Der Edelknabe und die Müllerin' und ,Der Junggesell und der Mühlbach'. ,,Mir däucht," antwortete er, ,,dafs diese Gattung dem Poeten schon dadurch sehr günstig sein müsse, dafs sie ihn aller belästigenden Beiwerke, dergleichen Einleitungen, Übergänge, Beschreibungen etc. sind, überhebt und ihm erlaubt, immer nur das Geistreiche und Bedeutende an seinem Gegenstande mit leichter Hand oben wegzuschöpfen."

Das Gleichnis ,,die Sahne abschöpfen" klingt prosaisch, aber alle Künstler haben es in ihrer Weise zu thun, und ihre Pflicht ist, die Magermilch resolut fortzuschütten. Es begann geradezu eine neue, bessere Epoche für die deutsche Literatur, als um die Mitte des 18. Jahrhunderts die besten Schriftsteller diese Wahrheit erkannten und vom ,, breiten Unheil sich abwandten.

„Haller und Ramler waren von Natur zum Gedrängten geneigt; Lessing und Wieland sind durch Reflexion dazu geführt worden. Der Erste wurde nach und nach ganz epigrammatisch in seinen Gedichten, knapp in der , Minna, lakonisch in ,Emilia Galotti'. Wieland, der noch im ,Agathon', ,Don Sylvio', den ,komischen Erzählungen' mitunter prolix gewesen war, wird in ,Musarion' und ,Idris' auf eine wundersame Weise gefafst und genau, mit grofser Anmut. Klopstock in den ersten Gesängen der ,Messiade' ist nicht ohne Weitschweifigkeit; in den Oden und andern kleinen Gedichten erscheint er gedrängt, so auch in seinen Tragödien."

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Verwandt mit dem Vereinigen und Ausschliefsen des Überflüssigen ist ferner das Einrahmen und Abschliefsen in feste Formen. Auch hierzu zwingt den Künstler die Notwendigkeit, da er nichts Grenzenloses zu bieten imstande ist, aber er macht auch aus dieser Not eine Tugend. Die Leinwand hat ihre vier Seiten, das Sonett seine vierzehn Zeilen; in solche Rahmen mufs der Künstler seine Mitteilung so hinein bringen, dafs sie vollständig, als ein Stück Welt für sich, erscheint und nicht wie ein zufälliger Ausschnitt aus der realen Welt, wo nun Anfang und Ende fehlt.

Dem Bildhauer sind solche äufserlichen Grenzen selten so deutlich vorgeschrieben; er mufs deshalb um so mehr nach innerer Abgeschlossenheit seiner Figuren und Gruppen streben. „Ein ruhiger Gegenstand zeigt sich blofs in seinem Dasein; er ist also durch und in sich selbst geschlossen,  Ein Jupiter mit einem Donnerkeil im Schofs, eine Juno, die auf ihrer Majestät und Frauenwürde ruht, eine in sich versenkte Minerva sind Gegenstände, die gleichsam nach aufsen keine Beziehung haben; sie ruhen auf und in sich und sind die ersten, liebsten Gegenstände der Bildhauerkunst. Aber in dem herrlichen Zirkel des mythischen Kunstkreises, in welchem diese einzelnen selbständigen Naturen stehen und ruhen, giebt es kleinere Zirkel, wo die einzelnen Gestalten in Bezug auf andere gedacht und gearbeitet sind. Zum Beispiel die neun Musen mit ihrem Führer Apoll, da ist jede für sich gedacht und ausgeführt, aber in dem ganzen mannigfaltigen Chor wird sie noch interessanter. Geht die Kunst zum leidenschaftlich Bedeutenden über, so kann sie wieder auf dieselbe Weise handeln: sie stellt uns entweder einen Kreis von Gestalten dar, die unter einander einen leidenschaftlichen Bezug haben, wie Niobe mit ihren Kindern, verfolgt von Apoll und Diana, oder sie zeigt uns in einem Werke die Bewegung zugleich mit ihrer Ursache. Wir gedenken hier nur des anmutigen Knaben, der sich den Dorn aus dem Fufse zieht, der Ringer, zweier Gruppen von Faunen und Nymphen in Dresden und der bewegten herrlichen Gruppe des Laokoon."

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Eine weitere Auswirkung der Kunst ist das Ordnen und Abwechseln.

„Wenn die Natur des Fadens ew'ge Länge, 
Gleichgültig drehend, auf die Spindel zwingt. 
Wenn aller Wesen unharmonische Menge 
Verdriefslich durcheinander klingt,
Wer teilt die fliefsend immer gleiche Reihe 
Belebend ab, dafs sie sich rhythmisch regt? 
Wer ruft das Einzelne zur allgemeinen Weihe, 
Wo es in herrlichen Akkorden schlägt?"

Der Dichter thut es; jedermann weifs, dafs seine metrische Sprache, sein Abteilen der Rede in Verse und Strophen Ordnung und Wechsel zugleich ist.

In der bildenden Kunst streben wir nach Symmetrie. „Jedes Kunstwerk mufs sich als solches anzeigen, und das kann es allein durch das, was wir sinnliche Schönheit oder Anmut nennen. Die Alten, weit entfernt von dem modernen Wahne, dafs ein Kunstwerk dem Scheine nach wieder ein Naturwerk werden müsse, bezeichneten ihre Kunstwerke als solche durch gewählte Ordnung der Teile; sie erleichterten dem Auge die Einsicht in die Verhältnisse durch Symmetrie, und so ward ein verwickeltes Werk fafslich. Durch eben diese Symmetrie und durch Gegenstellungen wurden in leisen Abweichungen die höchsten Kontraste möglich. Die Sorgfalt der Künstler, mannigfaltige Massen gegeneinander zu stellen, besonders die Extremitäten der Körper bei Gruppen gegeneinander in eine regelmäfsige Lage zu bringen, war äufserst überlegt und glücklich, so dafs ein jedes Kunstwerk, wenn man auch von dem Inhalt abstrahiert, wenn man in der Entfernung auch nur die allgemeinsten Umrisse sieht, noch immer dem Auge als ein Zierat erscheint. Die alten Vasen geben uns hundert Beispiele einer solchen anmutigen Gruppierung, und es würde vielleicht möglich sein, stufenweise von der ruhigsten Vasengruppe bis zu der höchst bewegten des Laokoon die schönsten Beispiele einer symmetrisch künstlichen, den Augen gefälligen Zusammensetzung darzulegen."

Bedürfnis nach Abwechslung zeigt sich auch auf Gebieten, an die wir nicht so schnell denken. An einem Wintertage 1827 hatte Goethe den Prinzen Wilhelm von Preufsen empfangen, in dem er freilich nicht den ersten Kaiser eines neuen deutschen Reiches ahnen konnte, und bald vergafs der alte Dichter seinen vor- nehmen Gast über der geliebten Farbenlehre. Er gab Eckermann den Paragraphen von den geforderten Farben zu lesen, wo gelehrt wird, dafs das Auge das Bedürfnis des Wechsels habe, indem es nie gern bei derselbigen Farbe verweile, sondern sogleich eine andere fordere und zwar so lebhaft, dafs es sich solche selbst erzeuge, wenn es sie nicht wirklich vorfinde.

Dieses brachte ein grofses Gesetz zur Sprache, das durch die ganze Natur geht und worauf alles Leben und alle Freude des Lebens beruht. „Es ist dieses," sagte Goethe, „nicht allein mit allen andern Sinnen so, sondern auch mit unserm höhern geistigen Wesen; aber weil das Auge ein so vorzüglicher Sinn ist, so tritt dieses Gesetz des geforderten Wechsels so auffallend bei den Farben hervor und wird uns bei ihnen so vor allen deutlich bewufst. Wir haben Tänze, die uns im hohen Grade Wohlgefallen weil Dur und Moll in ihnen wechselt, wogegen aber Tänze aus blofsem Dur oder blofsem Moll gleich ermüden."

„Dasselbe Gesetz," sagte Eckermann, ,, scheint einem guten Stil zum Grunde zu liegen, bei welchem wir gern einen Klang vermeiden, der soeben gehört wurde. Auch beim Theater wäre mit diesem Gesetz viel zu machen, wenn man es gut anzuwenden wüfste. Stücke, besonders Trauerspiele, in denen ein einziger Ton ohne Wechsel durchgeht, haben etwas Lästiges und Er- müdendes, und wenn nun das Orchester bei einem traurigen Stück auch in den Zwischenakten traurige, niederschlagende Musik hören läfst, so wird man von einem unerträglichen Gefühl gepeinigt, dem man gern auf alle Weise entfliehen möchte."

„Vielleicht," sagte Goethe, ,, beruhen auch die eingeflochtenen heiteren Scenen in den Shakespeareschen Trauerspielen auf diesem Gesetz des geforderten Wechsels ; allein auf die höhere Tragödie der Griechen scheint es nicht anwendbar, vielmehr geht bei dieser ein gewisser Grundton durch das Ganze."

Die griechische Tragödie," meinte dagegen Eckermann, ,,ist auch nicht von solcher Länge, dafs sie bei einem durchgehenden gleichen Ton ermüden könnte, und dann wechseln auch Chöre und Dialog, und der erhabene Sinn ist von solcher Art, dafs er nicht lästig werden kann, indem immer eine gewisse tüchtige Realität zum Grunde liegt, die stets heiterer Natur ist." ,,Sie mögen recht haben," sagte Goethe, ,,und es wäre wohl der Mühe wert, zu untersuchen, inwiefern auch die griechische Tragödie dem allgemeinen Gesetze des geforderten Wechsels unterworfen ist. Aber Sie sehen, wie alles aneinanderhängt, und wie sogar ein Gesetz der Farbenlehre auf eine Untersuchung der griechischen Tragödie führen kann."





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